An einem Donnerstagabend vor acht Jahren wartet auf den Kölner Ingo Robert Zeitz die Feuertaufe. Im Gasthaus Hehner-Kiltz in Waldböckelheim (Kreis Bad Kreuznach) sitzen 25 gestandene Männer am Stammtisch der Traditionskneipe, einem langen Tisch gegenüber dem Tresen, um den Neuankömmling aus der Stadt in Augenschein zu nehmen.
Eine Woche vorher war Zeitz schon mal hier – mit einer prominenten Fürsprecherin, der befreundeten Monika Kirschner, Journalistin und Filmemacherin, Mitbegründerin der „Initiative Soonwald“, im Hunsrück längst eine Institution. Sie sagt zu den Männern am Stammtisch: „Guckt mal, das ist der Ingo aus Köln, der kommt nächsten Donnerstag zu euch.“ Die Antwort der Männer: „Ja gut, der soll mal kommen.“ Zuvor hätten sie wohl über ihn abgestimmt, erzählt Zeitz. „Ich habe aber nie nachgefragt.“
Für den Kölner steht nach dem ersten Besuch am Stammtisch fest: „Egal, was passiert, am nächsten Donnerstag bin ich da und lerne die alle kennen. Und dann habe ich sie alle kennengelernt. Witzig. Das sind Leute aus allen Schichten, Winzer, Lkw-Fahrer. Interessant ist, dass alle ein Haus im Dorf haben, wie ich. Original-Waldböckelheimer sind auch dabei, aber auch viele Zugezogene wie ich.“
Köln hat so was Sattes, Deftiges, Reiches. Da kann man das Gefühl haben, das sind alle meine Freunde, aber eben nur das Gefühl haben. Letztlich ist das Kölsche auch oberflächlich.
Ingo Robert Zeitz
Die Feuertaufe besteht Zeitz mit Bravour: „Zack. Ich war dabei und bekam gleich etwas zu essen, wurde eingeladen von einem, der Geburtstag hatte. So ist es Tradition.“ Zeitz fühlt sich zu Hause, ist angekommen, vielleicht das erste Mal in seinem Leben, das an diesem Donnerstag vor acht Jahren schon 68 Jahre zählt. „Ich hatte das Gefühl, das können Freunde werden. Jetzt sind wir Freunde. Jeder steht für den anderen ein.“
Wer Zeitz' erstes Leben, das Leben bis zu diesem Donnerstag mit einem Satz zusammenfassen wollte, würde vielleicht auf Adornos Satz stoßen: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ 1947 kommt Zeitz im Kölner Süden, in einer elitären Gegend von Köln-Marienburg zur Welt. „Das war wie ein Friedhof, da war gar nichts.“ Kein Leben. Die stinkreichen Eltern haben einen Autohandel in Bergisch-Gladbach, den der Vater im Nachkriegsdeutschland aufgebaut hat. Als er 1958 stirbt, übernimmt die Mutter die beiden Geschäfte, das eine spezialisiert auf Audi und Porsche, das andere auf Volkswagen.
Mit dem Käfer zur Schule chauffiert
„Meine Mutter kam aus ganz einfachen Verhältnissen und war sehr darauf erpicht, es weit zu bringen. Mein Vater war ein Geschäftsmann aus dem Taunus, der niemals Dialekt gesprochen hat. Er war Verkäufer in einem Autohaus und hat dann den VW-Betrieb gegründet. Ich bin das genaue Gegenteil meiner Eltern. Als mich der Chauffeur mit dem Käfer zur Schule gefahren hat, da hat mich das angeekelt. Das war ganz schrecklich. Damals waren die Kapitalistenschweine doch die allerschlimmsten. Und ich gehörte dazu.“
Zeitz ist ein Lebemann. Er lebt nicht fürs Geld, sondern nutzt es für ein schönes Leben. Als er in den 70ern in Hamburg Betriebswirtschaftslehre studiert, hat er natürlich eine Wohnung in Alster-Nähe im Szeneviertel Pöseldorf, Heimat des legendären Jazzlokals Onkel Pö und vieler hochklassiger Geschäfte und Klubs. „Hamburg war 'ne tolle Zeit, vormittags habe ich gearbeitet, nachmittags habe ich dann Highlife gemacht. Ich hatte eine sündhaft teure Wohnung und bin mit meiner Dogge im Porsche Gassi gefahren. Das waren die Porsche-Fahrzeuge aus dem Geschäft meiner Eltern, die ich in Hamburg verkauft habe. In den Alsterwiesen traf man dann seine anbetenden Mitmenschen.“ Vor allem Frauen. Doch schon damals fremdelt er mit dieser „pseudostädtischen Gesellschaft“, die er in Hamburg wie in Köln erlebt. „Es bleibt alles an der Oberfläche.“
1977 – Zeitz ist gerade mal 30 – übernimmt er den Porsche- und Audibetrieb der verstorbenen Mutter. Er macht das Geschäft in Bergisch-Gladbach zu einem Mekka für Automobilfans – zu einer Boutique für Fans historischer Automobile. Zeitz ist da schon lange ein in der Szene bekannter Rennfahrer. „Ich bin historische Rennen gefahren, damals Autos bis 1960, später bis 1975. Ich hatte einen Porsche Speedster und habe alles gewonnen, was es zu gewinnen gab: Monza, Rennen in Großbritannien oder Frankreich. Ich war damals der Erste, der das in Deutschland gemacht hat. Und so kamen sie von überall, um ihre historischen Autos bei mir in die Inspektion zu geben oder um sich die Rennwagen anzuschauen.“
In Köln wohnt er im Belgischen Viertel, wieder ein Szeneviertel. „Ich konnte mit dem Bademantel vor die Tür gehen, Brötchen kaufen und frühstücken. Mein Ideal. Ich habe meine Frauen oft gewechselt, bin zweimal geschieden“, erinnert sich der Kölner und schmunzelt. „Köln“, sagt er, „hat so was Sattes, Deftiges, Reiches. Multikulti eben, man muss in Köln keine Angst haben. Da kann man das Gefühl haben, das sind alle meine Freunde, aber eben nur das Gefühl haben. Letztlich ist das Kölsche auch oberflächlich.“
„Das liegt an Neid und Missgunst. Die sind überall und in der Stadt ganz besonders ausgeprägt. Alles dreht sich um Konkurrenz und Wettbewerb.“
erzählt Zeitz.
1990 – Zeitz ist 43 – verkauft er den Betrieb in Bergisch-Gladbach und wird Unternehmensberater, übernimmt die Geschäftsführung kleinerer Betriebe, um sie zu retten. „Die meisten wurden ohne viel Eigenkapital gegründet. Das ging aber nur eine Zeit lang gut. Dann habe ich geholfen und die Finanzgespräche mit den Banken geführt. Ich habe die Betriebe immer gerettet. Da war ich in meinem Element. Ich bin eher ein fürsorglicher Typ, habe mich gekümmert und gern mit Menschen gearbeitet.“
In dieser Zeit baut er sich ein Gebäude in der Südstadt mit Rheinblick zu einem Loft um. In einer Garage stehen seine drei Porsche und zwei Morgan. Seine Schwester, erzählt Zeitz, glaubt sogar, dass er jetzt endlich sesshaft wird. Doch der Kölner ist unglücklich in der Großstadt. „Das liegt an Neid und Missgunst. Die sind überall und in der Stadt ganz besonders ausgeprägt. Alles dreht sich um Konkurrenz und Wettbewerb.“
Dokumentation über Schrottimmobilien im Hunsrück
Und dann, ja dann kommt der Anruf von Monika Kirschner, der besten Freundin von Zeitz' erster Ehefrau. „Sie drehte gerade eine Dokumentation mit einem Immobilienmakler über Schrottimmobilien im Hunsrück. Der Makler weigerte sich mitzumachen, wenn er nicht wenigstens ein vernünftiges Objekt einem Interessenten anbieten kann.“ Da kommt Zeitz ins Spiel. Er fährt als vermeintlicher Immobilieninteressent zum ehemaligen Jagdhaus eines Professors in Gemünden. „Da habe ich gedacht: Komisch, wenn es da Schrottimmobilien gibt, vielleicht ist auch eine für dich und die Oldtimer dabei.“ Zeitz schaltet eine Maklerin ein, die ihm drei Häuser anbietet – eines davon ist das alte Winzerhaus in der Lindenstraße, Ecke Postgasse in Waldböckelheim. Keine Schrottimmobilie. Es ist 2012 – Zeitz ist 65 –, als er zum Waldböckelheimer wird. „Ich habe sofort gedacht: Das isses, das kaufe ich jetzt. Es hat sich gut angefühlt, weil es so zentral lag, die Kirche direkt gegenüber.
Es war zwar eiskalt. Und die vier Zimmer oben und unten waren auch nicht so attraktiv. Aber das war mir egal. Ich brauchte ja erst mal nur die zwei Scheunen für meine Autos.“ Und er macht gleich Bekanntschaft mit seinen Nachbarn in der Postgasse. Als er einen seiner Morgan-Oldtimer in die Scheune schieben will, bleibt er mit dem Chassis hängen. „Innerhalb von Sekunden kamen Nachbarn aus dem Postgässchen und haben geholfen, das Auto zu befreien.“
Drei Jahre später hat Zeitz endgültig die Nase voll vom Großstadtleben im Loft. Vier Georgier, die vor Putins Krieg in ihrem Land nach Köln geflohen sind, helfen ihm, sein Fachwerkhaus von 1808 innerhalb von nur drei Monaten zu restaurieren – unter den staunenden Blicken der Waldböckelheimer. Das Haus bekommt eine neue Heizung, neue Böden und wird entkernt, luftige, große Räume entstehen. Aus einer Scheune wird eine Ferienwohnung. Aus dem Dorf bekommt er viel Unterstützung. „Ich war erstaunt, dass die mir alle helfen, ohne etwas dafür zu verlangen, ohne mich zu kennen. Ich fühlte mich wohl, angenommen, akzeptiert.“
Es klingelt an der Tür. Zeitz' Hund bellt. „Das ist Sonja“, sagt er, „die wohnt mit ihrem Mann in der Nachbarschaft. Jemand hat mir mal gesagt, wenn ich jemanden für den Hund brauche, soll ich mich bei Sonja melden. Die hat keine Enkel, der Hund ist tot. Die kümmert sich bestimmt um deinen Hund. Das macht sie jetzt seit fünf Jahren. So ist das Dorfleben.“
Zeitz fühlt sich im Dorf bestens versorgt. „Es ist alles da. Und die Gesundheitsversorgung ist gut.“ Vor einigen Monaten hat er einen leichten Schlaganfall, erzählt er. Er kann kaum noch sprechen. Dem Feriengast aus England kann er nur das Wort „Stroke“ (Englisch für Schlaganfall) sagen. Der ruft den Rettungswagen, der ihn ins 20 Minuten entfernte Meisenheimer Krankenhaus bringt. Und Zeitz hat seine Nachbarn: „Neulich war ich mal zwei Tage unterwegs und hatte die Rollläden runter. Da riefen die Nachbarn aus dem Postgässchen gleich an und fragten, ob alles in Ordnung sei.“
“Die Stadt ist für mich ein No-Go. Die Staus, der Gestank, das Gedränge, die ewige Warterei. Grauenvoll. Ich will das nicht mehr.“
der gebürtige Kölner Ingo Robert Zeitz
Zeitz hat eine Lebensgefährtin in Opladen. „Sie hat mal kurz mit mir hier gelebt. Aber das war nichts für sie. Sie liebt die Stadt, ich das Land. Jetzt kommt sie mich besuchen. Ich bin zu Gast in der Stadt, mal in Opladen, alle 14 Tage bei meiner Schwester in der Kölner Südstadt. Die Stadt ist für mich ein No-Go. Die Staus, der Gestank, das Gedränge, die ewige Warterei. Grauenvoll. Ich will das nicht mehr.“ Doch er ist Realist genug, um auch die Schattenseiten des Landlebens zu kennen. Im Ortskern stehen viele Häuser leer. Selbst Zeitz, der anfangs noch als Immobilienmakler gearbeitet hat, kann nur ein Haus verkaufen. Die Grundstücke sind zu klein, der Blick oft verstellt, Besitzer sind oft Erbengemeinschaften, die Häuser lieber leer stehen lassen, als die vergleichsweise niedrigen Erlöse zu akzeptieren, sagt er.
Ingo Robert Zeitz, 75 Jahre jung, Lebemann, Stadtmensch a. D. ist angekommen. „Der Stammtisch ist mein Luxus und dieses Haus. Ich sehe aus meinem Fenster auf die Kirche und erlebe Hochzeiten, Beerdigungen, Erstkommunionen. Dann rennen alle hier vorbei. Hier bin ich endlich mehr Sein als Schein.“ Christian Kunst