Vielleicht zu sagen, zeugt von der klugen Erkenntnis, dass die Welt komplexer ist, dass ein Ja oder Nein erst in der Auseinandersetzung, dem Kontakt mit dem anderen erstritten, vielleicht sogar erkämpft werden muss. Dieser Diskurs auf Augenhöhe ist die Lebensenergie einer Demokratie. Doch im Zeitalter der sozialen Netzwerke geht es oft nur noch um ein Ja oder Nein. „Bist du für oder gegen die Corona-Maßnahmen?“ „Bist du für oder gegen den Klimaschutz?“ „Bist du für oder gegen ein Tempolimit?“ „Stehst du für die Stadt oder das Land?“
Wohin diese gnadenlose Polarisierung politischer Debatten führt, das ist seit vielen Jahren in den USA zu besichtigen. Dort gibt es mittlerweile Bürgerrechtsinitiativen, die einen konstruktiven Austausch zwischen Demokraten und Republikanern organisieren – mit überschaubarem Erfolg. Eine Gesellschaft, in der immer mehr zwischen Freund und Feind unterschieden wird, hat die Tür zum Autoritarismus, zur Diktatur weit geöffnet. Diese lässt sich nur schließen, wenn man wieder mehr „Vielleicht“ zulässt, die Argumente des Andersdenkenden respektiert und das eigene Irren akzeptiert. Anders ausgedrückt: Wir sollten wieder lernen, zwischen Meinungsverschiedenheit und Beziehung zu unterscheiden. Nur weil ein Mensch eine andere Meinung hat, sollten wir ihn nicht verdammen und die Beziehung zu ihm abbrechen, wie dies in Familien, Partnerschaften und Freundschaften während der Corona-Krise oft geschehen ist.
Vor diesem Hintergrund ist die Initiative von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, am 9. November der Ausrufung der Weimarer Republik, der Pogromnacht und des Mauerfalls zu gedenken, ein wohltuender und mutiger Schritt. Denn es geht ihm darum, der Ambivalenz der deutschen Geschichte gerecht zu werden. Und da ist der 9. November für die Deutschen ein Lehrstück: An diesem Tag erkämpften sie sich Demokratie und Freiheit, zugleich erinnert er sie an ein gigantisches Menschheitsverbrechen, das von Deutschen verursacht wurde. Die Lehre daraus muss sein, das Widersprüchliche des Lebens auszuhalten und eher einmal zu viel „Vielleicht“ zu sagen. Nur so können wir uns vor einem neuen Freund-Feind-Denken schützen, das Nationalsozialismus und Holocaust erst den Boden bereitet hat.