Der Trierer Bischof Stephan Ackermann gerät nach dem erneuten Missbrauchsskandal um den mittlerweile verstorbenen Priester Edmund Dillinger immer stärker unter Druck. Opferverbände werfen dem Bistum Trier vor, die Fälle zu schleppend aufzuarbeiten. Gegenüber unserer Zeitung äußert sich Ackermann erstmals in einem Interview zu den neuen Anschuldigungen. Der Bischof verspricht den Gläubigen, alle Verbrechen der Kirche aufzuarbeiten. „Und dann müssen die Leute entscheiden, ob sie uns vertrauen oder nicht“, erklärt er im Exklusiv-Interview. „Das ist wahnsinnig schmerzlich. Aber ich sehe da keinen anderen Weg.“ Der Prozess werde sich aber noch über Jahre hinziehen. Zunächst habe man es nur mit der Spitze des Eisbergs zu tun gehabt. „Jetzt sehen wir so langsam, was noch darunter liegt“, räumt er ein.
Wir würden gern mit einem Satz einsteigen, den Herr Robbers gesagt hat, nach dem es vage Hinweise auf einen Kinderschänderring geben soll. Was ist da Ihr Stand der Erkenntnisse?
Mir liegen dazu bisher keine Informationen vor. Aber wir nehmen natürlich das, was Prof. Robbers sagt, sehr ernst.
Der Fall Dillinger hat eine enorme Dimension. Kann man dem noch mit Mitteln des Kirchenrechts beikommen? Oder ist das nicht ein Fall für den Staatsanwalt?
Beide Rechtskreise stoßen hier an ihre Grenzen: Das Kirchenrecht greift ja nicht bei einem Verstorbenen. Genauso ermittelt eine Staatsanwaltschaft auch nicht gegen einen Toten. Insofern geht es hier um Aufarbeitung. Dafür werden wir als Bistum ein eigenes Projekt aufsetzen. Dazu gehört auch die Frage, wie das Material gesichert und ausgewertet werden kann. Das ist übrigens keine Konkurrenz zu unserer Aufarbeitungskommission. Es geht zunächst einmal nur darum, dass jetzt alles gebündelt wird, was an Anfragen und Informationen zum Fall kommt, um dann ein unabhängiges, breit aufgestelltes Projekt mit vielen Kooperationen zur Aufarbeitung zu starten. Und sicher wird auch die Staatsanwaltschaft prüfen, ob es noch Ermittlungsansätze gibt.
Der Missbrauchsskandal um Edmund Dillinger zieht immer weitere Kreise, bei denen immer mehr erschütternde Details ans Tageslicht kommen. Nach unserer Berichterstattung hat sich jetzt ein neuer Zeuge bei unserer Zeitung gemeldet, der schildert, wie hemmungslos der mittlerweile verstorbene Priester ...„Sie schwiegen aus Scham und Angst“: Zeuge berichtet im Fall Dillinger von hemmungslosem Missbrauch
Handelt es sich also um ein Nebeneinander zwischen Kommission und Generalvikar? Wie unabhängig ist dann noch eine Kommission, wenn sie den Generalvikar an die Seite gestellt bekommt?
Der Generalvikar ist der Kommission nicht an die Seite gestellt. Er soll die Einrichtung des Projekts nur operativ vorantreiben. Dabei werden wir uns aber ganz eng mit der Kommission abstimmen bei der Frage: Wie macht man das? Wer hilft uns, wenn die Spuren ins Ausland führen? Die Kommission behält also die Oberhoheit über die Aufarbeitung. Ohne ihre Zustimmung geht im Projekt nichts.
Viele Katholiken, die mit unserer Zeitung sprechen, sagen, dass sie vom Bistum gar nichts mehr erwarten. Ist es nicht erschreckend aus Ihrer Sicht, dass Sie das Vertrauen der meisten Gläubigen längst verloren haben?
Natürlich erschüttert mich das. Das geht tatsächlich bis in den Kern der Gemeinden. Ich bin ja mit vielen Menschen in Kontakt. Nur: Wenn wir systematisch aufarbeiten, wie wir es seit mehreren Jahren tun, sind die Ergebnisse nicht „schön“ oder gut, sondern erschreckend. Denn es geht um die Aufklärung von Verbrechen. Für das Bild der Kirche nach außen ist das natürlich schlecht. Da geht es ja um systematisches Versagen, um Vertuschen. Eine gute, erfolgreiche Aufarbeitung bringt also erschreckende Ergebnisse. Hinzu kommt der Fall Dillinger, in dem wir ja zuvor schon gehandelt haben. Was sein Neffe jetzt nach dem Tod seines Onkels in dessen Haus gefunden hat, haben auch wir nicht gewusst. Das bricht jetzt auch über uns herein. Aber es hilft nichts: Aus meiner Sicht als Bischof müssen wir der Wahrheit ins Gesicht schauen. Auch wenn ich die Menschen verstehen kann, die sagen: Hört das denn nie auf? Wir müssen uns dem stellen und uns ehrlich machen. Und dann müssen die Leute entscheiden, ob sie uns vertrauen oder nicht. Das ist wahnsinnig schmerzlich. Aber ich sehe da keinen anderen Weg.
Uns ist auch nach wie vor unverständlich, dass man bei Dillinger angeblich nichts gewusst hat, obwohl der Fall eine solche Dimension hatte. Wie erklären Sie sich etwa, dass sein Neffe so große Mühe hatte, einen Priester zu finden, der seinen Onkel überhaupt beerdigen wollte? Seine These: Sie haben es alle gewusst oder geahnt.
Ich habe mit dem Neffen auch darüber gesprochen. Klar war, dass Dillinger aufgrund seines Fehlverhaltens bis zum Tod von mir mit Maßnahmen belegt war. Er durfte keine Sakramente spenden und keinen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben. Als er starb, war er aber nach wie vor Priester des Bistums Trier. Normalerweise geht dann ein Weihbischof oder Mitglied des Domkapitels zur Beerdigung, um das zu würdigen. Aber das konnten wir nicht machen. Wir konnten ja nicht so tun, als wäre nichts passiert. Und doch ist es ein Akt der Barmherzigkeit, einen Menschen zu begraben. Als Katholik hat er ein Anrecht auf ein ordentliches Begräbnis.
Gehen wir mal zurück in die 70er-Jahre, als Dillinger zum ersten Mal auffällig geworden ist. Später ist er dann ausgerechnet in den Schuldienst versetzt worden, wo er ständig Kontakt zu Jugendlichen hatte. Wie kann das denn sein?
Das ist mir natürlich auch unverständlich. Das ist genau das, was uns erschreckt. Die Maßnahmen, die vor 40, 50 Jahren ergriffen worden sind, waren absolut unzureichend. Da ging es nicht um die Betroffenen, sondern um den guten Ruf der Kirche und des Priesters. Ich stehe selbst auch verständnislos davor, wie man einen solchen Mann ausgerechnet in den Schuldienst zurückversetzen konnte.
Ist das damals nicht irgendwo begründet worden? Gibt es denn keine Aktennotiz?
Es ist Teil der Aufarbeitung, genau das transparent zu machen. Hier reden wir von der Amtszeit von Bischof Stein. Historiker der Universität Trier haben bereits einen Zwischenbericht zu diesen Jahren vorgelegt, weil es auch politisches Interesse gab, weil ein nach Bischof Stein benannter Platz in Trier umbenannt werden sollte. Das geschah aber unter einem gewissen Zeitdruck. Kommission und Forscherteam haben betont, dass es weiterer Forschungen zu Bischof Stein bedarf. Da gehört dann auch der Fall Dillinger hinein. Dann wird auch aufgeklärt, wie es zu diesen Entscheidungen kommen konnte, die uns heute den Atem stocken lassen. Dazu haben die Historiker Zugang zu allen Akten.
Ein ehemaliger Priester des Bistums Trier hat offenbar über Jahrzehnte sexuellen Missbrauch betrieben und diesen fotografisch dokumentiert. Sein Neffe Steffen Dillinger findet die erschütternden Belege und gerät danach selbst in einen Krimi.Die Abgründe des Ehrendomherrn: Priester des Bistums Trier missbrauchte und fotografierte seine Opfer
Die Kommission hat ihre Langzeitstudie auf sechs Jahre ausgelegt. Die ersten anderthalb Jahre sind schon vorbei. Wann soll denn das Projekt fertig sein, das Sie jetzt zusätzlich in Angriff nehmen?
Dazu kann ich noch nichts sagen. Wir brauchen ja erst einmal auch die Personen, die dieses Projekt durchführen sollen. Und täglich kommen neue Informationen hinzu. Jetzt müssen wir sehen, wie uns auch staatlicherseits geholfen werden kann, etwa von Ministerien. Wenn wir das genaue Ausmaß kennen, können wir besser einschätzen, welche Mittel und wie viel Zeit das Projekt braucht.
Besonders viele Diskussionen ranken sich um die Aussage von Herrn Robbers, die Bilder am besten zu verbrennen. Robbers sagt, diese sei so nicht gefallen und beruhe auf einem Missverständnis. Inzwischen wird auch schon sein Rücktritt gefordert. Wie ist denn Ihre persönliche Einschätzung?
Ich schätze Prof. Robbers sehr. Das Gespräch wurde ja aufgezeichnet und dann transkribiert. Ich habe ihn so verstanden, dass er auf die Rechtslage hingewiesen hat und nicht sagte: Verbrennen Sie das! Denn man macht sich ja strafbar, wenn man solches Material besitzt. Man muss es also übergeben. Da vertraue ich ihm voll und ganz. Er hat ja auch schon gesagt, dass es ihm leid tut, wenn das missverstanden worden sein sollte. Ich würde ihm nie unterstellen, dass er nicht an der Aufarbeitung interessiert wäre. Ich sehe deshalb keinerlei Anlass, dass er zurücktritt.
Doch das Bistum Trier wirkt immer wie ein Getriebener. Immer wieder werden Sie von der aktuellen Entwicklung überholt.
Das ist wirklich bitter. Es gibt Dinge, die ans Tageslicht kommen, weil Betroffene mit guten Gründen erst nach Jahren ihr Schweigen brechen. Davon werden auch wir dann überrascht. Als mir Dillingers Neffe geschrieben hat, war mir sofort klar, dass dieser Fall ganz andere Dimensionen offenbart, als uns bisher bewusst war. In der Öffentlichkeit entsteht oft der Eindruck, wir hätten alles gewusst. Haben wir aber nicht. Dann sind wir natürlich reaktiv. Auf der anderen Seite gehen wir auch proaktiv vor. Das, was wir an Informationen und Material haben, wird natürlich auch bearbeitet.
Der Trierer Bischof Stephan Ackermann hält am Sprecher der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum, dem früheren rheinland-pfälzischen Justizminister Gerhard Robbers, fest.Fall Dillinger: Bischof stellt sich hinter Kommissionschef Robbers: „Sehe keinen Anlass für Rücktritt“
Dillingers Neffe hat im Gespräch mit unserer Zeitung angedeutet, dass es im Bistum Trier noch weitere, ähnlich gelagerte Fälle geben soll, die der Kommission auch bekannt sein sollen. Was ist da Ihr konkreter Kenntnisstand?
Weitere Fälle von wiederholtem Missbrauch haben wir tatsächlich. Das ist auch schon im ersten Zwischenbericht der Aufarbeitungskommission dokumentiert. Aber in der Dimension wie im Fall Dillinger ist mir nichts bekannt. Das heißt aber nicht, dass der Kommission nicht Dinge bekannt sind, von denen ich noch nichts weiß. In ihrer Satzung ist festgelegt, dass die Kommission Anlaufstelle für Betroffene ist, die vielleicht gerade nicht mit dem Bischof in Kontakt treten wollen. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Kommission Informationen hat, die ich noch nicht kenne. Zu gegebener Zeit werden von ihr entsprechende Ergebnisse präsentiert werden.
Sie haben es schon angesprochen: Ist das irgendwann mal fertig? Das quält ja alle, die damit zu tun haben. Wann haben wir denn im Bistum Trier den Stand der Erkenntnisse endlich mal erreicht? Können Sie das absehen?
Nein. Die Arbeitszeit der Kommission ist zunächst auf sechs Jahre angelegt. Die Corona-Pandemie hat den Start etwas verzögert. Das, was an Wissen vorliegt und während der Amtszeit der Kommission an Informationen eingeht, wird bearbeitet. In der MHG-Studie von 2018 heißt es, dass die Erkenntnisse erst die Spitze des Eisbergs sind. Seitdem sind weitere Erkenntnisse hinzugekommen. Wir sehen nun mehr von dem Eisberg. Für sehr viele Menschen in unseren Gemeinden ist das nervenzehrend und frustrierend. Wie viel wir in den vergangenen Jahren bereits für die Prävention getan haben, kommt seltener in den Blick. Leider werden wir trotz aller Anstrengungen sexuellen Missbrauch nie hundertprozentig verhindern können. Insofern werden wir, wie die Gesellschaft insgesamt, mit diesem Thema leben müssen.
Sie sprechen das Thema Prävention an. Ein Betroffener hat gegenüber unserer Zeitung erklärt, dass jeder Schüler und jede Betreuerin bei einer Schülerfahrt in den 80er-Jahren über Dillingers Neigungen Bescheid gewusst habe. Aber niemand hat etwas gesagt. Was muss sich im System Kirche ändern, damit so etwas nicht mehr passiert?
Dazu machen wir seit Jahren flächendeckend Schulungen. Wir wollen, dass Kirche und Gemeinden ein sicherer Raum sind. Aus meiner Erfahrung heraus weiß ich, dass unsere Präventionsmaßnahmen für eine viel größere Sensibilität sorgen. Aber es geht auch um Sprachfähigkeit. Denn sensibel waren die Leute früher vielleicht auch schon. Dabei geht es darum, wie ich es ausspreche, wenn ich ein ungutes Gefühl habe, und an welche Menschen ich mich wenden kann. Fachleute haben gesagt, dass noch vor einigen Jahren Kinder im Durchschnitt fünf Erwachsene ansprechen mussten, bis ihnen einer geglaubt hat. Das ist erschreckend. Ich hoffe, dass sich das verändert hat. Ich habe sehr oft von Menschen gehört, die mir gesagt haben: Ich habe etwas Auffälliges bemerkt, aber ich habe geschwiegen, etwa mit Rücksicht auf die Familie. Weil wir als Kirche unter Druck sind und öffentlich beobachtet werden, sind wir etwa in Bischöflichen Schulen und in Kitas schon ein gutes Stück mit entsprechenden Schutzkonzepten vorangekommen. Gerade junge Leute sind heute viel eher bereit zu sagen: Hier stimmt doch irgendwas nicht. Das gilt auch für Mitarbeitende. Wir müssen die Schweigeringe durchbrechen. Aber das ist kein Selbstläufer. Man sollte da auch gesamtgesellschaftlich nicht zu optimistisch sein. Wir müssen an dem Thema dranbleiben.
Lernen angehende Geistliche das jetzt auch im Priesterseminar?
Ja, klar. Aber das war auch schon vor 2010 der Fall.
Nach Gespräch mit Trierer Bischof über Fall Dillinger: So bewerten RZ-Journalisten seine Aussagen
Der Trierer Bischof Stephan Ackermann hat sich am Donnerstag im Gespräch mit RZ-Chefredaketeur Lars Hennemann und Chefreporter Dirk Eberz über den Missbrauchsskandal um Priester Edmund Dillinger geäußert. Im Video ordnen sie seine Aussagen ein:
Zur Person: Bischof Ackermann
Stephan Ackermann hat bereits von 2010 bis Ende September 2022 als Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz in die Abgründe der katholischen Kirche geschaut. Der gebürtige Mayener ist seit 2009 Trierer Bischof. Nach dem Abitur am Kurfürst-Salentin-Gymnasium in Andernach studierte er ab 1981 Katholische Theologie und Philosophie in Trier und seit 1983 an der Päpstlichen Universität Gregoriana. 1987 wurde Ackermann in Rom zum Priester geweiht. 2006 wurde er von Benedikt XVI. zum Weihbischof im Bistum Trier ernannt. Die Bischofsweihe spendete ihm damals sein Vorgänger Reinhard Marx.