Zwei Wirtschaftsförderer werben für eine Regiopol-Region im Norden von Rheinland-Pfalz, um im Wettbewerb um Fachkräfte und Firmen zu bestehen
Vom schlafenden Riesen zur Macht am Mittelrhein: So punktet das nördliche Rheinland-Pfalz
Noch ist es eine Ansammlung von Städten und kleinen Gemeinden, doch wenn es nach den Anhängern der Regiopol-Idee geht, dann könnte das Siedlungs- und Industriegebiet im Mittelrheintal zur geballten Macht mit Strahlkraft in Richtung Mosel, Eifel, Hunsrück und Westerwald werden. Foto: Sascha Ditscher
Sascha Ditscher

Wer auf der A48 fährt, der erblickt irgendwann das gigantische Panorama des Rheintals, das riesige zusammenhängende Siedlungs- und Industriegebiet des Neuwieder Beckens. Für zwei erfahrene Wirtschaftsförderer aus Koblenz und Neuwied ist es höchste Zeit, den wirtschaftlich überaus potenten und bevölkerungsstarken Norden von Rheinland-Pfalz, einen schlafenden Riesen zur Macht am Mittelrhein zu machen. Sie haben uns erklärt, wie das gelingen kann.

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Noch ist es eine Ansammlung von Städten und kleinen Gemeinden, doch wenn es nach den Anhängern der Regiopol-Idee geht, dann könnte das Siedlungs- und Industriegebiet im Mittelrheintal zur geballten Macht mit Strahlkraft in Richtung Mosel, Eifel, Hunsrück und Westerwald werden. Foto: Sascha Ditscher
Sascha Ditscher

Hans-Jörg Assenmacher erzählt gern Anekdoten. Diese, sagt der Koblenzer Notar und Vorsitzende der Initiative Region Koblenz-Mittelrhein, ist die Anekdote seines Lebens: Als er zehn oder zwölf Jahre alt war, erzählt der 64-Jährige, habe sein Großvater aus Andernach ihm gesagt: „Das Neuwieder Becken muss eine Stadt werden.“

Wer das dortige Rheintal auf der A 48 von Eifel oder Westerwald erblickt, kann den Andernacher verstehen. Ein riesiges zusammenhängendes Industrie- und Siedlungsgebiet, ein gigantisches Panorama öffnet sich, das an das von US-Großstädten wie Chicago erinnert.

Eigentlich finanziert der Norden das Land, wie in Italien, um es überspitzt zu sagen. Eigentlich können wir vor Kraft gar nicht gehen, aber keiner weiß es. Eigentlich müssten wir die Stadt Mittelrhein gründen, aber da laufen Ihnen die Bürgermeister schreiend weg. Das Kirchturmdenken verhindert das.

Hans-Jörg Assenmacher, Vorsitzender der Initiative Region Koblenz-Mittelrhein

Heute sagt Assenmacher: „Wenn wir das Neuwieder Becken zu einer Stadt machen würden, wären wir unter den Top 15 der einwohnerstärksten Städte in Deutschland und die deutlich größte Stadt in Rheinland-Pfalz.“ 23 Prozent der rheinland-pfälzischen Bevölkerung und 30 Prozent der Wirtschaftskraft befänden sich im Norden.

„Eigentlich finanziert der Norden das Land, wie in Italien, um es überspitzt zu sagen. Eigentlich können wir vor Kraft gar nicht gehen, aber keiner weiß es. Eigentlich müssten wir die Stadt Mittelrhein gründen, aber da laufen Ihnen die Bürgermeister schreiend weg. Das Kirchturmdenken verhindert das.“

Die Stadt oder gar Metropole Mittelrhein wird daher wohl Utopie bleiben – zu wirkmächtig bleiben die uralten Grenzen von Bistümern, gewachsenen Kulturen, von lokalen Befindlichkeiten und nicht zuletzt von Rhein und Mosel, sagt Brigitte Ursula Scherrer, Ehrenvorsitzende des Wirtschaftsforums Neuwied und wie der Koblenzer Assenmacher seit Jahrzehnten Netzwerkerin, Wirtschaftsförderin am Mittelrhein.

Beide setzen daher statt auf die Metropole auf die Regiopole Mittelrhein (300.000 Einwohner) und perspektivisch auf die Regiopol-Region Mittelrhein-Westerwald (1,26 Millionen Einwohner). Keimzelle ist eine Initiative der Städte Koblenz, Neuwied, Lahnstein, Bendorf, Andernach sowie der Verbandsgemeinden Vallendar und Weißenthurm vom Dezember zur Gründung einer solchen Regiopole, die im Laufe dieses Jahres in einen Verein münden soll. Die Mitglieder repräsentieren weitgehend das Neuwieder Becken, nur die Stadt Mülheim-Kärlich fehlt noch.

Zur Regiopol-Region könnten perspektivisch die weiteren Mitgliedskommunen der Planungsgemeinschaft Mittelrhein-Westerwald gehören: die Kreise Ahrweiler, Altenkirchen, Cochem-Zell, Mayen-Koblenz, Neuwied, Rhein-Lahn, Rhein-Hunsrück und Westerwald sowie die Stadt Mayen. Assenmacher hält die Strahlkraft der Regiopole allerdings für begrenzt – auf einen Umkreis von 50 Kilometer rund um Koblenz. Dies entspreche auch den Lebensrealitäten der Menschen.

Die Fliehkräfte in umliegende Großregionen, hat Assenmacher beobachtet, wachsen mit zunehmender Entfernung, aber auch mit der wirtschaftlichen Potenz etwa mit Blick auf den Westerwald, Stichwort Montabaur.

Wir im Norden sind in Mainz nicht so präsent, wie es uns zustehen würde.

Brigitte Ursula Scherrer, Ehrenvorsitzende des Wirtschaftsforums Neuwied

Für Scherrer geht es darum, das nördliche Rheinland-Pfalz aus dem Zangengriff der Metropolregionen Köln-Bonn und Rhein-Main zu befreien. „Wir gehen sonst kaputt. Wir haben an allen Ecken gesehen, wie die umliegenden Großregionen versucht haben, uns den Boden abzugraben. Wir mussten was finden, um die Ellenbogen auszufahren. Die Regiopole haben uns fasziniert.“ Dem Neuwieder Wirtschaftsforum, das Mitglied der Initiative Region Koblenz-Mittelrhein ist, geht es auch darum, in der Landespolitik sichtbarer zu werden. „Wir im Norden sind in Mainz nicht so präsent, wie es uns zustehen würde.“

Assenmacher hat deshalb den Parlamentskreis Nördliches Rheinland-Pfalz initiiert, in dem sich Landtagsabgeordnete aus dem Norden über Parteigrenzen hinweg zusammenfinden. Nach einem ersten Treffen 2019 solle 2023 ein weiteres folgen. Doch Assenmacher schwebt Größeres vor: „Wir brauchen eine Art Regionalparlament, um die Möglichkeit zu bekommen, als Norden von Rheinland-Pfalz politischen Einfluss zu nehmen. Wir müssen überlegen, wie wir in der Kommunalordnung Verbünde wie Regiopole platzieren, damit sie eine politische Basis bekommen.“

Das Charmante an einer Regionalvertretung dürfte nicht nur sein, dass sie dem Norden mehr Macht verleihen kann, sondern auch, dass sich dort die Kirchtürme wiederfinden. Dabei wollen Scherrer und Assenmacher dieses Denken eigentlich überwinden. „Wir müssen über den Tellerrand schauen“, sagt Scherrer. Assenmacher betont: „Sie kommen nur über die Themen in die Köpfe der Menschen.“ Will heißen: Die Idee einer Regiopole wird nur verfangen, wenn Bürger und kommunale Entscheidungsträger begreifen, dass es politisch, wirtschaftlich, auch kulturell im Norden nur gemeinsam, mit geballter Macht vorangeht. Beispiele haben beide reichlich:

1 Energie und Wasserstoff: Assenmacher berichtet von einem Treffen mit Vertretern hoch energieintensiver Firmen aus den Bereichen Glas und Keramik im Westerwald. „Für diese Industrien ist das Thema Wasserstoff unabdingbar.“ Das gelte auch für die vielen Speditionen im Raum Koblenz, deren Lkw künftig vor allem auf Wasserstoffbasis angetrieben werden müssten. Assenmacher sieht eine Lösung in der Schaffung einer Wasserstoffregion. Wichtige Partner seien dabei neben dem Westerwald die Industriehäfen in Andernach und Bendorf sowie die Verbandsgemeinde Kaisersesch, wo im Rahmen eines „Smart Quart“-Projektes ein Wasserstoffquartier gebaut wird. Erst jüngst hatte eine vom Klimaschutz- und Umweltministerium in Auftrag gegebene Studie die Nachfrage nach Wasserstoff im Jahr 2040 mit etwa 22 Terawattstunden beziffert. Zu den Regionen mit der größten Nachfrage zählen demnach Mayen-Koblenz sowie der Rhein-Lahn-Kreis. Doch nur gut ein Achtel des Wasserstoffbedarfs könne im Land produziert werden. Scherrer wirbt auch deshalb für eine Regionalisierung der Energieversorgung. „Das Neuwieder Becken sollte sich zu einem Energieversorgungsunternehmen zusammenschließen. Das schafft einen bezahlbaren Energiemix für die Bürger und die Industrie.“

2 Gesundheit: Wie wichtig es ist, dem Norden des Landes eine mächtigere Stimme in Mainz zu verleihen, zeigt das bislang gestrandete Projekt einer klinischen Ausbildung von bis zu 120 Medizinstudenten auf einem von Koblenzer Kliniken geplanten Medizincampus Koblenz. Assenmacher richtet zudem den Blick auf den Kreis Ahrweiler, wo es laut Landrätin Cornelia Weigand wegen der vielen Kurkliniken den größten Gesundheitsstandort im Land gebe. Er regt daher eine Gesundheitsregion Koblenz-Mittelrhein an. Scherrer befürwortet zudem mit Blick auf die Klinikreform des Bundes eine stärkere Konzentration der Krankenhäuser im Norden.

3 Fachkräftegewinnung, Wissenschaft und Digitalisierung: Natürlich geht es den beiden Netzwerkern vor allem auch darum, mithilfe einer Regiopol-Region attraktivere Bedingungen für Fachkräfte und neue Unternehmen zu schaffen. Voraussetzungen dafür sind eine breite Hochschullandschaft, die durch die neue Uni Koblenz gerade eine Bereicherung erfahren hat. Dazu gehört auch eine stärkere Digitalisierung, die sich im Verbund leichter vorantreiben lässt.

4 Kultur und Tourismus: Einen wichtigen Motor für eine Regiopol-Region sieht Assenmacher in einem gemeinsamen Kultur- und Tourismusmarketing. Vorbild sind für ihn das Rheingau-Musikfestival und das in der Kulturregion Mannheim-Ludwigshafen. „Warum schaffen wir es nicht, alle Musikfestivals gemeinsam zu vermarkten? Auch hier bewegen wir uns an zu vielen kleinen Fronten.“ Kirchturmdenken. Davor ist auch Assenmacher nicht gefeit. Vor Kurzem, erzählt er, sei er das erste Mal in seinem Leben im Schlosstheater Neuwied gewesen. Er habe niemanden gekannt dort, aber es habe ihm gut gefallen. Brigitte Ursula Scherrer schmunzelt.

Regiopole – Entwicklungsmotoren zwischen den großen Metropolen

Die Regiopole ist ein Begriff der Raumordnung und Stadtplanung, der sich aus Regio (Region) und Polis (Stadt) zusammensetzt. Die Bezeichnung, die 2006 zunächst als Arbeitsbegriff der Universität Kassel für ein neues Forschungs- und Politikfeld entwickelt wurde, meint kleinere Großstädte außerhalb von Metropolregionen, die als Zentrum regionaler Entwicklung, Standortraum der Wissensgesellschaft und Anziehungspunkt ihrer zumeist ländlich geprägten Region fungieren. Im Gegensatz dazu sind Metropolen Großstädte mit mehr als einer Millionen Einwohner, die wissenschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentren darstellen, wesentliche Versorgungsfunktionen erfüllen und Entwicklungsmotoren für ihr Umland (Metropolregion) sind.

Das sind Kriterien, nach denen eine Stadt und eine Region als Regiopole eingestuft werden können:

  • Lage außerhalb einer Metropolregion
  • Einwohnerzahl der Kernstadt oder des Städteverbundes von mehr als 100 000 Einwohnern
  • Hochrangige Infrastruktursysteme
  • Große wirtschaftliche Bedeutung
  • Standort von Global Playern und Hidden Champions
  • Konzentration von Innovationspotenzialen
  • Universitätsstandort oder Standort einer großen Fachhochschule

Folgende Städte wurden von der Uni Kassel als potenzielle Regiopole genannt: Kiel, Lübeck, Rostock, Osnabrück, Wolfsburg, Magdeburg, Bielefeld, Münster, Paderborn, Cottbus, Göttingen, Kassel, Aachen, Siegen, Erfurt, Jena, Gera, Koblenz, Trier, Würzburg, Kaiserslautern, Saarbrücken, Karlsruhe, Regensburg, Ingolstadt, Augsburg, Ulm/Neu-Ulm. Seit 2006 haben sich bundesweit sieben Städte und Regionen als Regiopole positioniert: Bielefeld, Erfurt, Paderborn, Rostock, Siegen, Trier und Würzburg. Sie sind Teil des 2016 gegründeten Deutschen Regiopole-Netzwerks. ck

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