Christian Lindner, der ehemalige Bundesfinanzminister, der am Wahlabend im Februar seinen Abschied aus der aktiven Politik verkündete, steht an diesem Donnerstag im März am Rednerpult im gut gefüllten Plenarsaal unter der Reichstagskuppel und fühlt sich dabei „im politischen Niemandsland zwischen altem und neuem Parlament“. Der Liberale wird gleich eine bemerkenswerte Rede halten, in der er den Kanzlerkandidaten der Union, Friedrich Merz, weder mit Kritik noch mit Spott verschont. Eine Rede auf einem „Geisterschiff“, wie ein Parlamentskorrespondent unserer Zeitung die Zusammenkunft des abgewählten Bundestags bezeichnet.
414 Stühle könnten die Parlamentarier der abgewählten Ampel-Regierung an diesem Tag, knapp drei Wochen nach der Wahl noch besetzen. Weniger als die Hälfte werden es im neuen Bundestag sein. Die SPD ist von 207 auf 120 Mandate geschrumpft, die Grünen von 117 auf 85, die 90 FDP-Abgeordneten sind komplett raus. Zahlen, die verdeutlichen, wie merkwürdig diese Zusammenkunft des alten Parlaments ist. Denn die Abgeordneten treffen sich nicht zu einem sentimentalen Abschiedsumtrunk, sondern sollen nicht weniger, als das Grundgesetz ändern und damit den Weg zu gigantischen Neuverschuldungspaketen mit einem Gesamtvolumen von rund einer Billion Euro und damit auch zu einer neuen schwarz-roten Bundesregierung mit einem Kanzler Merz an der Spitze ebnen.

Nicht nur das schwierige öffentliche Ringen von CDU und SPD um die notwendigen Stimmen der Grünen in den vergangenen Tagen zeigt, wie abstrus diese Versuchsanordnung im Grunde ist. Nicht nur die 117 Abgeordneten der alten Grünen Ampel-Fraktion sollen eine Regierung in den Sattel heben, von der sie definitiv kein Teil sein werden. Dasselbe trifft unter anderem auch auf mehr als 80 SPD-Abgeordnete zu, die in diesen Tagen ihre Abgeordnetenbüros räumen und sich auf ihr Leben nach dem Bundestagsmandat vorbereiten. Selten hatte der Satz aus Artikel 38 des Grundgesetzes, die Abgeordneten seien „nur ihrem Gewissen unterworfen“, eine dermaßen zutreffende Bedeutung.
Einen von denen, auf die es ankommt bei der Abstimmung am kommenden Dienstag und auf den dieser Satz voll zutrifft, ist Joe Weingarten. Der SPD-Abgeordnete aus dem Wahlkreis Bad Kreuznach wird dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören. Die Finanzausstattung für die Koalition in Anbahnung soll und muss er aber mitbesorgen. Wie fühlt sich das an?
Er habe die Debatte als „schwierig“ empfunden, sagt der Sozialdemokrat. Die CDU habe den Wahlkampf erfolgreich gestaltet, mit Aussagen, die sich nun schon als „von der Wahrheit weit entfernt“ zeigten. Dass sich Friedrich Merz „mit Unwahrheiten an die Kanzlermacht schleiche“, das sorge schon für „große Verärgerung“ auch unter den mehr als 80 SPD-Abgeordneten, die das Wahlergebnis ihr Mandat gekostet habe. „Auch bei mir selbst“, gibt Weingarten zu.

Dennoch werde er für die Pläne von CDU und SPD stimmen. Man müsse Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Weingarten: „In der Sache sind die Vorhaben ja richtig, und für vieles davon haben wir als SPD auch Wahlkampf gemacht. Ich kann eine Entscheidung über die Zukunft unseres Landes nicht von persönlicher Verärgerung abhängig machen.“ Da das notwendige Stimmpolster für eine Zweidrittel-Mehrheit von Union, SPD und Grünen nur rund 30 Stimmen betrage, bleibt eine Prognose über den Ausgang der Abstimmung schwierig. Weingarten: „Ein paar sind krank, ein paar fehlen, das ist immer so, deshalb wird das durchaus auch noch mal spannend werden.“
„In dem Ausmaß hat es das nach meiner Kenntnis noch nicht gegeben.“
Politikwissenschaftler Uwe Jun
Uwe Jun bezeichnet die ganze Situation als „Novum, geschuldet einer besonderen Situation“: „In dem Ausmaß hat es das nach meiner Kenntnis noch nicht gegeben“, sagt der renommierte Politikwissenschaftler der Uni Trier im Gespräch mit unserer Zeitung. „Dass es diese Situation nun gibt, ist machtstrategisch gut erklärbar: Union und SPD brauchen in kurzer Zeit eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, und da erscheint es einfacher, sich nur mit einer Partei, den Grünen, einigen zu müssen als mit zweien. Zumal die Linke voraussichtlich die neuen Schulden für die Verteidigung nicht mittragen würde. Da sind die Signale eindeutig“, analysiert Jun. Gelinge es nun, die entsprechenden Beschlüsse zu treffen, gebe das den Koalitionsverhandlungen Sicherheit: „Eine Sicherheit, die beide Seiten brauchen.“
Jun findet aber auch, dass man dieses Vorgehen der Bald-Koalitionäre kritisch hinterfragen kann: „Denn man lässt das, was der Wähler entschieden hat, gegenüber einer machtstrategischen Notwendigkeit in den Hintergrund treten.“

Ebenfalls mit im Parlament bei Debatten und Abstimmungen über Sondervermögen für Verteidigung und Infrastruktur sitzt Carina Konrad. Auch die FDP-Abgeordnete aus dem Hunsrück, Platz 1 auf der FDP-Landesliste bei der Bundestagswahl, hat nach dem Scheitern ihrer Partei an der 5-Prozent-Hürde ihr Mandat verloren. Die Debatte habe eines deutlich gemacht, schildert Carina Konrad ihre persönlichen Eindrücke aus der Redeschlacht im Parlament: „Die CDU bricht ihre Wahlversprechen bereits nach wenigen Tagen. Friedrich Merz wollte ein starker Kanzler sein, doch was wir gesehen haben, war das Gegenteil.“
Die Rückkehr in den Plenarsaal, in dem die FDP in der kommenden Legislaturperiode keinen Platz haben wird, beschreibt die Liberale als „einen Moment der Klarheit“. Als wehmütiges „Klassentreffen“ habe sie die letzte Zusammenkunft ihrer Fraktion – in der jetzt jeder der 90 Parlamentarier individuell dafür verantwortlich ist, sein Büro zu räumen und sich neu aufzustellen – keinesfalls empfunden, vielmehr als „klaren Auftrag“. Die FDP müsse zurück in den Bundestag. Konrad: „Deutschland ist ärmer geworden, weil die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten ist.“
So ganz normal ist das Arbeiten für die Abgeordneten im von Lindner so bezeichneten „Niemandsland“ natürlich nicht. Zwar wurde die Sitzordnung, also die Stuhlreihen im Plenarsaal, noch nicht für den neuen Bundestag umgebaut, aber zahlreiche Abgeordneten-Büros auf den Fluren des Bundestages sind schon ausgeräumt, viele Mitarbeiter sind bereits weg, und manche Abgeordnete auf den Fluren reden in den Pausen über gekündigte Wohnungen in Berlin, Umzüge und neue berufliche Orientierungen. „Ich bedauere den Abschied, weil ich diese Arbeit wirklich sehr gerne gemacht habe“, sagt Joe Weingarten. Aber, so fügt er an: „Man muss das wissen, wenn man ein solches Amt anfängt, dass es eines Tages auch abrupt enden kann.“
Wissing hält Bundestag-Sondersitzungen für rechtens
Bundesjustizminister Volker Wissing hält die Klagen gegen die beiden Sondersitzungen des Bundestags mit alten Mehrheitsverhältnissen nicht für aussichtsreich. „Wir haben einen voll funktionstüchtigen Bundestag und das Grundgesetz kennt keine Vakanz in der Gesetzgebung“, sagte der parteilose Politiker der Deutschen Presse-Agentur. „Es ist klar geregelt, dass die Legislaturperiode nicht mit dem Wahltag endet, sondern erst mit der Konstituierung des neuen Bundestags.“ Solange die in der Verfassung vorgesehene Frist laufe, sei der bisherige Bundestag voll handlungsfähig und mit allen Legislativrechten (Gesetzgebung) ausgestattet, betonte Wissing. „Das heißt, auch Verfassungsänderungen sind möglich und Entscheidungen mit der verfassungsändernden Mehrheit“, so der ehemalige FDP-Politiker. „Das halte ich für sehr klar.“ dpa