Ein scharfes Küchenmesser hat Paula mit ihren 19 Jahren noch nie in der Hand gehabt. Sie soll Schnittlauch schneiden – wie das geht, erklärt ihr Gastronom und Starkoch Tim Mälzer. Dann läuft die Klinge, etwas ungelenk zwar, doch der Schnittlauch fällt in Röllchen. Dieser Moment ist nur eine kurze Sequenz aus der Dokuserie „Zum Schwarzwälder Hirsch – eine besondere Küchencrew“, aber er ist vielsagend.
Paula aus Bochum ist eine von 13 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Dokuserie, die kürzlich auf Vox ausgestrahlt wurde und weiterhin in der Mediathek von RTL+ zu sehen ist. Paula und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt. Für die Doku verlassen sie für drei Monate ihre behütete Umgebung, um in diesem Zeitraum zu so viel Selbstständigkeit zu gelangen, um möglichst autark ein Restaurant zu leiten: Sie sollen Küche und Service schmeißen und so zeigen, wozu Menschen mit Behinderung fähig sein können.
Tim Mälzer und André Dietz als Mentoren
Um sie auf diese Aufgabe vorzubereiten, stand ihnen während der Dreharbeiten im Frühling in Kirchzarten im Schwarzwald Tim Mälzer mit seinen Qualitäten als Koch und Mentor zur Seite. Bekanntermaßen weiß er auch vor der Kamera zu unterhalten und ist für ungewöhnliche TV-Formate immer zu haben. Vor der Kamera fühlt sich auch André Dietz wohl, der aus Koblenz stammende und in Bergisch Gladbach lebende Schauspieler ist unter anderem bekannt aus TV-Serien „Alles was zählt“, er spielte Rollen in diversen weiteren TV-Serien wie „Tatort“ und einigen Kinofilmen.
Allerdings war es während der Dreharbeiten für „Zum Schwarzwälder Hirsch“ nicht gefragt zu schauspielern oder filmisch zu arbeiten. Es ging darum, 13 Menschen mit Behinderung über Wochen hinweg auf einem Weg zu mehr Selbstständigkeit zu begleiten, zu ermuntern und zu bestärken.
Ich glaube, dass wir einen großen Schritt getan haben, wenn es darum geht, Schranken im Kopf abzubauen.
Eine Herausforderung. Ein Abenteuer für alle – auch für Mälzer und Dietz, wie er unserer Zeitung erzählt: „Die Grundidee zu diesem Format war wirklich der komplette Wahnsinn, weil wir nicht wussten, ob es klappt, die Potenziale von den Teilnehmern so hervorzuholen, dass wir sie völlig autark arbeiten lassen können.“ Zumal Paula und alle anderen dieser besonderen Crew seitens der Behörden bereits für den ersten Arbeitsmarkt als untauglich abgestempelt waren. Endstation Behindertenwerkstatt, was vielfach schlicht nicht den Fähigkeiten von Menschen mit Down-Syndrom gerecht werde, wie André Dietz sagt.
In der Doku zeigt sich tatsächlich, wie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufblühen: „Da ist eine Menge hervorgekommen. Wir haben ihnen etwas zugetraut und sie sich ausprobieren lassen“, meint Dietz. Und sei es, erstmals mit einem Messer Schnittlauch zu schneiden.
Doch auch Dietz war zunächst unsicher, was den Umgang mit den 13 Teilnehmenden der Doku angeht: „Ich hatte Berührungsängste“, gibt er zu. Mit Menschen mit Trisomie 21 hatte der 47-Jährige bislang wenig Kontakt. Für drei Monate lang Mentor und Vertrauter von beeinträchtigten Frauen und Männern zu sein – davor hatte Dietz Respekt. „Und das, obwohl ich selbst eine Tochter mit Behinderung habe“, sagt er.
Mari, das zweitälteste von vier Kindern, wurde 2013 mit einem seltenen Gendefekt geboren, dem Angelman-Syndrom. Betroffene sind in der körperlichen und geistigen Entwicklung stark verzögert. Mari beispielsweise kann nicht sprechen, sie lautiert lediglich und hat unter anderem eine starke Epilepsie. Aber sie kann entgegen allen Prognosen „laufen, tanzen und hüpfen wie eine Eins“, erzählt Dietz.
Über das Leben als Familie mit einem Kind mit schwerer Beeinträchtigung haben er und seine Frau Shari zwei Bücher veröffentlicht, den Bestseller „Alles Liebe – Familienleben mit einem Gendefekt“ und das Kinderbuch „Ich bin Mari“. Die Bücher und die Tatsache, dass das Ehepaar die Behinderung der kleinen Tochter öffentlich thematisiert, die Tatsache, dass Dietz erfahren darin ist, auf Menschen mit Behinderung einzugehen und nur zu gut weiß, dass Inklusion noch längst nicht gelebte Praxis in Deutschland ist – all dies hat dazu beigetragen, dass er für die Doku angefragt wurde. Viermal übrigens, die ersten drei Male hatte er abgesagt.
Dem Thema Inklusion eine Stimme geben
Für viele Wochen für Dreharbeiten im Schwarzwald zuzusagen, Hunderte Kilometer weg von Frau und vier kleinen Kindern, das wollte André Dietz nicht, gerade weil Tochter Mari besondere Bedürfnisse hat. Letztlich fanden sich aber Lösungen, Dietz sagte zu – zumal er inhaltlich sowieso angetan war von der Dokumentation, ging es doch um das Thema Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Was ihm wichtig war: Das Format war von Anfang an darauf ausgelegt, einfühlsam und respektvoll über das Leben mit Trisomie 21 zu erzählen, bei einem „Reality-TV-Vorführformat“ wäre er nicht mit im Boot gewesen. So aber, nach intensiven Dreharbeiten im Schwarzwald von März bis Mai und der jetzt erfolgten Ausstrahlung der dreiteiligen Doku, ist André Dietz mehr als zufrieden.
Die Rückmeldungen auf allen Kanälen – bei ihm wie auch bei Tim Mälzer – in den vergangenen Tagen seien unglaublich und zahlreich. Tenor: Die Doku habe dem Thema Inklusion Aufwind gegeben, Menschen mit Behinderung zu einem Forum verholfen – und das ganz ohne „Betroffenheitsfernsehen“ wie Dietz sagt. „Ich glaube, dass wir einen großen Schritt getan haben, wenn es darum geht, Schranken im Kopf abzubauen“, meint er und spricht auch aus eigenen Erfahrungen mit Tochter Mari, wenn etwa Menschen auf dem Spielplatz nur glotzen, statt mit Maris Eltern ins Gespräch zu kommen.
Mit den meisten Mitgliedern der Küchencrew hat André Dietz noch immer Kontakt – „jeden Morgen haben ich Nachrichten auf dem Handy“. Ein paar von ihnen haben im Nachgang zu den Dreharbeiten Jobs oder Praktikumsstellen in gastronomischen Betrieben angeboten bekommen – einige wiederum haben entschieden, dass die Gastronomie nichts für sie ist. Einer der Teilnehmer, Tanino, arbeitet wieder in einer Werkstatt. „Das finde ich schade. Aber wir werden niemanden hängen lassen, wir verfolgen, wie es für sie alle weitergeht. Wer weiß, vielleicht gibt es demnächst eine vierte Folge, was aus ihnen geworden ist.“