Rheinland-Pfalz

Ramstein-Unglück: Diese Narben werden nie verheilen

Von Birgit Reichert
Zwei Militärjets der italienischen Kunstflugstaffel „Frecce Tricolori“ stoßen in 40 Meter Höhe zusammen. Sie reißen eine dritte Maschine mit sich, die wie ein Feuerball in die Menschenmenge stürzt.
Zwei Militärjets der italienischen Kunstflugstaffel „Frecce Tricolori“ stoßen in 40 Meter Höhe zusammen. Sie reißen eine dritte Maschine mit sich, die wie ein Feuerball in die Menschenmenge stürzt. Foto: picture alliance

Bei der größten Flugtagkatastrophe in Deutschland sterben 70 Menschen, etwa 350 werden schwer verletzt. Es geschieht bei der letzten Programmnummer: Zwei Militärjets der italienischen Kunstflugstaffel „Frecce Tricolori“ stoßen in 40 Meter Höhe zusammen. Sie reißen eine dritte Maschine mit sich, die wie ein Feuerball in die Menschenmenge stürzt.

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Marc-David Jung ist gerade mal vier Jahre alt, als der brennende Kampfjet ganz in seiner Nähe zu Boden stürzt. Mit seiner Familie hat er die Flugschau auf dem pfälzischen US-Militärflughafen Ramstein besucht. „Ich erinnere mich nur noch, dass ich vorher ein Eis gegessen habe und am Boden spielte.“ Die Feuersbrunst fügt dem Jungen schwerste Verbrennungen zu – im Gesicht, an den Händen und an den Beinen. Seine Mutter zieht ihn aus den Flammen. Seit dem 28. August 1988 lebt Jung mit den Folgen des Ramstein-Unglücks, das auch seinen Vater mit in den Tod gerissen hat.

30 Jahre später hat Jung mehr als 30 Operationen hinter sich. „Ich bin ein positiver Mensch. Ich akzeptiere, was damals passierte – und blicke nach vorn“, sagt der 34-Jährige. Er lebt in Losheim im Saarland und arbeitet als Programmierer bei einer IT-Firma in Luxemburg. „Ich führe ein ganz normales Leben und muss sagen, ich habe noch Glück gehabt.“

Bei der größten Flugtagkatastrophe in Deutschland sterben 70 Menschen, etwa 350 werden schwer verletzt. Es geschieht bei der letzten Programmnummer: Zwei Militärjets der italienischen Kunstflugstaffel „Frecce Tricolori“ stoßen in 40 Meter Höhe zusammen. Sie reißen eine dritte Maschine mit sich, die wie ein Feuerball in die Menschenmenge stürzt.

Jung sei „ein gutes Beispiel“, wie man es nach einer Katastrophe erfolgreich zurück ins Leben schaffen kann, sagt Traumaexpertin Sybille Jatzko aus Krickenbach bei Kaiserslautern. „Viele haben Eigenkräfte und können damit umgehen.“ Sie weiß aber auch: Zahlreiche Opfer und Hinterbliebene von Ramstein haben noch Jahre danach gelitten, viele leiden bis heute. Jatzko hat mit ihrem Ehemann, dem Mediziner Hartmut Jatzko, nach dem Unglück eine psychosoziale Nachsorgegruppe gegründet – die bis heute besteht.

Marc-David Jung erleidet bei der Flugtagkatastrophe 1988 schwere Verbrennungen. 30-mal wird er operiert. Mit seinem Schicksal hadert er dennoch nicht. Das geht aber beileibe nicht allen Opfern so. Sie leiden bis heute unter den körperlichen und seelischen Folgen.
Marc-David Jung erleidet bei der Flugtagkatastrophe 1988 schwere Verbrennungen. 30-mal wird er operiert. Mit seinem Schicksal hadert er dennoch nicht. Das geht aber beileibe nicht allen Opfern so. Sie leiden bis heute unter den körperlichen und seelischen Folgen.
Foto: dpa

Alles beginnt mit einem jungen Mann, der Ende 1988 in der Fußgängerzone in Kaiserslautern ohne erkennbaren Grund zusammenbricht. Er ist in Panik, schlägt um sich und kommt in eine psychosomatische Klinik, in der Hartmut Jatzko Chefarzt ist. Dort stellt sich heraus: Der Patient hat Ramstein erlebt – und hat einen Flashback, als ein Flugzeug über Kaiserslautern hinwegfliegt. Da wird den Jatzkos klar: Er braucht Hilfe – wie viele andere Traumatisierte auch.

„Wir haben Menschen kennengelernt, die nicht damit fertiggeworden sind“, erzählt Sybille Jatzko. Wie ein Elternpaar, das seine neunjährige Tochter verloren hat. Das Mädchen sei „frontal verbrannt“ gewesen und habe immer wieder geschrien: „Papa, Papa, bleib bei mir, es ist so dunkel“, als sie von einem Amerikaner in einen Bus gelegt wurde. Als die Eltern in die Klinik kamen, war ihre Tochter tot. „Das haben die Eltern nicht verkraftet“, schildert die Gesprächstherapeutin.

Sie sind seither immer in die Nachsorgegruppe gekommen. „Die Gruppe war ihre Familie.“ Nachdem der Mann an Krebs gestorben ist, bleibt die Mutter allein zurück. Sie muss alle 14 Tage umziehen, weil für sie jede Wohnung verbrannt riecht. Sie stirbt schließlich an einer Lungenfibrose. Das Einatmen der heißen Luft und des Kerosins nach dem Unglück hat bei einigen Besuchern der Flugschau Atemwege verbrannt. Sybille Jatzko schätzt: „Wenn wir alle dazuzählen, die an den Folgen gestorben sind, dann kommen wir mit Sicherheit auf über 100 Tote. Durch körperliche und seelische Schäden.“ Viele sind über die Jahre in Verbindung geblieben, manchmal unregelmäßig. „Es ist eine Schicksalsgemeinschaft“, sagt Jatzko.

Andere kommen nach zehn Jahren zum ersten Mal zu ihnen. Wie ein Mann, der von seiner Mutter gebracht wird. Er ist bei der Katastrophe schwer verletzt worden, seine Frau ist ums Leben gekommen. „Sie war im achten Monat schwanger. Ihr Bauch war aufgeplatzt. Er hatte da eigentlich sein ganzes Leben verloren.“ Zehn Jahre hat er nur zu Hause gesessen. Einzig zum Eishockeyspielen geht er noch vor die Tür. Weil er Eishockey so gern mag. Irgendwann wird es der Mutter zu viel. Er müsse lernen, mit dieser Geschichte klarzukommen, habe sie ihm gesagt. Es ist der erste Schritt auf dem Weg zu den Jatzkos. „Und da haben wir viel mit ihm auch in der Gruppe zusammengesessen“, erzählt Jatzko.

Auch zum 30. Jahrestag haben sich jetzt einige Opfer zum ersten Mal gemeldet. „Das liegt vielleicht auch daran, dass wir in der Einladung geschrieben haben, dass es das letzte Mal sein könnte, dass wir öffentlich groß des Unglücks gedenken.“ Diese Leute wollen eigentlich mit dem Vergangenen nichts mehr zu tun haben. „Aber jetzt haben sie doch das Gefühl, sie sollten noch einmal hingehen, um besser damit abschließen zu können“, sagt sie.

Marc-David Jung hat auch bei den Jatzkos Hilfe bekommen. Nicht bei regelmäßigen Treffen in der Gruppe. Er hat sich aber immer wieder mit den Jatzkos ausgetauscht – und so seinen eigenen Weg gefunden, damit zurechtzukommen. „Mein Fall ist anders als die meisten anderen. Ich erinnere mich nicht an das Ereignis, deshalb leide ich auch nicht jedes Jahr am Jahrestag neu. Für mich ist es ein Tag wie jeder andere.“

Ganz anders als bei seinem gut zehn Jahre älteren Stiefbruder. Er bleibt damals zwar körperlich unverletzt. „Aber er hat seelisch damit zu knapsen“, sagt Marc-David. Er hadert mit dem Verlust des Vaters – und nimmt sich Ende August immer eine ganze Woche frei. „Er sagt, dass mit ihm in dieser Woche nichts anzufangen sei, weil er emotional zu belastet sei.“

Jung liegt nach dem Unglück zwei Monate im Krankenhaus in Mannheim. Anfangs weiß er nicht, wo der Rest der Familie ist. Seine Kinderbilder mit den vielen Verletzungen sieht er sich nur selten an. Aber wenn, dann erinnert er sich genau: „Da hat man mir Haare für die Augenbrauen transplantiert.“ Er zeigt auf ein Foto von der Einschulung. „Da musste ich immer so eine Maske tragen, um die Haut zu glätten.“ Mit seinem Aussehen heute ist er trotz der Narben zufrieden: „Es ist bereits ein Maximum erreicht. Das ist einfach so, und das akzeptiere ich.“ Dass ihn manche Leute auf der Straße anstarrten, macht ihm nichts aus. „Ich finde es legitim, dass Menschen entweder einer schönen Frau hinterherschauen oder auch Leuten, die anders aussehen.“ Heute will er etwas zurückgeben. „Ich möchte zukünftigen oder derzeitigen Betroffenen helfen, dass sie auch diese Möglichkeit haben, ein erfolgreiches Leben zu führen, wie ich es erleben durfte. Damit sie zum Leben zurückfinden.“ Daher engagiert sich der Saarländer in der Stiftung Katastrophennachsorge, die Sybille Jatzko vor wenigen Wochen gegründet hat.

„Mit dieser Stiftung schließen wir in Deutschland eine Lücke“, erzählt Jatzko, die bereits in rund 15 Katastrophennachsorgen von Hinterbliebenen eingebunden war. Das Unglück von Ramstein war der Beginn, es folgten der Flugzeugabsturz der Birgenair (1996), der Terroranschlag in Bali (2002), die Tsunami-Katastrophe in Thailand (2004), die Loveparade (2010), der Absturz der Germanwings-Maschine (2015), der Terroranschlag in Istanbul (2016).

„Wir haben immer ganz viele, die am Anfang die Opfer unterstützen“, sagt sie. „Und dann wollen sie sie alle in die Regelpsychotherapie überführen, also zu niedergelassenen Psychologen und Kliniken.“ Es gebe aber nicht genügend Therapieplätze. Für viele sei dies auch nicht der richtige Weg. „Da setzt die Stiftung an. Wir sehen uns als Schicksalsgemeinschaft, die längerfristig mit den Menschen zusammenarbeitet.“ Das kann auch ein Klinikaufenthalt sein, aber ebenso eine psychotherapeutische Einzelberatung oder eine reine Trauerbegleitung. „Wir sind ein Zwischenschritt nach der Akutversorgung und vor der Regelversorgung“, sagt Sybille Jatzko. Sie kümmern sich auch um Aufklärung, Behördengänge oder Infos, die die Betroffenen brauchen.

Ihr Schicksal verbindet sie alle. „Egal, ob Breitscheidplatz, Istanbul oder Tunesien. Das sind unterschiedliche Ereignisse, aber wenn wir die Menschen einladen, verstehen sie sich. Sie sagen: Wir sprechen ja eigentlich von demselben.“ Die Stiftung sei unabhängig und wird bundesweit tätig sein. Sie soll auch Forum für jene sein, die nach einer selbst erlebten Katastrophe anderen helfen wollen. Wie Jung. „Ich möchte künftig auch bei der Betreuung von Opfern dabei sein.“

Er wird bei der Gedenkveranstaltung zum 30. Jahrestag auch in Ramstein sein. Und er wird zur Absturzstelle auf der Air Base gehen. Zur Unglückszeit um 15.48 Uhr halten die Überlebenden dort Jahr für Jahr inne. Jatzko weiß, wie belastend das wird. Und nicht nur an diesem Tag. „Anfang August, das sagen alle, die wir kennen, und das sind 350 bis 400, beginnen diese Unruhe und diese Spannung. Und es hört Ende August erst auf. Immer. Seit 30 Jahren völlig gleich.“

Das furchtbare Ereignis hat auch Ramstein geprägt. „In Deutschland und im Ausland wird Ramstein immer mit dem Unglück in Verbindung gebracht“, sagt Bürgermeister Ralf Hechler. In dem Ort mit 8000 Einwohnern werde die Katastrophe nie vergessen: „Noch heute kann jeder ganz genau sagen, wo er war, als es passierte.“

Birgit Reichert