Berlin

Analyse: Ohne Netzausbau bleibt Atomkraft noch nötig

Strommasten
Ohne einen Ausbau der Stromnetze können nach Expertenmeinung die deutschen Atomkraftwerke nicht komplett abgeschaltet werden (Symbolbild). Foto: DPA

Ein Besuch in der Leitzentrale des Netzbetreibers 50Hertz zeigt: Immer mehr Öko-Energie verschärft die Gefahr großer Blackouts. Es fehlen schlicht die Netze, um schneller das grüne Energiezeitalter zu erreichen. Deshalb müssen die Deutschen weiter mit Atomkraft leben.

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Detlef Goymann schüttelt die Kristallkugel, die vor seinen drei Bildschirmen steht, der Glitzer darin verteilt sich. Seit es einen enormen Zuwachs der Windenergie im Osten gibt, ist die Wettervorhersage zum wichtigsten Arbeitsinstrument der Schichtleiters beim Netzbetreiber 50Hertz Transmission geworden. Daher auch die Kristallkugel. «Das ist unser Betriebsorakel», sagt der 56-Jährige. Denn die Stromversorgung mit Wind und Sonne ist kaum berechenbar und muss ständig durch eine zu 100 Prozent planbare Stromproduktion aus Atom- und Kohlekraftwerken ausgeglichen werden.

«Eine Verkehrsführung ohne Staus», so umschreibt Lutz Schultze, Leiter der operativen Systemführung, die Aufgabe. Gibt es zu viel Wind, wird per Regelsignal an Kraftwerke ein geringerer Strombedarf gemeldet, 50Hertz speist die Hälfte der deutschen Windstrom-Produktion ins Netz. Das ist Goymanns Herausforderung, auch weil bisher dafür entsprechende Stromautobahnen fehlen.

Seit 30 Jahren arbeitet der Mann mit dem weißen Rauschebart für Stromnetzbetreiber, erst für den Hauptlastverteiler der DDR, nun für 50Hertz Transmission, die von einem unscheinbaren Plattenbau in Berlin-Marzahn die Stromversorgung von 18 Millionen Menschen in Berlin, den ostdeutschen Bundesländern und Hamburg steuern.

Goymann blickt auf eine riesige Tafel, die in Höhe und Breite den rund 30 Meter breiten Raum durchmisst. 50Hertz ist die ideale Frequenz für das Netz, an diesem Montag steht sie um 11.45 Uhr bei 49,885 Hertz. Die Leitzentrale verfügt für Fälle wie jetzt in Japan über eine eigene Notstromversorgung, um die Steuerung des Netzes auch im Katastrophenfall zu sichern.

Einige Kraftwerke und Leitungen leuchten auf der Tafel im Leitstand rot, das bedeutet, sie liefern keinen Strom. Bei den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel steht eine «0» – sie stehen seit der Pannenserie und einem Trafobrand in Krümmel seit 2007 fast ununterbrochen still. 600 Mitarbeiter sorgen bei 50Hertz dafür, dass 9700 Kilometer lange Leitungen und 69 Umspannwerke funktionieren.

Aber der Ausbau der erneuerbaren Energien stellt das Netz vor ungeahnte Probleme, weil im Osten plötzlich dank der Windräder große Erzeugungskapazitäten entstehen, die die Gefahr eines großen Blackouts erhöhen. An Tagen wie Oster- oder Pfingstmontag mit wenig Verbrauch und oft viel Wind werden plötzlich riesige Strommengen in das Netz gedrückt, die zum Herunterfahren anderer Kraftwerke führen. «Da kommen wir ganz schön ins Schwitzen», erzählt Goymann.

Das Problem wird sich verschärfen, wenn in einigen Jahren Windstrom von den Küsten in den Rest Deutschlands transportiert werden muss. Dies wird nur klappen, wenn der Netzausbau voran kommt, auf bis zu 3600 Kilometer beziffert die Deutsche Energie-Agentur den Bedarf an 380-kv-Leitungen bis 2020. Aus der Erneuerbaren-Energie-Branche werden die Zahlen kritisiert, mit einer Ertüchtigung bestehender Leitungen sei der Bedarf weit geringer. 50Hertz hält für seinen Bereich aber etwa eine Stromautobahn über den Rennsteig in Thüringen für unerlässlich, um den Windstrom vom Osten nach Bayern zu bekommen.

Aber ohnehin stocken viele Offshore-Projekte, das ist noch so ein Fakt, weshalb ein rascher Atomausstieg kaum möglich ist. Gerade die Industrie ist auf die planbare Atomenergie angewiesen und warnt vor einem zu raschen Ökoumstieg. Aber, und das könnte die Konsequenz aus Fukushima sein, schon jetzt sind nicht mehr 17 Atomkraftwerke in Deutschland notwendig. Atomkraft hatte zuletzt einen Anteil an der Stromerzeugung von rund 23 Prozent, Kohle von 43 Prozent und die Erneuerbaren von mehr als 16 Prozent.

Experten sagen, drei Atommeiler könnten problemlos abgeschaltet werden. Schon jetzt müssen die Akw an starken Wind- oder Sonnentagen auf bis zu 50 Prozent ihrer Leistung herunterfahren, da die Ökostrom-Produktion Vorfahrt im Netz hat. Der Lastfolgebetrieb in den Akw birgt nach Meinung des früheren Leiters der Abteilung für Reaktorsicherheit im Umweltministerium, Wolfgang Renneberg, die Gefahr einer Materialermüdung. Die Betreiber weisen das zurück.

Neben den Netzen bleiben fehlende Speicher, um die schwankende Ökoenergieproduktion auszugleichen und um überschüssige Energie zu speichern, das Hauptproblem. Dies zeigt ein Besuch bei dem Energie-Startup Younicos in Berlin-Adlershof. Die Macher wollen 2012 ein Pionierprojekt starten, um die 4500 Einwohner der Kanaren-Insel La Graciosa mit einem autonomen Netz nur durch Ökoenergien zu versorgen. Und sie wollen mit Batterien ein Backup aufbauen für sonnenarme Tage.

Prototypen der Batterien stehen in einer Halle auf dem Younicos- Gelände, wo die Stromversorgung für Graciosa derzeit simuliert wird. Ein Batterieblock zur Speicherung für ein Megawatt ist so groß wie ein Einfamilienhaus. Kostenpunkt: 3,5 bis 4 Millionen Euro. Es erinnert etwas an den Beginn des Computerzeitalters und zeigt, bis zum kompletten Atomausstieg bleibt noch viel zu tun.

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