Der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb sieht die Entscheidung der Koblenzer Staatsanwaltschaft, kein strafrechtliches Verfahren gegen den früheren Ahrweiler Landrat Jürgen Pföhler einzuleiten, sehr kritisch. „Der Oberstaatsanwalt hat sich mit der Pressekonferenz keinen Gefallen getan“, erklärt Roselieb auf Anfrage unserer Zeitung. Juristisch wolle er dessen Ausführungen gar nicht bewerten. „Fachlich schon.“ Einige Dinge hätten ihn doch sehr verwundert.
Zunächst mal scheine Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler seine Quellen nicht im Griff zu haben. „So hat er mir kurzerhand eine Studie des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) in den Mund gelegt, die für seine Argumentation kontraproduktiv ist, aber gar nicht von uns stammt“, betont Roselieb, der die Pressekonferenz per Livestream verfolgt hat. Der KIT-Studie zufolge sei die Dimension der Flutwelle von 1804 eben doch viel größer gewesen als 2021. Demnach hätten die Pegelstände vor 200 Jahren teilweise doppelt so hoch gelegen.
Mannweiler hatte in der Pressekonferenz auf eine Marke in Dernau von 1804 verwiesen, die deutlich unter der von 2021 gelegen habe. Von punktuellen Messungen könne man aber nicht auf das gesamte Ausmaß einer Flut schließen, betont Roselieb. Damit falle die „Außergewöhnlichkeit“ schon mal weg, die Pföhler und die Technische Einsatzleitung in Mannweilers Argumentation entlastet habe.
Was den Krisenforscher besonders verärgert, ist, dass sich der Oberstaatsanwalt in seiner Begründung, die Ermittlungen einzustellen, viel zu sehr auf die Flutnacht konzentriert habe. Landrat Pföhler habe doch schon im Vorfeld schwere Fehlentscheidungen begangen. „2018 hat er seine Verantwortung als Katastrophenschützer wegdelegiert“, betont Roselieb. Und er habe auch keinen Verwaltungsstab geschaffen. Somit sei das Chaos in der Flutnacht vorprogrammiert gewesen. Und: „Das hat Pföhler ja bewusst und wissentlich gemacht. Der Mann ist doch Volljurist.“
Der Landrat sei zudem 2021 wahrlich kein Neuling mehr im Amt gewesen. Rund 20 Jahre lang habe er die Gelegenheit gehabt, sich und sein Team im Katastrophenschutz schulen zu lassen. Und das pikanterweise auch noch direkt vor der eigenen Haustür. Recherchen unserer Zeitung haben aber ergeben, dass Pföhler ein entsprechendes Angebot der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ) in Bad Neuenahr-Ahrweiler über zwei Jahrzehnte hinweg ausgeschlagen hat. Roselieb kommt deshalb zu dem Schluss: „Der Landrat ist mit Vorlauf in die Katastrophe gegangen.“
Roselieb lässt deshalb auch Mannweilers Argumentation, dass ein Landrat als Wahlbeamter nun mal kein Katastrophenexperte sei, nicht gelten. „Der Oberstaatsanwalt nimmt die Akteure dafür sogar noch in Schutz, indem er sinngemäß sagt: Es waren halt Amateure am Werk, die nicht täglich mit Katastrophen betraut sind“, sagt Roselieb. „Merkwürdigerweise können das die Amateure in den 399 anderen Landkreisen- und Stadtkreisen deutlich besser.“
Spätestens an dieser Stelle hätte der Oberstaatsanwalt aber Charakter zeigen und in der Pressekonferenz einen Appell an die Politik richten können, diese Regelungslücke schnellstmöglich zu schließen – auch im Strafrecht.
Der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb
Das Zeichen, das die Koblenzer Staatsanwaltschaft damit setze, sei fatal. „Damit kann ein Landrat in Deutschland folglich nicht belangt werden kann, wenn er das Katastrophenmanagement – also eine Maßnahme zur lebenserhaltenden Daseinsvorsorge – in seinem Landkreis ganz anders 'organisiert' als es die Dienstvorschrift 100 vorsieht“, wundert sich der Kieler Krisenforscher. Strafrechtlich möge das zutreffend sein. „Spätestens an dieser Stelle hätte der Oberstaatsanwalt aber Charakter zeigen und in der Pressekonferenz einen Appell an die Politik richten können, diese Regelungslücke schnellstmöglich zu schließen – auch im Strafrecht.“
Auch beim Thema Evakuierungen geht Roselieb hart mit Mannweilers Argumentation ins Gericht. Der Oberstaatsanwalt hatte dazu angemerkt, dass eine Vollevakuierung in so kurzer Zeit laut Gutachter nicht möglich gewesen sei. Zudem hätten sich Menschen weigern können, ihr Haus zu verlassen. „Ach so, deswegen lohnen sich Evakuierungen also nicht?“, wundert sich Roselieb. Planung und Durchführung seien dann ja sowieso zwecklos. „Dabei wäre schon ein Toter weniger durch eine Teilevakuierung ein Gewinn für den Katastrophenschutz und für die Angehörigen gewesen.“
Schließlich zerpflückt Roselieb auch das Argument des Oberstaatsanwalts, dass eine Katastrophe dieses Ausmaßes nicht vorhersehbar gewesen sei. „Das ist schlichtweg falsch“, sagt der Krisenforscher. Das Landesamt für Umwelt habe bereits um 17.17 Uhr die höchste von fünf Katastrophenstufen ausgelöst und sogar noch vor einer Verdoppelung der Pegelstände gewarnt. „Mehr Katastrophe geht nicht.“ Die Technische Einsatzleitung des Kreises habe genau deshalb auch um 17.40 Uhr zusammengesessen. „Wieso gab es dann noch Zweifel an der Notwendigkeit zum Auslösen des Katastrophenalarms?“
In der Gesamtschau hat durch die Pressekonferenz nicht zuletzt der Katastrophenschutz verloren.
Der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb
Hätte denn eine solche frühzeitige Entscheidung tatsächlich etwas bewirkt? „Ja, hätte sie“, betont Roselieb. Das hätten nicht zuletzt die anderen betroffenen Kreise während der Flutnacht 2021 bewiesen. Nicht die Katastrophenforschung bewege sich hier im Vagen, sondern der Oberstaatsanwalt, weil er bewährte und gelebte Regeln und deren Wirksamkeit im Katastrophenmanagement grundlos in Zweifel ziehe. „In der Gesamtschau hat durch die Pressekonferenz nicht zuletzt der Katastrophenschutz verloren.“
Roselieb zieht deshalb ein vernichtendes Fazit: „Überspitzt formuliert, scheint nach der Logik der Staatsanwaltschaft Koblenz Katastrophenschutz ein Glücksspiel zu sein“, sagt der Krisenforscher. „Man weiß eigentlich nie, ob es klappt.“ Wer sich als Landrat oder Oberbürgermeister fortan nicht mehr um den Katastrophenschutz kümmere, spare viel Geld und Mühe – und werde auch nicht bestraft. „Wer in der Katastrophe die Orientierung verliert, hat auch nichts zu befürchten – dann war die Katastrophe eben einfach ein paar Nummern zu groß und zu unplanbar.“