Wer sich mit geschlossenen Augen durch Werk II der Elisenhütte Nassau bewegt, wähnt sich im Kasino. Klak, klak, klak, klak, klak. Im Stakkato eines Spielautomaten spuckt die Maschine am Beginn des Parcours Patronenhülsen aus, die scheppernd in eine Plastikwanne fallen. „Kaliber 5,56 Millimeter“, sagt ein Mitarbeiter und klemmt das goldene Stück Messing zwischen Zeigefinger und Daumen. Munition fürs G36, das Sturmgewehr der Bundeswehr. Überall stampft, zuckt und blitzt es in der riesigen Produktionshalle an der Lahn. In mehreren Fertigungsschritten wird die Kupfer-Zink-Legierung gepresst, gelasert und gezogen. Sie wird gelängt, genutet und befettet, bis sie endlich in Form gebracht ist, um sie befüllen zu können.
100 Millionen Treibladungshülsen können allein im neuen Werk II der Nassauer Munitionsfabrik MEN im Jahr produziert werden. „Damit können wir unsere Produktion um rund ein Drittel hochfahren“, erklärt Geschäftsführer Hermann Mayer bei der Einweihung. Bisher hat das Metallwerk Elisenhütte GmbH rund 45 Prozent seiner Hülsen aus Tschechien importiert. Jetzt wird die Wertschöpfungskette weiter an die Lahn verlegt. Insgesamt 300 Millionen Patronen können damit neuerdings pro Jahr in Nassau im Drei-Schicht-Betrieb produziert werden.
Alles, was der Soldat im Holster hat.
MEN-Geschäftsführer Hermann Mayer zur Produktpalette seines Unternehmens
Nicht nur fürs G36, sondern für die komplette Palette an Kleinkalibermunition der Bundeswehr. Von der 9-Millimeter-Pistole bis zum martialischen 12.7-Millimeter-Maschinengewehr von Browning. Mayer formuliert sein Portfolio für Laien etwas griffiger: „Alles, was der Soldat im Holster hat.“ Und mit sich rumschleppt. MEN ist so ganz nebenbei auch noch der größte deutsche Lieferant für Polizeimunition.
Nach der Millioneninvestition kommt es Mayer da ganz gelegen, dass den Nassauern ein gewaltiger Rüstungsauftrag winkt, mit dem die Firma in neue Dimensionen vorstößt. Denn die Bundeswehr hat gerade 480 Millionen Patronen im Wert von 312 Millionen Euro bestellt. Auch der Bundestag hat nun Grünes Licht gegeben. MEN dürfte ein großes Stück vom Kuchen abbekommen. Denn es gibt nur einen Wettbewerber in Deutschland, mit dem sich Mayer den Auftrag teilen muss. Im besten Fall werden an der Lahn in den kommenden sieben Jahren insgesamt zwischen 200 und 300 Millionen Patronen für die Bundeswehr produziert.
Die Tinte unter dem Vertrag für die Rahmenvereinbarungen mit dem Koblenzer Rüstungsamt ist praktisch schon trocken. Dennoch tritt Mayer noch etwas auf die Euphoriebremse. „Sicherheit habe ich erst, wenn ich den Auftrag habe.“ Zumal es sich um prognostizierte Maximalmengen handele. „Was final beauftragt wird, hängt im Wesentlichen von den Haushaltsmitteln ab, die zur Verfügung stehen – und den Prioritäten.“
Das war 2020 eine strategische Entscheidung.
Geschäftsführer Hermann Mayer zu den Hintergründen von Werk II
Klingt trotzdem nach einem perfekten Timing. Zumal die Pläne für den Neubau in die Zeit vor dem russischen Überfall auf die Ukraine zurückreichen. „Das war 2020 eine strategische Entscheidung“, betont Mayer. Damals haben sie das Grundstück im Lahnknie gekauft. Danach sind am Fluss 900 Sattelzüge mit Natursteinschotter abgekippt worden, um vor Hochwasser geschützt zu sein. Im April 2023 war dann Spatenstich. Insgesamt hat MEN 22 Millionen Euro in den Standort investiert. Und damit auch neue Jobs geschaffen. Die Zahl der Beschäftigten dürfte von rund 300 auf bis zu 350 steigen. Damit bleibt MEN der zweitgrößte Arbeitgeber in der Region. Auch wenn das Unternehmen immer noch kaum jemand so richtig auf dem Schirm hat.
Dabei kann das 1957 gegründete Unternehmen auf eine lange Tradition in der Rüstungsbranche zurückblicken. „Wir sind Lieferant der Bundeswehr, seit sie existiert“, sagt Mayer stolz. Der brasilianische Mutterkonzern CBC ist sogar der größte Lieferant von Kleinkalibermunition an die Nato überhaupt. Auch MEN ist international aufgestellt. „Die Niederländer sind in diesem Jahr bisher unser größter Kunde“, erklärt Mayer. Und das, obwohl die Armee der Nachbarn viel kleiner ist als die Bundeswehr. Wie kann das sein? „Sie haben einfach schneller bestellt“, sagt der MEN-Chef.
Auch die Franzosen, die selbst über keinen Produzenten von Kleinkalibermunition verfügen, haben ihre Munition schon vor der Truppe erhalten. Mal wieder. Das deutsche Beschaffungswesen ist eben nicht unbedingt für Aktionismus bekannt. Laut Bundesregierung sollen künftig auch mehr als 50 Millionen Schuss „Handwaffenmunition“ an die Ukraine geliefert werden, wie auf ihrer Internetseite nachzulesen ist.
Und wie sieht es bei der Truppe selbst aus? Mayer greift zum Taschenrechner, um am Beispiel des Sturmgewehrs G36 zu verdeutlichen, wann der Bundeswehr im Ernstfall die Feuerpause droht. Pro Mann und Tag kalkuliere man fünf Magazine mit je 30 Schuss, erklärt der MEN-Chef. Macht bei 5000 Soldaten 750000 Patronen am Tag. Oder 22,5 Millionen im Monat. Zumindest für die geplante deutsche Brigade in Litauen dürfte die Nato-Vorgabe von 30 Tagen also schon mal reichen. Bei größeren Operationen hingegen dürfte die Truppe schnell wieder blank sein.