Gastbeitrag zu Weitefeld
Gewalttat im Westerwalddorf: Auf einmal mittendrin
Plötzlich kennt ganz Deutschland den Namen eines Westerwalddorfes: Weitefeld.
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„Etwas ist geschehen, das keiner so recht erklären kann.“ So beschreibt der Trierer Soziologe Michael Jäckel in seinem Gastbeitrag für unsere Zeitung die Situation in und um Weitefeld. Ein nachdenklicher Text über ein Verbrechen und die Folgen.

Plötzlich kennt ganz Deutschland den Namen eines Westerwalddorfes: Weitefeld. In der 2300-Einwohner-Gemeinde im Kreis Altenkirchen hat sich am Sonntag, 6. April, ein abscheuliches Verbrechen abgespielt. Drei Menschen wurden brutal getötet. Seitdem sucht die Polizei fieberhaft nach dem Täter – dringend tatverdächtig ist ein 61-Jähriger aus dem Nachbarort. Alexander Meisner hat eine Vergangenheit als Gewaltverbrecher. Von ihm fehlt jede Spur. Im Westerwald und darüber hinaus sind die Sorgen groß, die Polizei reagiert darauf und zeigt verstärkt Präsenz. Und die Medienmaschine rattert, nicht nur Zeitungen und etablierte Internetseiten berichten, auch in sozialen Netzwerken wird die Tat immer und immer wieder thematisiert.

Was macht das mit den Menschen, die in diesem Wirbelsturm leben? Wir haben den Trierer Soziologen Michael Jäckel um eine Einordnung gebeten. Jäckel – geboren 1959 in Oberwesel (Rhein-Hunsrück-Kreis) – ist Professor für Soziologie und war von 2011 bis 2023 Präsident der Universität Trier. Er publiziert in den Bereichen Konsumforschung, Medienwirkung und Digitalisierung. Dies ist sein Gastbeitrag:

Der Soziologe Michael Jäckel – geboren 1959 in Oberwesel (Rhein-Hunsrück-Kreis) – war von 2011 bis August 2023 Präsident der Universität Trier.
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Der Normalfall eines Medienalltags besteht im Beobachten von Dingen, die andere für wichtig halten. Eigentlich ist man meistens in der Rolle eines distanzierten Beobachters. Nur gelegentlich, wenn einem zum Beispiel der Kragen platzt, neigt man zu Rückmeldungen an ein professionalisiertes Berichtswesen und kommentiert oder regt sich auf. Das Gefühl, eine Information zu verpassen, ist jedenfalls weniger stark ausgeprägt. Aber dann, auf einmal, aus heiterem Himmel scheint einem die Übersicht verloren zu gehen. Gerade in einer solchen Wechselsituation wird bewusst, wie es um das richtige Maß bestellt ist. Informationen scheinen immer entweder in zu geringer oder zu großer Zahl verfügbar zu sein – niemals jedoch in der richtigen Dosis.

Ob in diesem täglichen Wiederholungszirkus ein Bedürfnis nach Kongruenz zwischen dem Geschehenen und dem Berichteten besteht? In ihrem Roman „Asymmetrie“ gibt Lisa Halliday die passende Antwort: „Immer passiert irgendetwas, immer wird man über irgendetwas informiert und hat doch nie genug Zeit, um sich ausreichend informiert zu fühlen.“ Zum Normalfall gehört auch, dass sich das Interesse an dem Themenspektrum je nach Neigung, Bildung und so weiter unterscheidet. Und normal ist ebenso, dass es unterschiedliche Grade der Betroffenheit gibt, die nicht nur über Interessen gesteuert werden. Im Medienzeitalter wiederholen sich kollektive Formen der Bestürzung, Trauer, Freude, Sorge oder Angst in einer Frequenz, die unserer Empathie viel abverlangt.

Mit Flatterband der Polizei ist eine Straße in Weitefeld abgesperrt. Die Ermittlungen zu der Gewalttat mit drei toten Familienmitgliedern im Westerwald gehen weiter.
Thomas Frey. picture alliance/dpa

Aber was geschieht, wenn das Rampenlicht auf den Ort fällt, an dem die Welt da draußen bis gestern noch so weit weg schien? Plötzlich also werden die Scheinwerfer auf einen Bereich gelenkt, von dem man bislang meinte, ihn aus eigener Anschauung recht gut zu kennen. Um im Bild zu bleiben: Er erscheint uns hinreichend ausgeleuchtet. Etwas ist geschehen, das keiner so recht erklären kann. Es gibt eine schreckliche Tat und einen Verdächtigen, nach dem fieberhaft gesucht wird. Man weiß nicht, wo er sich aufhält. Wo also soll man sich selbst hinbegeben? Wie bedrohlich ist das für meine Familie und so weiter?

Hinweise, die zur Aufklärung des Falls beitragen können, werden erbeten. Man soll also mit kontrollierter Offenheit eine Ermittlung, deren Vorgehensweise aus guten Gründen nicht öffentlich gemacht wird, unterstützen und akzeptieren, dass dies der einzig vernünftige Weg ist. Die Verantwortlichen in Polizei und Justiz erleben erneut einen Drahtseilakt zwischen Schweigen und Reden. Sie müssen einen guten Weg finden, ihre Routinen mit dem Einmaligen der jeweiligen Krisenlage zu vereinen.

Dieses rationale Argument trifft auf verunsicherte Menschen mit ihrem privaten und gemeindlichen Umfeld. Ständig werden Warum-Fragen formuliert, die ohne Lösung bleiben. Vorstellungen davon, wie man vielleicht besser und sinnvoller vorgehen sollte, machen die Runde. Die Angst und Unsicherheit, die sich als gesellschaftliches Phänomen ohnehin seit Jahren verfestigt hat, greift nun wie ein verlängerter Arm dieser diffusen Macht in das persönliche Empfinden ein. Räume der Begegnung werden geschaffen, Solidarität gezeigt, die Gemeinschaft als Klammer gesucht, andere wiederum isolieren sich und wollen von der Welt da draußen unbehelligt bleiben.

Nachrichten werden nun auch nicht mehr als selektive Signale aus einer Welt, die sich ständig über sich selbst informiert, wahrgenommen. Plötzlich ist man selbst der Spielball eines ungebetenen Regisseurs. Die dramatische Gesellschaft, die sich in meist entspannter Atmosphäre in eine spannende Unterhaltung „hineinziehen“ lässt, will dies aus dem nicht-fiktionalen Tagesablauf verdammen. Am Fortgang interessiert nur das rasche Ende.

„In den sozialen Medien ist die Kontrolle über den Fortgang von Nachrichten, die sich vorab keiner redaktionellen Durchsicht stellen müssen, eine besondere Kunst geworden.“
Michael Jäckel

Aber neben die Ruhe ist auch ein unruhiges Medium getreten, das ständig gefüttert werden möchte. In den sozialen Medien ist die Kontrolle über den Fortgang von Nachrichten, die sich vorab keiner redaktionellen Durchsicht stellen müssen, eine besondere Kunst geworden. Aus den vielen Krisensituationen der jüngeren Vergangenheit können Fälle benannt werden, in denen es der polizeilichen Kommunikation gelang, die vielstimmigen Sorgen zu befrieden.

Aber zur Krisenkommunikation gehört, selbst souverän zu bleiben und sich bewusst zu werden, dass in jedem Wort eine echte Entscheidung liegen kann. Als Sender „funkt“ man in ein bereits als beschädigt erlebtes Umfeld, das plötzlich so viel über die eigene Nahwelt erfährt. Es ist leider auch die Zeit der selbsternannten Detektive. Deutlich wird nun zudem, wie brüchig die Vorstellung von Vertrautheit ist.

Jedenfalls fällt es schwer, die Gedanken von einem Ereignis zu lösen, das sich in den Vordergrund gedrängt hat. Ständig werden Appelle an die Vernunft wahrgenommen. Gleichzeitig ist vieles im Umlauf, von dem man nicht weiß, ob es der Wahrheit entspricht. Ob Gerücht oder nicht: Für die Prüfung sind die Umstände, in denen die meisten ohnehin verunsichert sind, ein fruchtbarer Boden für das älteste Massenmedium der Welt. Aus dem Hörensagen ergeben sich unversehens Kettenreaktionen. Niemand ist in der Lage zu sagen, wann und wo sich solche Geschichten verlaufen und was aus einer Erstversion geworden ist.

In dieser Gemengelage sind die Verantwortungszuschreibungen dennoch von seltener Klarheit. Zu den vielen Diagnosen, die die Welt, in der wir leben, zum Gegenstand haben, gehört auch, diese als das Zeitalter der Angst zu beschreiben. Diese unattraktive und doch verbindende Klammer äußert sich auf unterschiedlichen Ebenen: die großen Krisen und Herausforderungen, kombiniert mit eigenen Erfahrungen, direkten und indirekten Bedrohungen. Immer geht es uns darum, unsere Umwelt wieder beherrschen zu wollen und aus einem Gefühl der Sicherheit zu handeln. Das Bild einer fließenden Angst, die eine Art von Verfolgungswahn auslöst, nährt den therapeutischen Bedarf.

Überhaupt ist man nun für Irritationen empfänglich. Wie kann der weg, dieser Störfaktor, der sich individuell und kollektiv in einem diffusen Unbehagen bemerkbar macht? Es kann dazu führen, dass man sich jeglicher Hilfe von außen verschließt und nur darauf hofft, dass die Dinge sich wieder dem Alltag aus der Zeit davor nähern. Und es geht nie ohne Aufgeregtheiten zu. Am Ende ist es häufig die Besonnenheit, die allenthalben vermisst wurde. Aber inmitten des Unbehagens ist diese schwer zu finden.

„Konsum – Eine Abrechnung“

„Konsum“ lautet der Titel des gerade erschienenen aktuellen Buchs von Michael Jäckel. Untertitel: „Eine Abrechnung.“ Als Leitgedanke soll in diesem Buch eher mit dem Begriff gespielt werden, heißt es im Begleittext: „Der kalkulatorische Blick nimmt, wenn es um die Erklärung unseres Verhaltens geht, eine wichtige Rolle ein: Was bringt es? Was kostet es? Das Konsumumfeld fordert auch immer wieder dazu auf. Denn die Konsumgesellschaft ist auf Störung und Unterbrechung angelegt.“ Das Werk ist im Verlag Springer erschienen (157 Seiten, 22,99 Euro). red

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