Agrarmesse „Grüne Woche“ in Berlin: Wie Kunden das Thema Nachhaltigkeit vorantreiben

Bauernhof zum Anfassen: Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner mit Martin Seidl von der Besamungsgenossenschaft Marktredwitz-Wölsau neben dem Bullen Mango auf der Grünen Woche Foto: dpa
Bauernhof zum Anfassen: Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner mit Martin Seidl von der Besamungsgenossenschaft Marktredwitz-Wölsau neben dem Bullen Mango auf der Grünen Woche Foto: dpa

Mehr Tierwohl, weniger Müll, verbesserter Umweltschutz: Der gesamte Produktionskreislauf von Lebensmitteln soll nachhaltiger werden. Wer in Berlin über die Internationale Grüne Woche schlendert, die größte Agrarmesse der Welt, bei der noch bis zum 26. Januar Landwirte und Lebensmittelproduzenten aus 65 Ländern auf rund 380.000 Besucher treffen, merkt schnell: Die Branche bewegt sich – ob nun gewollt oder gedrängt. Lebensmittelverschwendung („Food Waste“), der schonende Umgang mit Ressourcen und Klimaschutz auf dem Teller sind die Megathemen der Messe. Produkte und Produzenten, die darauf setzen, stehen hoch im Kurs bei Kunden. Das verspricht Wachstum, ist Motor für die Nahrungsmittelbranche und treibt Großkonzerne wie findige Neueinsteiger gleichermaßen an.

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Abfall wird essbar

Wie unsere Zukunft schmecken könnte, zeigen experimentierfreudige Jungunternehmer der Start-up-Szene: Sie haben ein Bier aus Brotresten entwickelt, die in Bäckereien übrig sind („Knärzje“), und die Limonade „ZestUp“ aus Orangenschalen, einem Abfallprodukt der Saftindustrie. „BananaBooms“ bestehen aus geretteten Supermarktbananen – die neue Frühstückszerealie ist zuckerfrei, ohne Zusatzstoffe und selbstverständlich vegan. Das Getränk „Air Up“ setzt auf den Fakt, dass der Geruchssinn zu 90 Prozent unseren Geschmack bestimmt: Dem Wasser wird Aroma per Duft zugesetzt.

Passend zum Messemotto wirbt Daniel Morr mit grünen Eiern um Aufmerksamkeit. Üblicherweise sind die Eier, mit denen er von Nordrhein-Westfalen aus deutschlandweit Supermärkte der Rewe- und Penny-Gruppe beliefert, ungefärbt. Am neunten Tag werden sie von einem privaten Dienstleister durchleuchtet, der Brütereien bereist und kostenlos das im Ei angelegte Geschlecht bestimmt. Nur weibliche Eier werden anschließend ausgebrütet, männliche zu Tierfutter verarbeitet, was das in die Schlagzeilen gekommene Schreddern männlicher Küken vermeidet, die bekanntlich keine Eier legen und für Eierproduzenten daher unnütz sind. Für die Brütereien ist dieser Service kostenlos, den Aufwand tragen Handel und Verbraucher – „etwa 2 Cent mehr zahlt der Kunde für das Seleggt-Ei im Laden“, sagt Morr. So viel müsse einem das Ende des massenhaften Kükentötens wert sein.

In Halle 3.2 präsentieren sich einige Big Player der Lebensmittelindustrie. Und: Die global agierenden Nahrungsmittelkonzerne entdecken ebenfalls ihr grünes Gewissen. „Ob du's glaubst oder nicht: Das einzige Plastik, das wir schätzen, ist deine Kreditkarte“, steht als Slogan auf einem Poloshirt, das ein Mitarbeiter von McDonald's über die Messe trägt. Müllvermeidung ist ein großes Thema am Stand des nicht gerade als umweltfreundlich geltenden Burgerladens. Er will den Weg in eine plastikfreie Zukunft beschreiten. Der ist zwar noch weit, aber es geht voran, schildert Sprecherin Tanja Rötger: Getränkebecher wurden dünner bis an die Grenze zur Instabilität, um Plastik zu sparen. Softeis gibt es demnächst im Papierbecher mit Holzlöffel. Zudem arbeite man daran, die beschichteten Pappboxen für Hamburger und Hühnchennuggets abzuschaffen. Für die Miniportion Hühnerhappen ist die Papiertüte bereits eingeführt. Mit dem Einwickelpapier für Burger wird derzeit noch experimentiert. Graspapier hatten die Kunden in einer Testphase abgelehnt, weil es in Verbindung mit Hitze und Fett einen zu intensiven Heugeruch verströmt. Auch Pfandbecher, die es schon in 26 Städten gibt, werden von den Kunden zwar generell für gut befunden, aber wenig genutzt. „Sie können für Heißgetränke aber Ihren eigenen Becher mitbringen und bekommen an der Kasse dafür 10 Cent zurück“, sagt Rötger.

„Wir sind ein großer Tanker, das dauert ein bisschen, bis der sich dreht, aber wir sind in Bewegung“, verspricht Jürgen Straub, der sich bei der Fast-Food-Kette um die Themen Nachhaltigkeit und Tierwohl kümmert. „Das Rindfleisch für unsere Burger stammt zu 93 Prozent aus Deutschland“, betont er. Vor allem Milchkühe, die ihren Zenit überschritten haben, werden zu Buletten (Patties) verarbeitet. Auch eine gewisse Form der Nachhaltigkeit, wie er findet. Einen komplett tierfreien Burger gibt's seit vergangenen April, der Big Vegan TS laufe gut. Straub glaubt, dass das Umdenken weitergeht. „Inhouse, also in unseren Restaurants, wird's künftig vielleicht sogar Geschirr geben. In unseren McCafés wird das Essen ja schon auf Porzellan serviert.“

Abfallvermeidung treibt auch den Getränke- und Lebensmittelkonzern Danone um. „Durch verbesserte Technik, Planung und Beratung unserer Erzeuger haben wir unseren Milchabfall zwischen 2016 und 2018 von 1295 auf 242 Tonnen reduziert“, bilanziert Mira Koppert. Reste, die bei der Produktion weiterhin anfallen, werden gespendet oder zu Tierfutter verarbeitet. Produkte mit ablaufendem Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) gehen verbilligt an Gefängnisse und Kindergärten oder als Spende an Tafeln. Zudem leben die Milchwaren jetzt länger: Der Konzern hat die MHD-Frist von den Kunden unbemerkt um fünf Tage verlängert. Das heißt, es bleibt mehr Zeit, um sie zu essen statt wegzuwerfen.

Auch Rezepturen werden dem neuen Bewusstsein angepasst – behutsam, damit der Wandel möglichst nicht zu schmecken ist. „Wir arbeiten konstant daran, den zu hohen Gehalt an Zucker, Fett und Energie zu reduzieren“, erklärt Koppert. Bloßes Weglassen geht nicht, der Kunde muss schrittweise entwöhnt werden, weil er ein Produkt, das plötzlich anders schmeckt als er es kennt, schnell ablehnt. Zuckerfrei liegt zwar im Trend, funktioniert aber schlecht bei etablierten Produkten, betont die Danone-Sprecherin: Eine zuckerreduzierte Version des Trinkjoghurts Actimel nahm der Konzern nach einem Jahr wieder vom Markt, die vermeintlich gesündere Variante konnte sich bei den Käufern nicht durchsetzen. Gut funktioniert gesund bei neuen Produkten, erklärt Koppert: „Wir hören auf unsere Kunden und versuchen, alles, was möglich ist, umzusetzen.“ Bestes Beispiel sei ein neuer Activia-Joghurt, „rein pflanzlich und im großen Pott – das haben sich die Verbraucher gewünscht“, sagt Koppert. Seit Jahresende steht die vegane Joghurtalternative aus Soja im Regal. „Und die Papierbanderole, das war den Kunden auch wichtig, ist recycelbar.“

Konzerne überholen die Politik

Bei der Lebensmittelkennzeichnung war das Unternehmen der Politik einen Schritt voraus: Als erste in Deutschland hat die französische Firma das in Frankreich gängige Nutriscore-System auf ihre Verpackungen gedruckt. 90 Prozent des Sortiments sind mittlerweile gelabelt, der Rest folgt binnen Jahresfrist. Danone war an einem EU-weit einheitlichen System gelegen. „Es ist aber auch politisch wichtig, ein einfach verständliches Label zu haben. Bei einer wachsenden Mittel- und Unterschicht fehlt oft das Wissen, welches Produkt gesund ist“, weiß Kopper. Angst vor der Kennzeichnung brauchen die Hersteller laut der Industrievertreterin nicht zu haben. Erfahrungen aus Frankreich zeigten: „Sündiges“ der schlechtesten, rot markierten Nährwertklasse E wird weiterhin gekauft – zugleich hat es einen leichten Anstieg bei Produkten der Kategorien A und B gegeben. Die Käufer gönnen sich kleine Fehltritte jetzt also offenbar bewusster und gleichen ihr schlechtes Gewissen mit ein bisschen mehr Grün wieder aus. nim

Politik, Verbraucher, Produzenten: Wo die Gräben verlaufen

Halle 23a belegt das „Lebensministerium“, wie sich das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung (BMEL) jetzt nennt – kleingeschrieben und mit Hashtag, um zu zeigen, dass Politik mit der Zeit geht. BMEL-Mitabeiter erklären, wie viel Zucker im Müsli steckt und wie sich Plastik beim Einkauf vermeiden lässt. Hausherrin Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, hat zum „Nationalen Dialogforum Landwirtschaft“ geladen, weil es der öffentlichen Debatte an Wertschöpfung fehlt, wie sie sagt. Der Protest wird lauter, die Fronten härter zwischen Lebensmittelkonsumenten und -produzenten: „Hier die veganen Spinner aus der Stadt, dort die bösen Umweltverschmutzer vom Land“, sagt Klöckner.

In der Kommunikation läuft gehörig was schief, konstatiert die Ministerin und hat die Verantwortlichen schnell ausgemacht: Medien und „NGOs“, Nichtregierungsorganisationen, die sich für höhere Standards im Tier- und Umweltschutz einsetzen. Die schürten schlechte Stimmung mit Hassreden und Kampfbegriffen. „Es herrscht ein Kampf um die Bildhoheit“, erklärt Marktforscher Jens Lönnecker vom Kölner Institut Rheingold. In der Imagefrage der Landwirtschaft seien die „NGOs ein wichtiger Player geworden, weil es ihnen gelungen ist, Bilder zu emotionalisieren“. Als Gegenmaßnahme rät der Werbefachmann den Bauern, ihrerseits auf mehr Marketing zusetzen und dafür „richtig Geld in die Hand zu nehmen, wie jeder andere mittelständische Betrieb das heute tut“. Matthias Kussin, Agrar- und Medienwissenschaftler der Hochschule Osnabrück, stellt fest, dass Social Media ein Übriges zum Übel tut. Echokammern und Filterblasen verstärkten den Umstand, dass die Debatte mehr aus Statements denn echter Diskussion bestehe. „Oft geht es um Kapitalsmus- oder Industriekritik. Da wird vieles abgeladen, was nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hat“, beschreibt Kussin.

Allerdings zeigt der Blick in die Messehallen: Sie sind voll, die Besucher strömen, zeigen reges Interesse nicht nur am Essen, sondern auch am Weg, wie es entsteht. Und an der großen Demonstration, die die Messe nun schon im zehnten Jahr begleitet, beteiligen sich nicht nur Konsumenten, sondern auch Bauern, die sich in einem System gefangen fühlen, das sie nicht länger mittragen wollen. Weil es der Umwelt schadet und ihnen selbst das Wasser bis zum Hals steht. Das beschreiben zwei Landwirte, die ebenfalls auf dem Podium sitzen.

Einer ist Benedikt Bösel, ehemaliger Investmentbanker, der „Auto und Aktien gegen Kühe und Bäume getauscht hat“, um auf dem elterlichen Hof in Brandenburg das Ruder herumzureißen. Der dynamische Jungunternehmer mit halblangen Haaren und Holzfällerhemd ginge in Berlin-Mitte glatt als Hipster durch. Er ist der Erste, der darauf verweist, dass es „den Bauern“ gar nicht gibt. Bösel beschreibt, dass es immer schwieriger wird, den kargen brandenburgischen Sandböden eine stabile Ernte abzuringen – weil es mal viel zu viel Regen und dann wieder lange gar keinen gibt. Moderne Methoden wie Digitalisierung und Pflanzenzucht, die Lösungen für die Folgen des Klimawandels versprechen, kämen da schnell an ihre Grenzen. „Wir können nicht gleichzeitig Pflanzen gegen Dürre und zu viel Wasser züchten“, stellt Bösel klar. Für ihn liegt der Schlüssel in gesundem Boden, der Wasser gut speichert und langsam abgibt – was nebenbei die Biodiversität fördert und als CO2-Speicher funktioniert. Biobauer müsse man dafür nicht gleich werden, sagt Bösel. Er setzt auf das System der regenerativen Landwirtschaft: einen Ansatz, der Pestizide und Kunstdünger ablehnt, stattdessen auf „Humusmanagement“ setzt und so den Mutterboden verbessert. Als Bauer beschimpfen lassen muss Bösel sich übrigens nicht. Die Kunden rennen ihm die Bude ein. „Ich erlebe viel Wertschätzung, speziell von jungen Leuten“, betont er. Von der Politik wünscht er sich „ein Umdenken, das unter den Bauern schon eingesetzt hat“ – denn Geld vom Staat gab es für seine Umstellung auf ein nachhaltigeres Wirtschaften nicht.

Auch Michael Reber, Landwirt aus Hohenlohe, ging an ausgelaugten Böden fast zugrunde. „Wir waren gezwungen, neue Wege zu gehen, anders hätten wir nicht überlebt“, erzählt er. „Vielleicht haben wir als Branche Veränderung zu lang gebremst“, bemerkt er selbstkritisch. Und in Richtung Klöckner: „Die Politik nimmt uns immer wieder was weg, verschärft Verordnungen, aber es fehlen die Lösungen.“ Die Kosten für den Systemwechsel musste auch er mit seiner Familie aus eigener Kraft stemmen. „Wir sind aus sämtlichen Fördermöglichkeiten gefallen.“ Warum, wundert nicht nur ihn, das fragt sich auch das Publikum. Die Antwort bleibt die Ministerin schuldig. Aber sie hat sich Notizen gemacht, will sich die Lage der beiden Landwirte noch einmal genauer erklären lassen, wie sie sagt.

Erklären, nur darum geht's, findet Julia Nissen, die es der Liebe wegen nach Nordfriesland verschlagen hat. Nun bloggt die Agrarwirtin in Elternzeit von hinterm Deich (www.deichdeern.com) und erklärt ahnungslosen Städtern, was das Landleben so schön macht. Trekkerfahren zum Beispiel – dafür hat sie sogar #BlablaTrecker, eine Mitfahrzentrale für Treckerfahrten, gegründet. Oder sie erzählt vom „Tinder für Rinder“, einer Datenbank zur Partnervermittlung für Zuchtrindviecher.

„Wir Landwirte haben PR nicht gelernt, und vieles, was wir tun, braucht eine Übersetzung, damit die Leute verstehen, was wir tun“, glaubt sie. Das funktioniert – sogar bei den eigenen Freundinnen. Die wollen sie jetzt nicht mehr aus der Provinz retten, erzählt Nissen. „Die kommen jedes Jahr und machen Urlaub bei mir.“

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