Interview: Verkehrsexperte Dirk Fischer von der Hochschule Koblenz erklärt, wie die Mobilitätswende in unserer Region gelingen könnte
Interview mit Verkehrsexperte aus Koblenz: Wie sieht das Pendeln der Zukunft aus?
Stau, Autos im Stillstand, wie hier auf der B 327, sind in und um die Pendlerstadt Koblenz normal.
Sascha Ditscher/Archiv

Die neueste Pendlerrechnung der Statistischen Landesämter bestätigt einmal mehr: Pendeln gehört zur DNA des Landes Rheinland-Pfalz. Professor Dirk Fischer von der Hochschule Koblenz kennt die Pendler- und Verkehrsströme hierzulande ganz genau. Im RZ-Interview erklärt der Verkehrsexperte, warum er in unserer ländlich geprägten Region beim Pendeln trotzdem nicht nur auf das Auto setzen will.

Lesezeit 8 Minuten

Stau, Autos im Stillstand, wie hier auf der B 327, sind in und um die Pendlerstadt Koblenz normal.
Sascha Ditscher/Archiv

Die RZ sprach mit dem Verkehrsexperten zudem darüber, wie das Pendeln der Zukunft aussehen könnte, warum sich die Pendlerstadt Koblenz eigentlich nur schlecht als solche eignet und weshalb er mit Blick auf die Verkehrswende große Hoffnungen in die Bundesgartenschau 2029 im Mittelrheintal setzt.

Herr Fischer, die Zahl der Pendler im nördlichen Rheinland-Pfalz bleibt im Verhältnis zur Einwohnerzahl sehr hoch, wir sind ein Pendlerland: Woran liegt das?

Zuerst einmal sind wir hier sehr ländlich geprägt. Wir haben sehr viele kleine Ortsgemeinden; da findet man kaum Arbeitsplätze. Und wir haben wenige Oberzentren, von denen die meisten am Rand des Landes oder im Umfeld von Metropolregionen liegen. Von uns aus haben wir es nicht so weit bis in die Metropolregion Köln/Bonn, im Osten nach Frankfurt. Dort gibt es viele interessante Arbeitsplätze.

Zur Person:

Prof. BauAss Dirk Fischer vertritt seit mehr als zehn Jahren hauptberuflich das Lehrgebiet Verkehrswesen an der Hochschule Koblenz. Davor war Fischer bereits viele Jahre in leitenden Funktionen für die Straßenplanung beim Landesbetrieb Mobilität Rheinland-Pfalz sowie als Leiter der Straßenplanung und Verkehrstechnik der Pendlerstadt Koblenz tätig.

Dirk Fischer
Hochschule Koblenz

Rheinland-Pfalz hat im Bundesländervergleich in Relation zur Einwohnerzahl mit die meisten Auspendler. Im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung hat nur das Oberzentrum Koblenz mehr Ein- als Auspendler. Was sagt das über den Arbeitsstandort Rheinland-Pfalz aus?

Im Oberzentrum Koblenz gibt es eine Arbeitsplatzquote von etwa 1,4 Arbeitsplätzen je Einwohner im erwerbstätigen Alter. Wenn wir diese alle besetzen wollen, resultiert daraus natürlich eine positive Pendlerbilanz. Sonst wären ja knapp 30 Prozent unbesetzt. Auf der anderen Seite haben wir nun mal viele attraktive Arbeitsplätze außerhalb von Rheinland-Pfalz, die in einer annehmbaren Zeit erreicht werden können. Von Montabaur im Westerwald nach Frankfurt Flughafen sind es mit der Bahn ungefähr dreißig Minuten. Zum Kölner Hauptbahnhof auch.

Von Koblenz sind Sie in gut 35 Minuten mit dem IC in Bonn. Das Problem in den Ballungszentren sind nur die extrem hohen Immobilien- und Mietpreise. Und da wird das Pendeln einem Wohnortwechsel meist vorgezogen. Die Pendlerströme, die im ländlich geprägten Raum eh schon da sind, werden dadurch noch verstärkt. Man ist hier in Rheinland-traditionell verpflichtet gewesen, zu pendeln.

Sie waren selbst lange für die Straßenplanung von Koblenz mit zuständig. Welchen Einfluss hat das Pendeln auf den Charakter der Stadt?

Koblenz ist relativ gesehen eine der ausgeprägtesten Pendlerstädte Deutschlands und natürlich geprägt vom Verkehr – und von den sehr guten Anbindungen an das Autobahnnetz. Die B 9 auf der Europabrücke zählt zu den am meisten belasteten Straßen in Rheinland-Pfalz. Und es gibt kaum leistungsfähige Ausweichrouten. Das stellt eine Stadt vor große Herausforderungen. Um die große Anzahl von Pendlerströmen abwickeln zu können, braucht man in Koblenz viel Platz für Straßen und Parkraum. Besonders erschwerend hinzu kommt, dass Koblenz, so schön es auch ist, an zwei Flüssen liegt. Wir haben drei große Rheinbrücken und drei Moselbrücken für den Kfz-Verkehr. Dazu kommen noch drei Eisenbahnbrücken. Wenn ich ein charakteristisches Merkmal von Koblenz nennen muss, dann sind es die Verkehrsbrücken.

Wie hat die Coronapandemie das Pendeln beeinflusst?

Der Individualverkehr ist in seiner Verkehrsleistung im Frühjahr 2020 deutlich eingebrochen. Aber vor allem der ÖPNV hat seitdem Riesenprobleme. Während wir aktuell sehen, dass sich der Individualverkehr wieder in Richtung der Zeit vor der Pandemie entwickelt, sieht tut sich der ÖPNV schwerer. Einige sind umgeschwenkt vom ÖPNV zurück aufs Auto. Der Anteil vom Individualverkehr ist gestiegen, teilweise sogar nachhaltig im Vergleich zu vor Corona.

Das Dilemma auf dem Land ist, dass viel gependelt werden muss, gleichzeitig aber die ÖPNV-Netze meist schlecht ausgebaut sind. Hat das Pendeln mit dem Öffentlichen Nahverkehr in unserer Region überhaupt eine Chance?

Wir müssen uns dem Thema stellen. Das ist ein Hochpolitisches im Hinblick auf die Verkehrswende. Dieser gebe ich in unserer Region durchaus eine Chance. Klar, einen Viertelstundentakt im ÖPNV-Netz wird es im ländlichen Raum nicht geben. Das wäre schlichtweg nicht finanzierbar. Was aber jetzt noch gar nicht angesprochen wurde: Wie geht es mit dem autonomen Fahren weiter mit Fokus auf Bus und Bahn? Bei der Bahn gibt es ja durchaus die Möglichkeit. Es gibt einen eigenen Fahrweg, der ist besonders geschützt. Man könnte autonom fahren – und Taktverbesserungen vornehmen. Zudem hätte man ein Riesenproblem gelöst, nämlich das Personalproblem. Viele Züge fallen aus, weil kein Personal da ist. Autonomes Fahren wird aus meiner Sicht ein Riesenthema für die Zukunft sein.

Wie kann oder muss das Pendeln der Zukunft aussehen?

Im ländlichen Raum wird das Auto weiterhin eine große Bedeutung spielen. Die Frage ist, mit welchem Antrieb. Auch die Bildung von Fahrgemeinschaften ist ein Thema. Wenn wir alle konstante Arbeitszeiten hätten, dann wäre die Sachlage hier natürlich etwas einfacher. Aber gerade verändert sich auch die Arbeitswelt. Homeoffice ist weitgehend als alternative Arbeitsform akzeptiert worden. Und es wird nachhaltig zunehmen, da bin ich mir sicher. Weil auch die Unternehmen durchaus positive Auswirkungen verbuchen, indem sie zum Beispiel nicht mehr so viele Büros brauchen.

In den Städten wird auf jeden Fall der Anteil des Radverkehrs steigen. Und ganz wichtig: Die ÖPNV-Verknüpfungspunkte müssen so gestaltet werden, dass man auch verstärkt mit dem ÖPNV fahren will. Ich hoffe, dass die Bundesgartenschau 2029 im Mittelrheintal für die Region eine Initialzündung für die Verkehrswende wird. Warum? Das Mittelrheintal hat einfach keine Kapazitäten für den Individualverkehr der Buga-Gäste. Wo sollen die alle parken? Das Rückgrat der Buga wird deshalb der ÖPNV sein. Die Bahn wird eine sehr dominante Rolle spielen, weil es eine dezentrale Buga sein wird. Das muss entsprechend organisiert werden. Und das sind Dinge, die bleiben.

Wie könnte man denn konkret bewirken, dass Menschen auf dem Land nicht mehr nur mit dem Auto pendeln?

Das wesentliche Kriterium ist aus meiner Sicht der Verkehrsmix. Aktuell überwiegt bei uns ein monomodales Verkehrsverhalten. Das heißt, ich setze mich in mein Auto, aufs Fahrrad, in den Bus oder die Bahn und fahre zur Arbeit. Ich plädiere auf dem Land für ein intermodales System. Das bedeutet, ich fahre zum Beispiel mit dem Auto zum nächstgelegenen Bahnhof und steige dort um in den Zug. Aber: Damit so ein System funktioniert, müsste Einiges getan werden. Bahnhöfe müssen genug Parkplätze haben. Wenn Sie zum Beispiel ein Mittelzentrum im Rheintal haben, wie St. Goarshausen oder Boppard, dann gehören für mich dort Parkhäuser an die Bahnhöfe. Man sollte aber nicht auf die Idee kommen, diese nachhaltig zu bewirtschaften.

Das Bahnhofsumfeld muss attraktiver gestaltet werden. Es sieht oft wirklich nicht einladend aus. Dann müssen wir die Qualität der Züge verbessern. Die Verspätungen müssen deutlich reduziert werden. Und wir brauchen einen attraktiven Preis für den ÖPNV. Da haben wir ja das Licht am Horizont mit dem 49-Euro-Ticket. Das geht absolut in die richtige Richtung.

Genauso braucht man gute Abstellanlagen für Fahrräder. Wir müssen Abstellanlagen haben, die sicher sind. Der Radweg allein ist es nicht. Der Parkplatz fürs Fahrrad ist genauso wichtig. Auch die Anhebung der Parkgebühren in der Stadt kann die Verkehrswende fördern. Das kann Ihre Entscheidung beeinflussen, ob Sie mit dem Auto oder mit dem ÖPNV in die Stadt fahren. Solche drastischen Schritte werden von vielen Bürgerinnen und Bürgern, aber auch von Gewerbetreibenden natürlich sehr kritisch gesehen. Da ist viel Diskussionsstoff drin. Was ich aber damit sagen will: Parkgebühren sind auch ein Instrument der Verkehrsplanung. Zu guter Letzt brauchen wir eine viel bessere Vernetzung der einzelnen Verkehrsmittel. Ich muss bis zu meinem Zielort Dinge durchbuchen und durchdenken können, etwa über entsprechende Apps.

Das klingt alles nach viel Arbeit und sehr vielen Kosten. Reichen die bisherigen Investitionen von Land und Kommunen aus oder braucht es mehr?

Viel mehr. Viel mehr. Ich kann Ihnen jetzt keine genauen Zahlen nennen. Aber mal ein überschlägiger Wert: Wenn Sie die Fahrradmobilität nachhaltig fördern wollen, wie zum Beispiel Europas Musterfahrradstadt Kopenhagen, geht man von einem Bedarf von 100 Euro pro Kopf pro Jahr aus. In Koblenz wären das mehr als 10 Millionen Euro im Jahr. Und das Ganze müsste man über mehrere Jahre investieren. Es hängt immer auch von der Politik und natürlich der individuellen Finanzsituation der Kommunen ab. Es gibt Bundesländer, die sehr viel Geld in den ÖPNV investieren. Nach meiner Kenntnis ist es in Rheinland-Pfalz noch nicht so. Kommunen können Maßnahmen im großen Stil nur umsetzen, wenn sie Zuschüsse vom Land bekommen. Und Geld fehlt leider momentan in nahezu allen Bereichen.

Das Gespräch führte Matthias Kolk

So viele Menschen pendeln in Rheinland-Pfalz
Wie viele Menschen in Rheinland-Pfalz von wo nach wo zur Arbeit fahren, zeigt der Pendleratlas, den die Statistischen Ämter der Länder vor Kurzem veröffentlicht haben. Hier können Interessierte die Pendelverflechtungen zwischen einzelnen Städten und Gemeinden bzw. Gemeindeverbänden abrufen.

Knapp 1,3 Millionen Pendler leben in Rheinland-Pfalz. Pendler sind per Definition alle, die ihre Verbandsgemeinde, in der sie wohnen, verlassen müssen, um zur Arbeitsstelle zu kommen. Rund 815 700 pendeln demnach nicht, sondern arbeiten in der Verbandsgemeinde, verbandsfreien Gemeinde oder Kreisfreien Stadt, in der sie wohnen.

In Rheinland-Pfalz verzeichneten lediglich 34 der 170 Verwaltungseinheiten (darunter 27 Städte) im vergangenen Jahr mehr Ein- als Auspendler. Die drei großen Städte des Landes – Mainz, Ludwigshafen und Koblenz – vereinen gut ein Fünftel der Einpendelnden auf sich.

Den höchsten Einpendelüberschuss hatte dabei die Stadt Koblenz (43.322). Die Ergebnisse stammen aus der Pendlerrechnung der Länder, die erstmals tief regionalisierte Ergebnisse zu den Pendelnden für alle Gemeinden Deutschlands bereitstellt. Die Pendlerrechnung stellt dabei lediglich erwerbsbedingte „potenzielle“ Mobilitätsströme dar. Aus den Ergebnissen können keine Aussagen darüber getroffen werden, ob und wenn ja wie häufig die Personen tatsächlich zu ihrem Arbeitsort pendeln oder wie oft sie im Homeoffice arbeiten.

Die Daten stammen aus der Statistik der sozialversicherungspflichtigen und geringfügigen Beschäftigung der Bundesagentur für Arbeit und der Personalstandstatistik des Bundes und der Länder zum Stichtag 30. Juni 2021 sowie aus dem Mikrozensus bzw. der Arbeitskräfteerhebung (Jahresdurchschnittsergebnisse).

Basierend auf Daten des neuen Pendleratlas der Statistischen Ämter der Länder und dem Pendleratlas der Bundesagentur für Arbeit haben wir eine interaktive Veranschaulichung der Pendlerverflechtungen erstellt. Konzentriert haben wir uns dabei auf die Ein- und Auspendler aus der Stadt Koblenz. red/nls

Top-News aus der Region

Weitere regionale Nachrichten