Die psychosoziale Hotline ist für die Betroffenen der Flutkatastrophe sehr zentral. Wie lief das Ganze an?
Dieses System existiert nicht erst seit der Flutkatastrophe, sondern wurde in Zusammenarbeit mit dem Bundesjustizministerium eingerichtet, eigentlich zur Aufarbeitung von Terroranschlägen. Die Hotline konnte daher sehr, sehr früh geschaltet werden. Ich bin in den frühen Morgenstunden über die Flutkatastrophe unterrichtet worden, die Ministerpräsidentin hat um 10 Uhr eine Regierungserklärung im Landtag abgegeben – und da stand die Hotline schon, seit 9 Uhr waren wir bereit.
Wer nimmt die Anrufe an?
Auf der anderen Seite sitzt geschultes Personal des Zentrums für Trauma und Konfliktmanagement, das mit solchen Anrufen auch umzugehen weiß. Die vermitteln nicht nur, sondern sie sind der erste Ansprechpartner für die Betroffenen. Diese Gespräche können bis weit über eine Stunde dauern und leisten eine erste psychosoziale Beratung, aber die Mitarbeiter erkennen auch, wo Grenzen sind. Dann vermitteln sie weiter an Psychotherapeuten oder geben uns den Hinweis, dass in einem bestimmten Fall direkt gehandelt werden muss.
Wie viele Anrufe gehen bei der Hotline ein?
Wir haben mehr als 1000 solche Gespräche geführt, wohl wissend, dass die Menschen im Flutgebiet immer noch damit beschäftigt sind, aufzuräumen oder Anträge zu stellen.
Was kommt denn nach dem Funktionieren auf die Betroffenen zu?
Nicht jeder Mensch ist traumatisiert, auch wenn er das miterlebt hat. Wir wissen, dass 135 Menschen ihr Leben verloren haben, wir wissen, dass es vier Suizide gibt in dem Katastrophengebiet. Wir wissen auch, wie viele direkt betroffen sind, wie viele körperliche Schäden davongetragen haben, aber was wir nicht wissen, ist, wie viele Menschen traumatisiert sind. Mithilfe von Vergleichsstudien aus anderen Katastrophen, etwa Tsunamiwellen, haben wir versucht, uns da zu nähern. Das ist auch schwierig, weil die Situation in anderen Ländern nicht vergleichbar mit der unseren ist. Die haben ganz andere Systeme, andere Strukturen. Wir gehen nach diesen Schätzungen von 2500 Traumatisierten aus, also Menschen, die wirklich krank sind und eine Therapie brauchen werden. Die müssen jetzt noch nicht da sein, die können noch kommen.
Woran erkennt man eine Traumatisierung?
Viele durch die Flutkatastrophe Betroffene brauchen eine psychosoziale Begleitung und eine Psychoedukation, also eine Hilfestellung, um zu erkennen, ob sie traumatisiert sind. Wie sich ein Trauma zeigt, ist häufig mit Alltagssituationen verknüpft, die die Betroffenen nicht auf das Trauma zurückführen. Es kann sein, dass mehr Alkohol getrunken wird, es kann Schlaflosigkeit, eine Reizbarkeit sein, aber auch der komplette Rückzug, also eine wesentliche Veränderung des Ichs, die sich im Alltag widerspiegelt.
Wie belastend ist die Weihnachtszeit zusätzlich?
Wir haben die Befürchtung, dass die Traumatisierungen vor allem in der Vorweihnachtszeit und zum Jahreswechsel zum Vorschein kommen. Gerade zum Jahreswechsel rekapitulieren viele Menschen das vergangene Jahr – und für die Ahrtalbewohner wird die Flut das bestimmende Thema sein. Daher werden wir die psychosoziale Hotline bis Anfang Januar wieder so besetzen, dass sie sieben Tage die Woche an 24 Stunden erreichbar sind. Zudem stehen im Hintergrund, das haben wir jetzt neu aufgebaut, Organisationen zur psychosozialen Beratung bis hin zu ganz konkreten Kriseninterventionsgesprächen bereit, an die die Menschen vermittelt werden können.
Wer begleitet diese therapiebedürftigen Menschen?
Leider ist es so, dass unser System zu wenige Therapieplätze zur Verfügung stellt. Das ist auch jetzt schon absehbar. Unsere Hotline vermittelt im Bedarfsfall Plätze gemeinsam mit der Psychotherapeutenkammer und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Wir haben derzeit mehr als 30 Patienten, die wir nicht vermitteln können.
Welche Lösung sehen Sie?
Mein eindringlicher Appell wäre: Wir müssen die Therapieplätze in stationären Einrichtungen für ambulante Therapien öffnen. Aber da tut sich insbesondere die KV schwer, obwohl dieses Vorgehen sogar in den Regelsystemen beschrieben ist: Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, muss man die stationären Therapieplätze öffnen. Die Verantwortung liegt bei der KV, die muss sicherstellen, dass der Bedarf gedeckt wird. Die haben sich bemüht, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass es nicht machbar ist. Die KV hat, und dafür bin ich dankbar, die Möglichkeit geschaffen, Therapeuten, die bisher nicht zugelassen waren, dazu zu ermächtigen. Aber wir bräuchten 80 bis 100 zusätzliche Psychotherapeuten im Ahrtal, keine zwei. Und man kann von den Patienten nicht erwarten, dass sie weite Wege auf sich nehmen. Die psychosoziale Begleitung ist auch mit dem neuen Traumahilfezentrum in Kooperation mit der Ehrenwall‘schen Klinik im Tal sehr gut aufgestellt, aber ich brauche Therapieplätze für die, die durch dieses Netzwerk nicht aufgefangen werden können.
Wie lange wird die psychosoziale Begleitung nötig sein?
Für die Zeit nach der ersten Versorgung wollen wir ein System der angeleiteten Selbsthilfe aufbauen. Also nicht die klassische Selbsthilfe, die nicht durch Profis begleitet wird, sondern wir brauchen hier eine Anleitung, um die Menschen mitzunehmen. Wir bauen zusammen mit zwei Selbsthilfeorganisationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein System für den Eifelraum und das Ahrtal auf. Dabei stellen diese auch das nötige Personal. Das wird vertraglich geregelt, sodass die angeleitete Selbsthilfe für einen längeren Zeitraum, über Jahre zur Verfügung steht. Wie lange, das entscheiden die Menschen vor Ort, inwieweit sie das Angebot annehmen. Das Angebot wird sehr individuell sein, was die Betroffenen eben brauchen. Die Gruppen werden für alle offen sein.
Wie wollen Sie die Menschen mit diesen Angeboten erreichen?
Seit etwa eineinhalb Monaten habe ich mit Katrin Jagos eine Mitarbeiterin, die nur im Ahrtal ist, durch die Straßen läuft und die Menschen anspricht. Dort landen die unterschiedlichsten Bedarfe: zu Anträgen, fehlenden Bushaltestellen oder Fragen zu Therapieplätzen. Sie hat direkten Kontakt zu den Menschen im Ahrtal – auch wenn sie zurzeit viel durch Geisterdörfer läuft, weil die Häuser nicht bewohnbar sind.
Wie ist die Situation bei den Kindern?
Wir wissen aus den Kitas und Schulen, dass die Kinder sich schon mit dem Thema beschäftigen. Sie malen dann Situationen aus der Flut oder nehmen das Erlebte spielerisch auf. Man muss das beobachten. Zum Glück haben wir dort ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen. Die können das nicht alles auffangen, aber sie erkennen die Schwierigkeiten und den Bedarf an Hilfsangeboten. Wir wollen – teilweise wird das auch schon gemacht – auch dort unterstützen. Das sind dann keine klassischen Therapien, eher Gruppengespräche, die von einer Expertin oder einem Experten geführt werden.
Woher nehmen die Menschen im Ahrtal die Kraft für den Wiederaufbau?
Die Solidarität ist enorm, das große Helferangebot – das Leid hat die Menschen schon zusammengeschweißt. Die Tatkraft der Menschen ist enorm. In den vergangenen Monaten ist schon so viel geschafft worden. Die Helferinnen und Helfer kommen zum Teil aus ganz Deutschland. Das gibt Kraft. Und wir als Gesellschaft sollten auch immer wieder bemüht sein, den Menschen diese Kraft zu geben. Das zeigt sich auch in ganz kleinen Unterstützungsmaßnahmen. Für jemanden, der nicht betroffen ist, ist zum Beispiel das Ausfüllen eines Formulars eine Kleinigkeit, für einen von der Flut Betroffenen ist es eine zusätzliche Belastung und kann eine zu viel sein.
Was hat es mit Ihnen gemacht, diese Katastrophe zu erleben?
Ich habe in der Anfangsphase auch nur funktioniert. Die erste Frage war zunächst: Ist jemand gestorben? Und diese Zahl der bestätigten Todesopfer ging immer weiter in die Höhe. Das ist besonders belastend gewesen, muss ich ehrlich sagen. Die Geschichten, die die Menschen erzählen und erzählen müssen, sind teilweise so dramatisch. Selbst wenn man weiß, man ist selbst nicht betroffen, kann man sie nicht einfach in eine Schublade packen und abhaken.
Planen Sie schon das Jahresgedenken?
Ja, in den Köpfen ist das schon drin, konkret in der Umsetzung sind wir noch nicht. Die große Herausforderung wird sein, auf das Rücksicht zu nehmen, was die Menschen wollen. Es ist ihr Gedenken. Und zum Zweiten ist es wichtig, möglichst viele mitzunehmen, auch physisch mitzunehmen. Das ist bei der großen Anzahl der Betroffenen nicht leicht, aber dafür werden wir eine Lösung finden. Wichtig ist, dass wir es wie beim Staatsakt am Nürburgring hinbekommen, derer zu gedenken, die nicht mehr unter uns sind, aber auch dem Tal eine Perspektive für die Zukunft zu geben, zu zeigen, was alles schon geschafft wurde. Darauf können die Ahrtalbewohner stolz sein.
Das Gespräch führte Kathrin Hohberger