Welche unterschiedlichen Modelle der Bürgerversicherung gibt es?
Die Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist weitgehend lohnbezogen, wenn man vom Bundeszuschuss an den Gesundheitsfonds absieht. Die Beiträge orientieren sich fast ausschließlich an der Höhe des Bruttoeinkommens, und zwar bis zur Beitragsbemessungsgrenze, die 2018 bei jährlich 51.300 Euro beziehungsweise monatlich 4425 Euro liegt. Der privaten Krankenversicherung (PKV) ist egal, mit welchem Geld Versicherte die Prämien leisten. Das ist aber zugleich ein Problem für die Bürgerversicherung.
Warum ist das Ihrer Ansicht nach so?
Die Frage wird sein, woran die Beitragszahlung bemessen wird. Selbstständige haben im eigentlichen Sinn kein Lohneinkommen, sondern Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, aber auch Kapitaleinkommen oder Einnahmen aus Vermietungen. In den ursprünglichen Konzepten einer Bürgerversicherung sollten auch andere Einnahmequellen als Lohneinkommen zur Finanzierung herangezogen werden wie Kapital- oder Vermietungseinkünfte. Doch damit kann man in Teufels Küche kommen. Denn diese Einnahmen können auch negativ sein. Soll derjenige dann Geld von seiner Krankenkasse erstattet bekommen? Daher sollte man bei Selbstständigen nur das zu versteuernde Einkommen für Beiträge heranziehen. Das ist auch die Mehrheitsmeinung in der SPD und bei den Grünen. Das ist aber auch problematisch.
Warum sehen Sie das problematisch?
Weil ein wichtiges ursprüngliches Argument für die Bürgerversicherung war, dass die Bemessungsgrundlage für Beiträge erweitert wird. Das könnte aber über einen Umweg dennoch gelingen: Wenn die alleinige Belastung des Faktors Arbeit reduziert werden soll, kann Kapital höher besteuert werden. Und dann kann man den steuerfinanzierten Bundeszuschuss an die Bürgerversicherung erhöhen, um bestimmte Leistungen so zu finanzieren.
Das Einkommen von Selbstständigen ist aber immer nur geschätzt.
Dafür gibt es keine einfache Lösung. Doch das wichtigste aktuelle Problem ist die Absicherung der Selbstständigen in der GKV. Vielen von ihnen würde eine Bürgerversicherung sehr helfen. Der größte Handlungsbedarf besteht gerade bei den zahlreichen schutzbedürftigen Soloselbstständigen mit geringen Einkommen. Sie müssen unter das Dach eines kollektiven Systems kommen, um sie so vor den hohen Beiträgen im aktuellen dualen System zu schützen. Daher brauchen wir in einer Bürgerversicherung einen bezahlbaren Mindestbeitrag. Die Diskussion dreht sich jetzt um die Frage, welchen Beitrag Selbstständige auf jeden Fall zahlen müssen. Heute beträgt der Mindestbeitrag in der GKV 412 Euro pro Monat, in wenigen Ausnahmefällen 275 Euro. Der Verband der Gründer und Selbstständigen fordert einen Mindestbeitrag für Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 120 Euro. Das wäre ein Betrag, mit dem ich auch leben könnte. Sollte das Einkommen am Ende des Jahres höher gewesen sein, müsste der Selbstständige nachzahlen. Das ist aber nur der Ausnahmefall. Der Regelfall für die Selbstständigen ist eine freiwillige Versicherung, also eine Beitragszahlung, die zwischen dem Mindestbeitrag und der Beitragsbemessungsgrenze, also dem Maximalbeitrag liegt.
Wie sieht die Situation bei den Beamten aus?
Das ist ein ganz heißes Eisen. Sie sind nicht in die Sozialversicherung integriert, zahlen keine Sozialbeiträge und haben ihr eigenes Alterssicherungssystem. Wer das eigenständige und von den normalen Bürgern abgekoppelte Sicherungssystem der Beamten infrage stellt, muss sich auf massive Widerstände vorbereiten. Und es ist zu bedenken, dass Einsparungen durch einen Übertritt aller 2,7 Millionen Beamten in die GKV erst langfristig eintreten.
Und kurzfristig?
Kurzfristig müssten die Länder, bei denen die meisten Beamten beschäftigt sind, die Arbeitgeberbeiträge übernehmen. Das würde aber bedeuten, dass die Bruttoentgelte für die Beamten deutlich ansteigen müssten. Mittel- und langfristig wäre das für die öffentliche Hand ein gutes Geschäft, weil die Beihilfe und die eingepreisten PKV-Beiträge für Beamte und Pensionäre aus Steuermitteln finanziert werden müssen. Aber ich bin kein Träumer: Die Bundesländer sind finanziell am Ende, auch Rheinland-Pfalz. Deshalb werden sie den Teufel tun und diesem Systemwechsel für die Beamten zustimmen. Deshalb lautet mein Kompromissvorschlag: Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir jenen Beamten einen Systemwechsel anbieten, die das möchten. Für diese Beamte müsste der Dienstherr dann aber den Arbeitgeberbeitrag übernehmen. Hamburg geht jetzt diesen Weg. Derzeit gibt es aber überhaupt keinen Anreiz für Beamte, in die GKV zu wechseln, weil sie den vollen Beitrag zahlen müssten.
Was ließe sich denn langfristig einsparen?
Die Bertelsmann Stiftung geht bei einem Übertritt aller 2,7 Millionen privat versicherten Beamten in die GKV von einem langfristigen Einsparpotenzial in Höhe von insgesamt 60 Milliarden Euro zwischen 2017 bis 2030 aus.
Was ist mit den Alterungsrückstellungen?
Allein die Beamten haben Alterungsrückstellungen in Höhe von mehr als 72 Milliarden Euro. Ökonomisch ist das relativ simpel, auch wenn das Privatversicherungen wie der Debeka verständlicherweise nicht gefallen wird: Diese Alterungsrückstellungen gehören nicht den PKV-Unternehmen, sondern dem Versichertenkollektiv. Das sind Prämienanteile, die verhindern sollen, dass die Versichertenbeiträge im Alter explodieren. Wenn aber 2,7 Millionen Beamte theoretisch mit einem Schlag in die Bürgerversicherung wechseln sollten, dann gehören die 72 Milliarden Euro rein ökonomisch gesehen der gesetzlichen Krankenversicherung. Denn deren Beitragszahler subventionieren dann auch die älteren ehemals privat versicherten Beamten. Die Alterungsrückstellungen sind nicht einzelnen Versicherten zugeordnet, sondern einer bestimmten Versichertengruppe.
Und rechtlich gesehen?
Experten wie der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem und andere halten es auch für verfassungsrechtlich möglich, die Rückstellungen in den Gesundheitsfonds zu überführen. Ob das aber rechtlich möglich ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Wenn statt 2,7 Millionen nur eine Million Beamte in die GKV wechseln, könnte der anteilige Betrag an Alterungsrückstellungen als Pauschale an den Gesundheitsfonds übertragen werden. Doch weil sich die PKV-Branche dagegen mit allen Mitteln wehren wird, geht selbst die Bertelsmann Stiftung davon aus, dass es politisch nicht durchsetzbar sein wird, die Alterungsrückstellungen an die GKV zu übertragen.
Das System der Zusatzversicherungen bleibt ja erhalten – damit aber auch die Zweiklassenmedizin.
Dieses Dilemma lässt sich nicht auflösen. Solange der Gesetzgeber ein System der Zusatzversicherungen ermöglicht, wird ein Teil der Versicherten davon Gebrauch machen. Ich warne davor, die Illusion bei den Bürgern zu erwecken, man könne mit einer Bürgerversicherung alle Gerechtigkeitsprobleme lösen. Aber Zusatzversicherungen auch für GKV-Versicherte haben wir heute schon, beispielsweise für die Krankenhausbehandlung. Bei den niedergelassenen Ärzten würde es anders aussehen, wenn eine Bürgerversicherung mit einer einheitlichen Honorarordnung kommen würde.
Nur 11 Prozent der Bevölkerung sind privat versichert, doch sie finanzieren fast ein Viertel der Praxisumsätze. Kritiker argumentieren, dass die PKV-Versicherten indirekt die günstigen Konditionen der gesetzlichen Krankenversicherung finanzieren.
Für einen Teil der Ärzte mit anteilig vielen Privatpatienten wäre die Bürgerversicherung ein echtes Problem. Während die Ärzte für die Behandlung gesetzlich Versicherter im Wesentlichen mit Quartalspauschalen vergütet werden, werden bei Privatpatienten einzelne Leistungen vergütet, und das auch noch zum 2,6-fachen Satz. Das kann im Übrigen ein echtes Risiko für diese Patienten sein, weil sie Gefahr laufen, überdiagnostiziert und übertherapiert zu werden. Allein für den Wechsel der 2,7 Millionen Beamten in die Bürgerversicherung würden den Ärzten jährlich etwa 6,1 Milliarden Euro an Honoraren entgehen. Aber die Folge wäre, dass die Ärzte insgesamt gerechter bezahlt würden. Vor allem Landärzte in strukturschwachen Regionen würden profitieren. Und wichtige Leistungen wie Hausbesuche könnten besser honoriert werden. Das setzt aber zwingend voraus, dass die Einnahmenausfälle der niedergelassenen Ärzte durch höhere Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung kompensiert werden. Darauf darf man nicht verzichten.
Bis zu 51.000 der 68.000 Jobs sind in der PKV durch einen Vollumstieg auf die Bürgerversicherung laut Böckler-Stiftung gefährdet.
Diese Studie ist ein Zeichen für die Zerrissenheit der Gewerkschaften. Es ist bekannt, dass viele PKV-Beschäftigte bei Verdi organisiert sind. Daher gibt es hier Vorbehalte gegen die Bürgerversicherung. Doch zu den Zahlen: Zunächst einmal wird es einen solchen Vollumstieg nicht geben. Und der prognostizierte Jobabbau ist ein reiner Bruttoeffekt. Nicht berücksichtigt wird, dass in der GKV neue Jobs entstehen und dass die PKV wie die Banken ohnehin angesichts der Digitalisierung vor einem Umbruch und damit vor einem Jobabbau steht.
Wer wird von der Bürgerversicherung profitieren?
Die Gesamtheit der GKV-Versicherten und ein Teil der Selbstständigen und die gesetzlichen Kassen. Verlierer werden die privaten Krankenversicherungen sein. Aber sie stehen schon ohne Bürgerversicherung massiv unter Druck, weil ihr Geschäftsmodell bereits heute bedroht ist. Die heutige PKV nutzt in erster Linie Ärzten mit vielen Privatpatienten, den privaten Krankenversicherungen und erst an allerletzter Stelle den PKV-Versicherten. Manchmal schadet die PKV ihnen sogar. Denn viele Privatversicherte merken erst im Alter, dass sie „Gefangene“ ihrer Versicherung sind, wenn ihre Beiträge explodieren und sie kaum oder keine Möglichkeiten haben, ihre Prämien anzupassen. Übrigens: Einen Wettbewerb um und für die älteren Versicherten gibt es gerade in der Privaten Krankenversicherung nicht, die können ihre einmal gewählte Versicherung faktisch bis zum Tod nicht mehr verlassen.
Das Gespräch führte Christian Kunst