Interview mit Psychotherapeutin: Wenn Druck krank macht – Depressionen in jungen Jahren

Bei immer mehr jungen Rheinland-Pfälzern werden Depressionen diagnostiziert. Nicht nur die Barmer, aus deren Gesundheitsreport der Anstieg abzulesen ist, schlägt Alarm. Die Vizechefin der rheinland-pfälzischen Psychotherapeutenkammer, Dr. Andrea Benecke, sieht die Politik gefordert. Nötig sind mehr Therapeuten und Anlaufstellen für junge Betroffene, sagt sie im Interview mit unserer Zeitung:

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Gibt es Unterschiede bei Depressionen zwischen jüngeren und älteren Patienten?

Die Symptomatik ist die gleiche. Wir legen die gleichen Kriterien zugrunde, egal in welchem Alter die Diagnose gestellt wird. Symptome sind Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, der Verlust von Freude und Interessen. Dazu kommen Symptome wie der Verlust des Selbstvertrauens oder des Selbstwertgefühls, das Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit, psychomotorische Hemmungen und Suizid- oder Lebensüberdrussgedanken. Einen Unterschied gibt es öfter in Bezug auf Schlafstörungen und Veränderungen im Appetit: Bei Jugendlichen sehen wir statt des frühen Erwachens eher eine Zunahme der Schlafdauer – auch tagsüber –, außerdem statt Appetitverlust eher vermehrten Appetit.

Sind die Auslöser einer Depression auch gleich?

Sie sind ähnlich, aber es gibt unterschiedliche Schwerpunkte. Aus der Forschung weiß man, dass Trennungserlebnisse bei genetisch vorbelasteten und generell anfälligen Patienten deutlich häufiger zu Depressionen führen. Das spielt bei Erwachsenen nicht mehr eine so große Rolle, weil man dann vielfältige Kompensationsmöglichkeiten hat. Bei Jugendlichen kommen familiäre Belastungen, soziale Schwierigkeiten sowie chronische schulische Probleme als Auslöser vermehrt vor.

Zum Beispiel?

Wir haben die Möglichkeit, uns im Arbeitsleben auszuleben. Wenn es eine Trennung gibt, kann man sich mehr in die Arbeit hineinknien und dort Erfolgserlebnisse haben. Oder man hat ein gutes soziales Netz mit vielen Freunden, die den Trennungsschmerz abfedern können. So viele Ausgleichsmöglichkeiten haben Kinder und Jugendliche meist noch nicht. Die Abhängigkeit von Bezugspersonen wie Eltern oder Großeltern ist deutlich größer. Wenn jemand stirbt oder sich trennt, dann ist das für junge Menschen deutlich schwieriger zu kompensieren. Das gilt auch für die Verarbeitung von Stress in der Schule.

Das gilt auch für 18- bis 25-Jährige?

Ja. Noch. Aber es tritt langsam in den Hintergrund. Während und nach der Pubertät wird der Einfluss von Peergroups, also Gruppen von Gleichaltrigen, deutlich größer. Wir lösen uns dann aus dem Elternhaus und konzentrieren uns mehr auf Freunde. Bei Studierenden zeigt der Barmer-Report allerdings, dass die Anfälligkeit für Depressionen mit zunehmendem Alter steigt.

Wie erklären Sie sich das?

Da lässt sich nur spekulieren. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die Erkrankungen tatsächlich zunehmen oder ob Studierende eher zu einem Psychotherapeuten gehen. Ich weiß etwa aus der Psychotherapeutischen Beratungsstelle der Uni Mainz, dass die Hilfe dort seit Jahren immer mehr in Anspruch genommen wird. Das hängt auch mit der Umstellung von den Diplom- und Magisterstudiengängen auf die Bachelor- und Mastersystematik zusammen. Bei vielen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht so zügig studieren konnten, hat der Druck deutlich zugenommen. Je länger sie studiert haben und je älter sie wurden, desto größer wurde dieser Druck. Und viele sind dann zur Beratung gegangen.

Eine Studienreform, die zu Depressionen geführt hat?

Ja. Wir hören von den Studierenden und auch von den Professoren, dass der Druck deutlich gestiegen ist. Jedes Semester müssen alle Prüfungen pünktlich und „sehr gut“ bestanden werden, weil alles für die Endnote mitzählt. Das war zu meiner Zeit anders, als es nur Prüfungen zum Vordiplom und zum Diplom gab. Heute geht der Druck, eine gute Note haben zu müssen, am ersten Tag des Studiums los. Denn nur mit einem guten Bachelorabschluss bekommt man auch einen Masterstudienplatz – ganz besonders, wenn man noch an eine bestimmte Universität möchte.

Jenseits der Universitäten: Hat der Druck auf die junge Generation generell zugenommen?

Ja. Das hat viel mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. Jeder ist – auch wegen der sozialen Medien – deutlich öffentlicher geworden. Und die jüngere Generation stellt sich selbst viel mehr in die Öffentlichkeit. Sie wird aber auch in die Öffentlichkeit gestellt, zum Beispiel über soziale Medien, aber nicht nur da. Der Druck, zu genügen, einem bestimmten Ideal zu entsprechen, ist über die Jahre deutlich größer geworden. Und immer häufiger werden Menschen untereinander verglichen.

Wie lässt sich mit diesem Druck so umgehen, dass junge Menschen nicht in Depressionen gleiten?

Es muss darum gehen, die Resilienz, die Stresstoleranz, spätestens im Schulalter zu fördern. Das heißt, Kinder sollten lernen, mit Stress besser umzugehen. Ein ganz wichtiger Teil ist Medienkompetenz. Wir können und wollen die sozialen Medien nicht zurückdrehen, wir wollen nicht in die digitale Steinzeit zurück. Dann müssen Kinder und Jugendliche aber lernen, gut damit umzugehen. Dazu gehört auch, die Schulsozialarbeit und die Schulpsychologen als Anlaufstelle für junge Menschen zu stärken – insbesondere für diejenigen, die mit sozialen Medien nicht zurechtkommen und dort womöglich Mobbingerfahrungen machen. Dadurch kann eine große Hilflosigkeit entstehen. Viele wissen nicht, wie sie da wieder herauskommen können.

Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Mobbingerfahrungen und Depressionen?

Ja. Das erleben wir häufig, übrigens auch im Erwachsenenalter. Man fühlt eine Ablehnung, man wird ausgeschlossen, fühlt sich hilflos ausgeliefert, schämt sich, was zu einem sozialen Rückzug führt. Das allein ist schon schlimm genug. Mobbing über die sozialen Medien findet dann aber auch noch öffentlich statt. Man kann sich nicht verstecken, es gibt dort keine Rückzugsmöglichkeiten. Das ist ein ganz massiver Druck, den verständlicherweise kaum jemand gut aushalten kann.

Was bedeutet es konkret, Resilienz in der Schule zu lernen?

Es geht darum, dass Schüler lernen, ihre Emotionen und Handlungen zu kontrollieren, dass sie die Erfahrung machen, selbst und aus eigener Kraft etwas erreichen zu können. Das nennen wir Selbstwirksamkeit. Es macht uns alle stark, wenn wir Vertrauen in unsere Fähigkeiten haben können. Es geht auch darum, eine gewisse Toleranz für Ungewissheit zu entwickeln, ebenso wie die Fähigkeit, Beziehungen aktiv gestalten zu können. Ein weiterer Aspekt ist, dass wir die Einstellung gewinnen, aktiv Probleme anzugehen und sich ihnen nicht hilflos zu ergeben. Die Frage dabei ist, ob es dafür Hilfemöglichkeiten gibt. Ist jemand da, der den Schüler unterstützt? Wie lässt sich ein Problem lösen? Kann ich das auch allein bewältigen? Wer kann mir Hilfe geben? Wie kann ich danach suchen? Wie schaffe ich es, mir auch Hilfe zu holen? Wenn man diesen Fragen sehr früh bei Kindern nachgeht, kann man sie schulen, dass sie sich nicht ausgeliefert fühlen.

Gibt es dabei große Defizite in den Schulen?

Ja. Es gibt zu wenig Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen, von denen jede Schule mindestens einen, in sozialen Brennpunkten vielleicht auch zwei braucht. Dafür gibt es aber zu wenig Geld. Und solche Mitarbeiter brauchen auch Zeit, um sich um einen Fall intensiv kümmern zu können. Schüler sollen sich ganz selbstverständlich an Menschen wenden können, die ihnen Hilfe geben. Dann kommt es hoffentlich gar nicht erst zu psychischen Diagnosen.

Den Zahlen der Barmer ist zu entnehmen, dass es bei Depressionen unter Jüngeren ein Stadt-Land-Gefälle gibt. Beobachten Sie das auch?

Ja. Chronischer Stress ist in Städten deutlich höher als auf dem Land. Und das Erleben von chronischem Stress ist eine wesentliche Ursache für die Entwicklung einer Depression.

Die Zahl der Depressionen steigt bei Jüngeren deutlich. Werden Depressionen heute einfach häufiger entdeckt, oder ist die jüngere Generation auch tatsächlich psychisch kranker geworden?

Bei Erwachsenen gibt es eine Studie im Auftrag des Robert Koch-Instituts, die zeigt, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen über viele Jahre gleich geblieben ist. Die in den Krankenkassenreporten immer wieder dargestellte Zunahme psychischer Erkrankungen hat also etwas damit zu tun, dass sich psychisch kranke Menschen heute eher Hilfe suchen. Die Sensibilität ist gestiegen, psychische Erkrankungen treten aber nicht häufiger auf. Für Kinder und Jugendliche gibt es widersprüchliche Daten. Einige Studien sehen die Entwicklung ähnlich wie im Erwachsenenalter. Andere Studien sprechen jedoch auch von einer Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Ich glaube, dass der Löwenanteil dieser Anstiege darin begründet liegt, dass die Ärzte und die Eltern sensibler geworden sind und dass man auch in den Schulen aufmerksamer geworden ist und Eltern über seelische Probleme von Schülern häufiger informiert.

Ist es dann nicht eher eine gute Nachricht, dass Depressionen immer früher diagnostiziert werden – mindert das nicht die Gefahr, dass sie später als Arbeitnehmer in der Sandwichgeneration der 35- bis 45-Jährigen lang ausfallen?

Ja. Je früher Depressionen diagnostiziert werden und je früher eine Behandlung vor allem in Form einer Psychotherapie erfolgt, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Erkrankung nicht chronifiziert auftritt. Diese Menschen werden früh mit Möglichkeiten ausgestattet, um mit Schwierigkeiten besser klarzukommen, die sich im Lauf ihres Lebens sicher ergeben werden. Sie sind besser geschützt. Eine frühe Behandlung ist auch aus gesundheitsökonomischen Gründen erstrebenswert, weil wir uns die Folgen einer Chronifizierung eigentlich nicht mehr leisten können. Wir müssen die Kinder und Jugendlichen, die psychische Probleme haben, schnell erkennen und behandeln. Das sollten wir unbedingt anstreben, erstens um das Leid der Menschen in ihrem weiteren Leben zu mindern und um zweitens aber auch der Gesellschaft zu helfen. Denn psychisch Kranke können nicht gut arbeiten, brechen oft ihre Ausbildung ab und werden dann möglicherweise zu Sozialfällen. Eine Gesellschaft sollte aber jedes Potenzial ihrer Mitbürger fördern und sie nicht zurücklassen.

Depressionen werden bei jüngeren Rheinland-Pfälzern seltener diagnostiziert als im Bundesschnitt. Hat das etwas mit der ländlichen Struktur zu tun?

Ja. Das vermute ich, weil der Stresslevel hier geringer und damit ein Risikofaktor reduziert ist. In Stadtstaaten wie Bremen oder Hamburg gibt es auch eine größere Dichte an Therapeuten, sie sind leichter und schneller zu erreichen und werden daher möglicherweise auch häufiger in Anspruch genommen. Wir haben das Problem, dass es deutlich zu wenige Therapeuten gibt, die sich auf Kinder und Jugendliche bis zum 21. Lebensjahr spezialisiert haben. Ab dem 18. Lebensjahr können junge Patienten zwar auch zu einem Erwachsenentherapeuten gehen. Allerdings sind die Wartezeiten auch hier lang – im Schnitt bis zu fünf Monate, auf dem Land länger als in der Stadt. Deshalb lassen Therapien sehr lang auf sich warten. Und die Wege zum nächsten Therapeuten sind weit. Deshalb findet eine Behandlung oft gar nicht statt. Man hofft, dass es irgendwie vorbeigeht. Das ist aber oft ein Trugschluss. Die akuten Symptome schwächen sich vielleicht ab, aber sie kommen oft wieder, und dann umso heftiger.

Das Gespräch führte Christian Kunst

In Zentren werden Depressionen öfter diagnostiziert

Wer die Zahlen des Barmer-Arztreports zu Depressionen bei jungen Erwachsenen analysiert, entdeckt ein Stadt-Land-Gefälle. So befinden sich unter den fünf rheinland-pfälzischen Orten mit den höchsten Anteilen von 18- bis 25-jährigen Depressiven nur Städte: Koblenz, Ludwigshafen, Landau, Speyer und Kaiserslautern. Unter den fünf Orten mit den geringsten Raten ist indes keine einzige Stadt.

Dies bestätigt sich größtenteils auch beim Blick auf das Verbreitungsgebiet unserer Zeitung: Je städtischer eine Region ist, umso höher ist der Anteil der jungen Depressiven. In Koblenz wurde 2016 bei 8,3 Prozent (Bund: 7,59 Prozent, RLP: 6,92 Prozent) der 18- bis 25-Jährigen die Diagnose Depression gestellt (plus 15,5 Prozent im Vergleich zu 2006). Im Kreis Bad Kreuznach waren es indes nur 5,45 Prozent (plus 35,2 Prozent), im Kreis Altenkirchen 5,72 Prozent (plus 57,1 Prozent), im Kreis Birkenfeld 5,76 Prozent (plus 16,1 Prozent), im Rhein-Hunsrück-Kreis 5,78 Prozent (plus 39,6 Prozent), im Kreis Cochem-Zell 6,03 Prozent (plus 26,4 Prozent), im Westerwaldkreis 6,17 Prozent (plus 25,2 Prozent), im Kreis Ahrweiler 6,81 Prozent (plus 31,5 Prozent). Höhere Werte über dem Landes-, aber unter dem Bundesschnitt gibt es im Kreis Mayen-Koblenz mit 7,09 Prozent (plus 35,3 Prozent) und im Kreis Neuwied mit 7,54 Prozent (plus 37,3 Prozent). Interessanterweise liegt aber ein eher ländlicher Kreis ebenfalls über dem Durchschnitt von Bund und Land: der Rhein-Lahn-Kreis mit 8,08 Prozent (plus 38,4 Prozent). Hier lässt sich vermuten, dass durch das breite psychiatrische Angebot etwa in der Klinik Lahnhöhe und dem Bruker-Haus auch eine größere Sensibilität in der Bevölkerung für das Thema Depressionen vorhanden ist.

Tatsächlich gibt es auf dem Land allein schon wegen des Verteilungsschlüssels deutlich weniger Psychotherapeuten. Laut Vizechef der Kassenärztlichen Vereinigung in Rheinland-Pfalz, Peter Andreas Staub, sollen in Städten 36 Psychotherapeuten auf 100.000 Einwohner kommen, auf dem Land nur 12. Viele Patienten vom Land würden aber aus Scham ohnehin zu städtischen Therapeuten pendeln – wenn diese denn erreichbar sind. Laut Staub, selbst Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, fehlen landesweit 160 Psychotherapeuten für Erwachsene. Durch die jüngsten Reformen bei Psychotherapeuten – unter anderem verpflichtende Sprechstunden und eine stärkere Betonung der Akuttherapie – habe sich die Lage für Langzeitpatienten weiter verschlechtert, sagt Staub. Wegen der Reform könnten die Psychotherapeuten 15 Prozent weniger Langzeittherapien anbieten. Der KV-Vorstand rechnet daher mit weiter steigenden Wartezeiten, die schon jetzt fünf Monate und mehr betragen können.  Christian Kunst

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