Trier
Sonderermittler im Fall Dillinger legen zweiten Zwischenbericht vor: Spur führt in den Westerwald
Ein Freund Steffen Dillingers trägt eine Kiste mit Schriftstücken des Missbrauchspriesters Edmund Dillinger aus dem Haus. Nach dem Tod seines Onkels Edmund Dillingers im November 2022 hat Steffen Dillinger in dessen Haus tausende Bilder entdeckt, die den sexuellen Missbrauch an jungen Menschen dokumentieren.
Jens Weber

Die Sonderermittler im Fall des unter vielfachen Missbrauchsverdachts stehenden verstorbenen Priesters Edmund Dillinger haben am Mittwoch in Trier den zweiten Zwischenbericht zu ihrer Arbeit vorgestellt. Darin zeichnen sie ein eindeutiges Bild und bestätigen maßgebliche Teile der Recherche unserer Zeitung, die im April dieses Jahres den Fall ans Licht gebracht hatte: Dillinger war nach Lage der Dinge ein auffälliger Serientäter.

Ein Freund Steffen Dillingers trägt eine Kiste mit Schriftstücken des Missbrauchspriesters Edmund Dillinger aus dem Haus. Nach dem Tod seines Onkels Edmund Dillingers im November 2022 hat Steffen Dillinger in dessen Haus tausende Bilder entdeckt, die den sexuellen Missbrauch an jungen Menschen dokumentieren.
Jens Weber

Er war ein über einen längeren Zeitraum aktiver, an mehreren Orten auffälliger Serientäter, der zudem seine Neigungen auf Tausenden von Fotos dokumentierte.

Auch finden sich im Zwischenbericht erstmals – aus Gründen des Opferschutzes gekürzte und anonymisierte – Zeugenaussagen von mutmaßlichen Opfern Dillingers, die Hinweise auf einen ganzen Täterring geben. Zur Rolle des Bistums Trier, in dessen Diensten der 2022 verstorbene Dillinger stand, findet der Zwischenbericht ebenfalls klare Worte: Zwar müsse eine endgültige Bewertung dem Abschlussbericht vorbehalten bleiben, aber, so heißt es im Zwischenbericht, die (2012 wegen Verjährung eingestellten, Anm. d. Red.) Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Trier gegen Dillinger wären „aus heutiger Sicht erfolgversprechender gewesen als die tatsächlich angestellten“.

Gerhard Robbers, Leiter der Missbrauchskommission, (links) mit Sonderermittler Jürgen Brauer  während der Pressekonferenz am Mittwoch, 13. Dezember 2023.
Jens Weber

Die heutige Aufklärungsarbeit wird durch die Vernichtung großer Teile des in Dillingers Haus im saarländischen Friedrichsthal sichergestellten Beweismaterials durch die Saarbrücker Staatsanwaltschaft (wir berichteten) massiv erschwert. Auch deshalb hätten bislang trotz aller Indizien und Aussagen weder eine konkrete, noch nicht verjährte Tat, noch ein bestimmter, noch lebender Täter ermittelt werden können. Die Sonderermittler Jürgen Brauer und Ingo Hromada führen im Zwischenbericht mehrfach Klage darüber und erheben sogar schwere Vorwürfe gegen die Saarbrücker Behörden.

Entscheidendes Material wurde vernichtet

„Die Vernichtung wiegt … sehr schwer. Dass die Entscheidung über unser in den Akten befindliches Einsichtsgesuch vermutlich bewusst bis nach der Vernichtung der Asservate zurückgestellt wurde, stellt einen gravierenden, nicht nachvollziehbaren und leider auch nicht mehr zu behebenden Fehler dar.“ Vor allem der Abgleich mit den im Haus Dillingers aufgefundenen Notizbüchern, die er von 1967 bis zu Beginn des neuen Jahrtausends akribisch geführt hatte und die man hatte sicherstellen können, hätte „losgelöst von nicht abzuschätzenden neuen Erkenntnissen einen Abgleich mit den Angaben von Zeitzeugen und Betroffenen ermöglicht“. Lediglich zwei Kalender aus den Jahren 2013 und 2016 seien erhalten geblieben und ermöglichten einige Rückschlüsse.

Und somit gleicht die Arbeit der Ermittler einem Puzzlespiel, das sich allerdings seit der Vorstellung des ersten Zwischenberichts trotz aller Widrigkeiten deutlich verdichtet hat. Insgesamt hätten die ermittelnden Behörden etwa 4500 Dias, Fotos und Postkarten sowie einige Dutzend kommerzielle Pornofilme aus Dillingers Nachlass gesichtet. Die hohe Zahl erkläre sich daraus, dass viele Bilder quasi seriell gefertigt worden seien. Zeitlich seien die Bilder präzise einzuordnen, von Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende. Schon die frühen Aufnahmen deuteten eindeutig auf eine „homophil-päderastische“ Neigung Dillingers hin.

Steffen Dillinger steht hinter einer Kerze mit dem Bild des Missbrauchspriesters Edmund Dillinger.
Jens Weber

Sie seien in Sportstätten oder Jugendherbergen entstanden und zeigten spärlich bekleidete männliche Jugendliche, die zum Teil gezielt im Genitalbereich fotografiert worden seien. Andere Fotos zeigten Dillinger selbst, wie er gezielt diese jungen Menschen berühre. Schon deshalb seien 1964 erstmals Eltern wegen Dillinger besorgt gewesen und hätten dieser Besorgnis auch Ausdruck verliehen. Sexuelle Handlungen würden auf keinem der Fotos dargestellt. Einige wenige Fotos zeigten allerdings nackte junge Männer, ein einziges den unbekleideten Dillinger selbst.

Tatorte auch im Ausland

Weitere Fotos – zum Teil erneut mit Nacktaufnahmen – seien in Afrika, Indien und Thailand entstanden. Zu den internationalen Aktivitäten Dillingers, der nach ersten belegbaren Vorwürfen gegen ihn 1971 vom Bistum Trier ins Bistum Köln in den dortigen Schuldienst überstellt worden war, wollen die Ermittler noch weitere Untersuchungen anstellen. Dillinger hatte nach seiner Versetzung, zu deren Gründen das Bistum damals trotz der bekannten Verfehlungen des Priesters Stillschweigen bewahrt hatte, eine Hilfsorganisation für Afrika gegründet und war ferner als Seelsorger für den Dachverband katholischer Studentenverbindungen (CV) tätig.

Ob er diese Verbindung als Tarnorganisation und Geldbeschaffungsmöglichkeit genutzt hat, um im damals relativ sicheren Ausland auf Reisen seinen sexuellen Neigungen nachgehen zu können, soll noch Gegenstand der weiteren Betrachtung sein. Die Ermittlungen gestalten sich allerdings auch hier schwierig. Bislang habe man, so die Ermittler, mit 28 Personen sprechen können. Nach Informationen unserer Zeitung starb Edmund Dillinger trotz der prekären Umstände seiner letzten Lebensjahre als durchaus wohlhabender Mann, der ein nennenswertes Geldvermögen hinterließ.

Steffen Dillinger sitzt in einem Zimmer im Haus seines verstorbenen Onkels und durchsucht bei der Entsorgung Unterlagen seines Onkels.
Jens Weber

So sind es bislang aber die direkten Gespräche mit Betroffenen, die die Ermittler am weitesten gebracht haben und die ebenso klarsten wie erschütterndsten Einblicke in den Fall Dillinger ermöglichen. Dies gilt zunächst für den bereits hinlänglich bekannten und berichteten Vorfall auf einer Rom-Wallfahrt im Jahr 1970, während der sich Dillinger an einem mitreisenden Jugendlichen verging.

Betroffene gaben wichtige Hinweise

Der Betroffene, der heute in der Nähe von Trier lebt, habe, so heißt es im Bericht, den Vorfall bestätigt und ein Foto, das ihn als spärlich bekleideten Teilnehmer der Reise zeige, als echt bestätigt. Über diesen Vorfall hinaus hatten sich in den vergangenen Monaten immer wieder weitere Betroffene oder Mitwisser auch an unsere Zeitung gewandt. Die Redaktion hatte in solchen Fällen stets empfohlen, sich an die Sonderermittler zu wenden und empfiehlt dies weiterhin. Diese Entscheidung müssen die Betroffenen jedoch selbst fällen, die Redaktion darf ihre Kontakte nicht von sich aus offenlegen.

Insgesamt, so Brauer und Hromada, seien mittlerweile neun Betroffene bekannt. Mit sieben habe man Kontakt gehabt. Sie berichten unter anderem von einem Vorfall, der sich 1969 in Tunesien ereignet hat. Dort habe, so die Schilderung des Betroffenen, Dillinger mit drei Jugendlichen in einem Zelt übernachtet und sich nachts auf ihn gelegt. Es sei ihm gelungen, sich zu befreien. Der Mann führte gegenüber den Ermittlern ferner aus, dass er schon zu früheren Zeiten in Dillingers damaliger Wohnung in Hermeskeil übernachtet habe. Dort habe sich Dillinger ihm und mindestens einem weiteren Jungen sexuell zu nähern versucht. „Er war als Pfarrer eine Respektperson.“ Er habe die Tragweite des Geschehenen, so der Betroffene, erst später erfasst.

Steffen Dillinger bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des zweiten Zwischenberichts der Sonderermittler im Fall seines unter vielfachen Missbrauchsverdachts stehenden Onkels.
Jens Weber

Noch drastischer ist die Schilderung eines im Bericht als „Sonderfall S“ betitelten Mannes. Er sei, so habe er den Ermittlern telefonisch geschildert, Anfang der 70er Jahre zunächst von einem anderen Priester missbraucht worden, der ihn dann an Dillinger „weitergegeben“ habe. Dillinger habe ihn dann mehrfach massiv missbraucht und dann „an andere Peiniger weitergereicht“. Auch die Erfahrungen mit diesen Peinigern seien schlimm gewesen. S. vergleicht sie mit der „italienischen Mafia“. Er wisse von weiteren Opfern im Alter von damals 14 bis 17 Jahren.

Spur führt in den Westerwald

Der Kontakt zu S., so Brauer und Hromada, sei schwierig. Der Mann lege größten Wert auf Diskretion. Was nicht im Bericht steht: S., der heute kurz vor seinem 70. Lebensjahr steht und nach Informationen unserer Zeitung mittlerweile im Westerwaldkreis lebt, wurde nach eigener Schilderung just zu der Zeit im Bistum Köln von Dillinger und anderen misshandelt, nach der Dillinger vom Bistum Trier ohne Angaben von Gründen versetzt worden war. Die Vorfälle hätten teilweise schlimme Verletzungen nach sich gezogen, die im Krankenhaus hätten behandelt werden müssen. Zu Hause sei er dennoch auf Unverständnis gestoßen. Im Gegensatz zu zwei seiner Brüder habe er „aber wenigstens überlebt“, wie er in vertraulichen Gesprächen schildert. Seine Brüder hätten die Erlebnisse nicht verkraftet und sich das Leben genommen, einer nach mehrmaligen Versuchen.

S. ist es auch, der wie andere Zeugen oder Betroffene auch in Gesprächen mit unserer Zeitung das Muster nachzeichnet, mit dem Dillinger und mögliche Mittäter offenbar operierten. Man habe gezielt junge Messdiener oder andere der Kirche zugewandte Jungen gesucht und diese als „Missionare“ zu Ausflügen oder Treffen eingeladen. Dies deckt sich mit dem Zwischenbericht der Ermittler, in dem vom „Kreis Junger Missionare (KIM)“ die Rede ist. Einträge mit diesem Kürzel fanden sich ferner auch in Dillingers Notizbüchern. „Man hat die Jungen herumgereicht, Dillinger war oft der Fahrer“, sagen S. und andere. Die Vorfälle sollen sich in den Bistümern Trier, Köln und Aachen abgespielt haben. Und: „Wenn jemand zu alt war, hat man sich neue Opfer gesucht.“

Der zeitliche Schwerpunkt dieses so geschilderten Geschehens lag offenbar in den 70er-Jahren. Ob sich dies weiter erhärten lässt oder bereits hat erhärten lassen, ist dem Zwischenbericht nicht zu entnehmen. Die Opfer schweigen aus Scham und psychischer Verletztheit und reden, wenn überhaupt, nur unter größten Verschwiegenheitsbedingungen. Insgesamt, so heißt es in dem Bericht, habe man sechs Interviews mit Betroffenen und weitere 26 mit Zeitzeugen geführt. Möglicherweise zeichnet der Abschlussbericht ein noch vollständigeres Bild. Er soll – „wenn sich keine unerwarteten oder neuen Rechercheansätze auftun“ – im ersten Halbjahr 2024 vorgelegt werden.

„Fakten sind erschreckend“

Die im zweiten Bericht dargestellten Tatsachen seien „erschreckend und belastend“, teilte die unabhängige Aufarbeitungskommission im Bistum Trier am Mittwoch mit. Dillingers Taten erstreckten „sich über viele Jahrzehnte und viele Kontinente – oft unter Ausnutzung seiner ehrenamtlichen und vor allem kirchlichen Kontakte“.

Das Ausmaß der Fälle sei „bedrückend“. Die Kommission kritisierte die „weitgehende Untätigkeit nicht nur des Bistums“ in dem Fall. „Das Nichtstun und Wegsehen so vieler schmerzt und ärgert.“

Steffen Dillinger, der Neffe des ehemaligen Priesters, sagte am Mittwoch zur bisherigen Aufarbeitung: „Es ist jetzt zum ersten Mal der Punkt, an dem ich sehe, dass man offensichtlich ernsthaft an die Sache ran geht. Das war für mich vorher nie erkennbar, an keiner Stelle. Jetzt ist auf jeden Fall irgendwie Fleisch am Knochen.“

Schleppend verlaufen hingegen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Saarbrücken. Mitte Juli hatte die Behörde ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wegen des Anfangsverdachts des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen eingeleitet. Ziel ist es, Zeugen zu finden, die Angaben zu etwaigen noch lebenden Tätern und noch nicht verjährten Straftaten in dem Komplex machen können. „Bislang wurden weder eine konkrete Tat noch ein bestimmter Täter ermittelt“, teilte der Sprecher der Staatsanwaltschaft der Deutschen Presse-Agentur mit.

Die Ermittlungen seien aber noch nicht abgeschlossen und würden in verschiedene Richtungen geführt. Bisher wurden nach Angaben des Sprechers umfangreiche Unterlagen ausgewertet und Zeugen gehört.

Die Sonderermittler des Bistums sagten derweil, man hoffe, dass sich weitere Opfer bei ihnen melden. Zudem appelliere man an Personen und Institutionen, an die sich Betroffene gewandt haben, die Arbeit der Kommission zu unterstützen. „Gelingt es nicht, die an verschiedenen Stellen vorliegenden Erkenntnisse zusammenzuführen, besteht die Gefahr, dass die Aufarbeitung insgesamt Stückwerk bleibt“, hieß es von den Autoren.

„Wir sind enttäuscht davon, dass der Zugang etwa zu Akten in anderen Diözesen so schwierig ist, wie es ist“, sagte der Vorsitzende der Kommission, Gerhard Robbers. Im Bemühen um Aufklärung sei die Zusammenarbeit mit außerdiözesanen Stellen „ausbaufähig“. Man appelliere an die Bistumsverantwortlichen, diese Unterstützung „mit Nachdruck“ einzufordern. dpa

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