Es ist einer jener Augenblicke, die Geschichte schreiben, von denen man noch Jahrzehnte später genau weiß, wie und wo man sie erlebt hat: Während Tausende (Ost-)Berliner zu den Grenzübergängen am „antifaschistischen Schutzwall“ drängen, feiern die Koblenzer in der Rhein-Mosel-Halle den „Ball der Wirtschaft“. Am späten Abend wird der Tanz für eine Eilmeldung jäh unterbrochen: In Berlin bröckelt die Mauer. Mit Hammer und Meißel setzen ihr DDR-Bürger zu. Unbändiger Jubel brandet auf. Stehende Ovationen, während die Band „Berliner Luft“ intoniert.
Chefredakteur Peter Burger zum Serienstart „30 Jahre Mauerfall“
Nur zwei Tage später tauchen die ersten Trabis am Deutschen Eck auf – knatternd, qualmend, bewundert und umjubelt. Welch eine Symbolik: Sie drehen ihre Runden am Fuße des Mahnmals der Einheit! Für die „von drüben“ räumen Koblenzer ihre Wohnungen, plündern Feuerwehrleute am Bankautomaten ihr eigenes Konto, um Begrüßungsgeld auszuzahlen. Die Hilfsbereitschaft kennt keine Grenzen. „Willkommenskultur“ nennt das damals freilich niemand.
Dem Freudentaumel folgt bald die Ernüchterung. Die „blühenden Landschaften“ lassen in Teilen bis heute auf sich warten. Die Aufbauhilfe Ost, von Rheinland-Pfälzern ganz praktisch vor allem in Thüringen geleistet, wird vielfach als Bevormundung und feindliche Übernahme empfunden – mit der „Treuhand“ als Vollstreckungsorgan. „Ossis“ und „Wessis“ bleiben nicht nur Kosenamen. Der Osten liegt nach der Wende wirtschaftlich am Boden und blutet menschlich bis heute aus. Und dennoch bleibt auf beiden Seiten das Gefühl, „denen da drüben“ geht’s doch gut! Mit Argwohn schauen auch wir im Westen nach wenigen Jahren, was von „unserem Soli“ im Osten entsteht – auferstanden aus Ruinen: schmucke Innenstädte, sechsspurige Autobahnen und eine vermeintlich perfekte Infrastruktur. Dagegen mutieren einst pulsierende Regionen im Westen zu Hinterhöfen der vereinten Republik.
Und dennoch fühlen sich zum 30. Jahrestag des Mauerfalls 57 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Nur 38 Prozent halten die Wiedervereinigung für gelungen. Sind die Ostdeutschen „undankbar“? Tatsächlich nämlich sei der ökonomische, soziale und gesellschaftliche Zustand im Osten heute viel besser, als das vor 30 Jahren alle erwartet und sich vorgestellt hätten, konstatiert der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christan Hirte. Trotzdem bleibt der Frust – auf beiden Seiten!
Ein Grund: Auch drei Jahrzehnte nach der Wende wissen wir noch immer zu wenig voneinander. Von den tatsächlichen Verhältnissen im damaligen „Arbeiter- und Bauernstaat“, vom Aufbau der sozialen Marktwirtschaft bei uns mit all ihren Chancen – aber auch ihren Risiken. „Ossis“ und „Wessis“ treffen heute seltener in Heiligendamm, Annaberg, Erfurt, Koblenz, Cochem oder im Westerwald zusammen, dafür fremdeln sie miteinander auf Mallorca, in Phuket, Antalya oder auf der „Aida“. Es ist an der Zeit, sich neu (oder wieder) kennenzulernen – und einander zuzuhören: vorurteilslos und vorbehaltslos. Die Einheit bleibt unser gemeinsames Erbe, ob wir sie nun als Geschenk oder als Bürde verstehen. 30 Jahre nach dem Mauerfall gehen wir daher von heute an in einer großen Serie der Frage nach: „Sind wir schon ein Volk?“
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