Für Experten war Ausmaß des Hochwassers nicht absehbar - Entlastet oder belastet die Bewertung jetzt Verantwortliche?
Staatsanwaltschaft wertet Ahr-Gutachten aus: Entlastet oder belastet die Bewertung jetzt Verantwortliche?
An Brücken im Ahrtal hatte sich in der Flutnacht im Juli 2021 viel Treibgut verfangen und die Wassermassen zusätzlich gestaut – mit verheerenden Folgen, wie das jetzt vorliegende hydrologische Gutachten erläutert. Es liegt der Staatsanwaltschaft Koblenz nun vor. Foto: Boris Rößler/dpa
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Wann war die für 134 Menschen tödliche Flutkatastrophe vom 14./15. Juli 2021 für wen an der Ahr abzusehen? Hätten frühere Warnungen viele Leben retten können? Die Fragen treiben den U-Ausschuss des Landtags um, aber auch die Koblenzer Staatsanwaltschaft.

An Brücken im Ahrtal hatte sich in der Flutnacht im Juli 2021 viel Treibgut verfangen und die Wassermassen zusätzlich gestaut – mit verheerenden Folgen, wie das jetzt vorliegende hydrologische Gutachten erläutert. Es liegt der Staatsanwaltschaft Koblenz nun vor. Foto: Boris Rößler/dpa
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Sie ermittelt seit August 2021 gegen den Ahrweiler Ex-Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und ein weiteres Mitglied des Krisenstabs wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassung. Verschafft ihr jetzt ein neues hydrologisches Gutachten mehr Klarheit? Das lässt sie noch offen, ebenso die Frage, ob es Verantwortliche entlaste.

Den Namen des Sachverständigen hält Leitender Oberstaatsanwalt Harald Kruse geheim, nicht aber ein Fazit der Expertise von 35 Seiten: Das „Ereignis von hoher Komplexität“ war mit seiner ganzen Dramatik „im Vorfeld nicht abzusehen“. Nicht allein die extreme Abflussgröße habe verheerende Zerstörungen ausgelöst. Große Mengen von mitgerissenem Treibgut hätten flussabwärts an vielen Brücken Wasser zusätzlich gestaut (Verklausungen). Da der Zufluss aus Bächen räumlich und zeitlich unterschiedlich war, hätten sich die Wassermengen nur teilweise überlagert. Dies erkläre schwankende Wasserstände. Lokal kamen „schwallartige Wellen“ hinzu, wenn Verklausungen aufbrachen. Kurz: Der Experte spreche von einer in Deutschland seltenen Sturzflut, wie Kruse sagt.

Flut wie 2016 früh zu erwarten

Vorhersagen des Deutschen Wetterdienstes sowie weiterer Institutionen haben aus Gutachtersicht schon drei Tage zuvor „nahe, teilweise sogar deutlich über den tatsächlich gefallenen Niederschlagsmengen gelegen“. Aber die Dynamik des Regenbandes habe sich erst kurzfristig genauer verorten lassen, zitiert Kruse und teilt auch mit: „Selbst wenn sich die tatsächlich gefallene Niederschlagsmenge nur im unteren Bereich des durch den Deutschen Wetterdienst prognostizierten Spektrums bewegt hätte, wäre dennoch ein Hochwasser der Größenordnung des 2. Juni 2016 zu erwarten gewesen.“

Die konkreten Pegelprognosen haben für den Experten dann am 14. Juli 2021 um 11.22 Uhr angedeutet, dass ein Hochwasser wie im Juni 2016 zu erwarten war, bei dem etwa 800 Häuser beschädigt wurden. Konkrete Hochwasserwarnungen und durch das Landesamt für Umwelt prognostizierte Pegelstände, wonach ein Hochwasser zu befürchten ist, das seltener als 50 Jahre anschwillt, habe es erst am 14. Juli um 17.17 Uhr gegeben. „Ein realistischere Prognose der erwarteten Pegelstände sei jedoch erst ab 20.22 Uhr und damit erst nach Eintritt des Hochwassers am Oberlauf der Ahr erfolgt“, so Kruse weiter. Die tödliche Flut habe Bad Neuenahr zwischen 23 Uhr und 23.30 Uhr und Sinzig ab 2 Uhr erreicht.

Nach Angaben des Sachverständigen ließen prognostizierte Pegelstände ab 14.22 Uhr ein größeres Hochwasser als 2016 befürchten, ab 20.22 Uhr dann aber noch deutlich mehr Wassermassen als 2016. Aber Kruse hält auch fest: Das tatsächliche Hochwassergeschehen habe sich „frühestens um 20.22 Uhr prognostizieren lassen“.

Von dem Gutachten fühlt sich Kruse in einem Punkt bestätigt: Bei der Flut habe es sich um ein Geschehen gehandelt, „das mit dem Begriff Hochwasser nur unzureichend beschrieben ist“. Dies werde bei der Frage, „wie mit im Vorfeld der Katastrophe ergangenen Warnungen umgegangen worden ist, zu berücksichtigen sein“. Ansonsten müsse es noch näher ausgewertet werden – auch wegen der strafrechtlichen Frage, ob frühere Warnungen denn Todesfälle verhindert hätten. Dabei werde routinemäßig geprüft, ob Anlass besteht, gegen weitere Personen Ermittlungen einzuleiten. „Bisher ist dies nicht der Fall“, stellt Kruse klar.

Dauer der Ermittlungen unklar

Die Polizei arbeite derzeit an ihrem Abschlussbericht. Der werde dann ebenso ausgewertet wie mehr als 200 Zeugenaussagen, die Unterlagen aus dem U-Ausschuss und eben das neue Gutachten. Nicht auszuschließen sei, dass nach der Sichtung des umfangreichen Materials noch einzelne Nachermittlungen notwendig werden. „Bedauerlicherweise“ könne er nicht sagen, wie lange dies noch dauere. Aber man arbeite mit Hochdruck. Für die Beschuldigten gelte weiter die Unschuldsvermutung.

Justizminister Herbert Mertin (FDP) hat früh den Rechtsausschuss des Landtags über Kruses Bericht informiert. Die Abgeordneten reagieren wortlos darauf, als sie durch die Tagesordnung galoppieren. Die CDU-Anfrage zu den Ermittlungen wäre wohl ohne Mertins Intervention auch bei Punkten gelandet, die er nur schriftlich beantworten soll. Gut möglich ist aber, dass das Gutachten im politisch aufgeladenen U-Ausschuss noch eine Rolle spielt – stets mit Fragen, wer hat wann was gewusst und hätte handeln müssen – womöglich noch während der Landtagssitzung am 14. Juli.

Die damalige Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) ließ damals um 16.43 Uhr eine Pressemitteilung verschicken, wonach „kein Extremhochwasser“ drohe. Ihr Staatssekretär Erwin Manz (Grüne) ging bereits um 18.09 Uhr intern von einem „Extremereignis“ aus, weil „ein Campingplatz aus der Luft evakuiert“ wurde. Eine neue Pressemeldung hielt er deshalb aber nicht für notwendig. Um 18.44 Uhr ließ die damalige Behördenleiterin des Landesamts für Umwelt, Sabine Riewenherm, per interner E-Mail wissen: „Hier bahnt sich eine Katastrophe an.“ Wen erreichte aber welche Warnung? Diese Frage dürfte die Gemüter wieder erhitzen, wenn demnächst Manz und Innenminister Roger Lewentz (SPD) erneut vor dem U-Ausschuss erscheinen müssen.

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