Was nun? Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Brexit

Spannungen in der EU
Die Entscheidung zum Brexit der Briten führt zu enormen politischen Spannungen in Europa schon vor dem Start des EU-Gipfels Foto: Federico Gambarini/Archiv

Die EU drückt jetzt aufs Tempo. Bereits am Dienstag soll der britische Premier David Cameron beim EU-Gipfel offiziell den Antrag auf Austritt aus der Union stellen, fordern Europas Staats- und Regierungschefs, die Führung der Gemeinschaft und die Volksvertreter des Parlamentes.

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Von unserem Brüssel-Korrespodenten Detlef Drewes

Brüssel. „Ein Zögern schadet allen“, sagte Parlamentspräsident Martin Schulz am Wochenende. Doch noch ist unklar, ob es wirklich dazu kommt – und wie die EU reagiert. Die wichtigsten Fragen und Antworten dazu:

Ist der Brexit noch aufzuhalten?

Die EU sagt ganz klar: Nein. Nach dem Referendum müsse Premier David Cameron nun auch offiziell den Willen seines Volkes gegenüber der Union erklären und den Austritt nach Artikel 50 beantragen. Darauf drängen eigentlich alle: Die Außenminister der Gründerstaaten haben dies am Samstag gefordert, das Europäische Parlament wird eine entsprechende Resolution am Dienstagmorgen (also unmittelbar vor dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs) mit der Mehrheit der Christ- und Sozialdemokraten, der Liberalen und Grünen verabschieden.

Welche rechtliche Bedeutung hat die Abstimmung?

Das EU-Referendum ist rechtlich nicht bindend. Der Premierminister könnte das Parlament, den britischen Souverän, abstimmen lassen. Bisher galt als sicher, dass die Abgeordneten sich dem Mehrheitswillen beugen müssen. Ein britischer Labour-Abgeordneter hat das Parlament bereits aufgerufen, das EU-Referendum zu kippen. Das Parlament solle es mit einem Votum außer Kraft setzen, forderte der Abgeordnete David Lammy. „Wir können diesen Wahnsinn durch eine Abstimmung im Parlament stoppen und diesen Albtraum beenden“, zitierte ihn die britische Agentur PA.

Und die Petition für ein zweites Referendum?

Die Petition, die mehrere Millionen Briten unterzeichnet haben, hat rechtlich keine Bedeutung, kann aber Druck auf das Parlament machen. Jeder Brite oder Einwohner Großbritanniens kann eine Parlamentspetition starten, wenn er fünf Gleichgesinnte findet. Ab 10 000 Unterschriften gibt es eine schriftliche Antwort der Regierung, ab 100 000 gibt es in den meisten Fällen eine Parlamentsdebatte zum Thema.

Was passiert, wenn Cameron den Austritt offiziell beantragt?

Der wichtigste Punkt ist zweifellos, dass ein solcher Antrag nach Artikel 50 nicht mehr wieder zurückgenommen werden kann. Sollte eine britische Regierung zu einem späteren Zeitpunkt (vor Vollzug des Austritts) doch noch in der EU bleiben wollen, müsste sie eine Aufnahme (Artikel 49) erneut beantragen und ein normales Beitrittsverfahren durchlaufen. Dazu ist die einstimmige Mehrheit aller nationalen Parlamente notwendig.

Wie läuft das Verfahren ab?

Im Fall eines Austritts legt der Europäische Rat (EU-Gipfel) die Leitlinien für die Verhandlungen fest. Innerhalb von 24 Monaten müssen die EU und das Vereinigte Königreich ihre künftigen Beziehungen regeln. Dieses „Scheidungsabkommen“ braucht dann beim EU-Gipfel eine erweiterte qualifizierte Mehrheit von 72 Prozent – das sind mindestens 20 Mitgliedstaaten -, die außerdem 65 Prozent der Bevölkerung der Mitgliedstaaten vertreten muss. Außerdem ist eine einfache Mehrheit im Parlament nötig. Die nationalen Volksvertretungen wie zum Beispiel der Bundestag müssen allerdings in diesem Fall nicht zustimmen.

Wer führt eigentlich die Verhandlungen?

Zum Verhandlungsführer auf EU-Seite wurde der 50-jährige belgische Spitzendiplomat Didier Seeuws berufen. Er leitet derzeit das Ressort Verkehr, Telekommunikation und Energie im Europäischen Rat und war langjähriger Mitarbeiter des früheren Ratspräsidenten Herman van Rompuy.

Der britische EU-Kommissar Jonathan Hill hat seinen Rücktritt angekündigt. Wie hat er das begründet?

Hill scheidet aus der Kommission aus. Er sagte: „Da wir uns in eine neue Phase bewegen, glaube ich nicht, dass es richtig wäre, als britischer Kommissar weiterzumachen, als ob nichts geschehen wäre.“ Juncker bedauerte den Rücktritt – er soll zum 15. Juli (Mitternacht) wirksam werden. Hills Aufgaben (er war für Finanzfragen und die Bankenunion zuständig) übernimmt vorerst Kommissionsvize Valdis Dombrowskis.

Werden noch mehr gehen?

Rechtlich gesehen muss jetzt niemand gehen, weil Großbritannien bis zum Abschluss des Austrittsverfahrens Vollmitglied der EU bleibt. Die 73 Abgeordneten sind bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2019 gewählt. Einige Parlamentsabgeordnete des Vereinigten Königreiches haben ihre Dossiers, für die sie zuständig waren, jedoch schon zurückgegeben. Man erwartet eigentlich auch, dass die Mitglieder der britischen Ukip-Partei des Brexit-Befürworters Nigel Farage nicht länger im Parlament sitzen. Schließlich haben sie den Austritt betrieben.

Dürfte der Präsident des Parlaments, Martin Schulz, die britischen Abgeordneten von den weiteren Beratungen oder Abstimmungen ausschließen?

Das ist rechtlich nicht möglich. Sie sind bis 2019 gewählt und können ihr Mandat auch so lange wahrnehmen. Allerdings wächst der Druck der EU-Parlamentarier auf ihre britischen Kollegen, ihre Mandate ruhen zu lassen.

Was ist mit etwa 1000 britischen EU-Beamten?

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat ihnen bereits am Freitag gesagt: „Sie sind Beamte der Union. Sie arbeiten für Europa und nicht für Großbritannien.“ Das heißt: Sie sollen ihren Job behalten. Für sie hat der Ausgang des Referendums „keine Auswirkung“. Allerdings wird man bei den Austrittsverhandlungen ein delikates Problem zu lösen haben: Es ist nämlich völlig offen, ob die Pensionen ehemaliger britischer Beamter künftig von der EU oder von London bezahlt werden. Das muss ausgehandelt werden.

Kann die EU den britischen Premier zwingen, jetzt bald den Austrittsantrag offiziell zu stellen?

Nein, das ist nicht möglich. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union überlässt diesen Schritt allein der gewählten Regierung eines Mitgliedstaates.

Wenn diese aber nun das Verfahren hinauszögert, um bessere Bedingungen aushandeln zu können – ist das möglich?

Das kann die britische Regierung zwar tun, aber es dürfte ihr wenig bringen. Ohne offiziellen Austrittsantrag käme dies dem Versuch gleich, die bisherigen Zusagen nachträglich verbessern zu wollen. Das ist der EU aufgrund eines klaren Beschlusses der Staats- und Regierungschefs nicht erlaubt. Gespräche über einen Austritt und seine Bedingungen sind aber auch nicht möglich, weil dazu zunächst der Artikel 50 aktiviert werden muss. Dennoch wird es vorausgreifende Maßnahmen gegen London geben.

Inwiefern?

Die Staats- und Regierungschefs der EU wollen ihren britischen Kollegen bereits beim zweiten Tag ihres Treffens in dieser Woche nicht mehr dabeihaben. In den Ministerräten dürften die Vertreter aus London künftig isoliert sein, immer häufiger wird man sich auch ohne den Kollegen aus London treffen. Und im Europäischen Parlament haben die Abgeordneten der Insel kaum noch Gewicht. Denn man wird natürlich in allen Institutionen sagen: Warum sollten wir auf euch hören, wenn ihr doch ohnehin raus wollt? Es gibt also auch so etwas wie einen Vollzug des Brexit im normalen Betrieb der Gemeinschaft.