Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz, keine Anklage gegen den ehemaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), zu erheben, wollen einige Akteure nicht akzeptieren. Gerd Gräff ist einer von ihnen. Der 71-Jährige war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2019 stellvertretender Leiter der Abteilung Katastrophenschutz im rheinland-pfälzischen Innenministerium und darüber hinaus Gutachter im Flut-Untersuchungsausschuss des Landtags. Im Gespräch mit unserer Zeitung hat der Bad Sobernheimer dargelegt, warum die Ermittlungen aus seiner Sicht wieder aufgenommen werden müssen. Und auch darüber gesprochen, welche Rolle die Leidensgeschichte seines im vergangenen Jahr an ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) verstorbenen Sohnes bei seinem Kampf für weitere Ermittlungen gegen Pföhler spielt.
Vor einem Jahr erlag Gräffs Sohn den Folgen einer ALS-Erkrankung. „Mein Sohn war durch die Krankheit bewegungsunfähig. Er konnte aber via Augenaufschlag über Computer kommunizieren“, erklärt Gräff. Ein prominenter ALS-Leidensgenosse war der britische Physiker Stephen Hawking - auch er nutzte seine Augen, um über eine technische Vorrichtung sprechen zu können. Bei Gräffs Sohn war die Krankheit mit 37 Jahren ausgebrochen – er verstarb ein Jahrzehnt später. „Mein Sohn wäre dieses Jahr 47 geworden“, sagt Gräff nachdenklich. „Er war Amtsarzt.“
ALS-Patient nicht ad hoc evakuierbar
Wie Gräff berichtet, habe sein Sohn im Juli 2021 – also einige Tage vor der Ahrflut – besorgt die Wetterberichte verfolgt. „Er wohnte in der Nähe eines Bachlaufes in Bad Sobernheim“, sagt Gräff. Drei Tage vor der Flut habe man indes noch nicht verbindlich sagen können, welche Region letztlich von dem Extremwetter betroffen sein würde. „Trifft es den Westerwald? Den Kreis Ahrweiler? Oder den Rhein-Hunsrück-Kreis? Bad Kreuznach?“, zählt Gräff Fragen auf, die sein Sohn damals gehabt habe. Denn: „Einen ALS-Beatmungspatienten kann man nicht ad hoc evakuieren. Deshalb war er von diesen europäischen Wetterprognosen sehr besorgt. Die hat er in den Tagen vor der Flut sehr genau verfolgt.“
Am Tag vor der Flut habe es schließlich Hinweise darauf gegeben, dass es sehr wahrscheinlich eher Nordrhein-Westfalen und den Norden des Landes Rheinland-Pfalz treffen werde, so der 71-Jährige. „Als in Bad Neuenahr- Ahrweiler also Alarmismus am 14. Juli hätte entstehen müssen, konnten wir im Süden entspannt bleiben.“ Später habe er gemeinsam mit seinem Sohn die Fernsehbilder aus dem Norden des Landes verfolgt. „Allerdings kannten wir zu diesem Zeitpunkt keine Details. Und gingen auch davon aus, dass jeder der Verantwortlichen getan hatte, was er tun konnte. Und da gab es auch kein Misstrauen, dass da irgendjemand nichts getan haben könnte.“
Katastrophe absehbar?
All das sehe er heute aber nicht mehr so, im Gegenteil, sagt Gräff. Der 71-Jährige unterstreicht im Gespräch mit unserer Zeitung, dass die Kreisverwaltung Ahrweiler Jahre vor der Katastrophe über die Gefahren von Hochwasser in der Region informiert worden sei. Das Mainzer Umweltministerium und das Landesamt für Umwelt hätten die Kreisverwaltung 2014 bei einem Treffen der Hochwasserpartnerschaft Ahr auf Hochwassergefahren sowie entsprechende Risikokarten und Überflutungsgebiete aufmerksam gemacht, sagt Gräff.
Die Hauptkritik des 71-Jährigen betrifft das Lebenshilfehaus in Sinzig. Gräff führt diesbezüglich entsprechende Hochwassergefahrenkarten ins Feld, die der Kreisverwaltung Ahrweiler vorgelegen hätten. „Die müssen von allen Behörden beachtet werden“, behauptet der Bad Sobernheimer. Und aus diesen Karten sei klar ablesbar, dass das Lebenshilfehaus Sinzig in einem Überflutungsgebiet liege. „Um 15.36 Uhr war am 14. Juli absehbar, dass das in den Hochwassergefahrenkarten als überflutungsgefährdet eingetragene Lebenshilfehaus Sinzig auch tatsächlich in der Nacht überflutet werden wird.“
Zwölf Menschen starben im Lebenshilfehaus
Gräff sagt ferner, dass um 17.17 Uhr die höchste Hochwassergefahrenstufe vom Landesamt für Umwelt ausgerufen worden sei. „Und damit war es – sogar nach der Bewertung des Untersuchungsausschusses – klar, dass es in der Nacht zu einem Extremhochwasser kommen wird.“ Man hätte also noch etliche Stunden für die Evakuierung der behinderten Menschen im Lebenshilfehaus gehabt, unterstreicht der Ex-Katastrophenschützer.
Doch dies sei nicht geschehen: In der Nacht zum 15. Juli 2021 sei dann schließlich gegen 2.30 Uhr die Flutwelle in das Gebiet geschossen. „Zwölf der 38 Menschen in dem Haus sind gestorben. Diejenigen, die ihre Schlafräume im Untergeschoss hatten“, sagt Gräff. Weil der 71-Jährige selbst einen behinderten Sohn hatte, gehen ihm besonders diese zwölf Tode sehr nah. „Weil das doch Menschen waren, die in einer ähnlichen Situation wie mein Sohn waren.“ Und, weil sie aus Gräffs Sicht sehr leicht hätten verhindert werden können – durch eine frühzeitige Evakuierung.
Gräff hat Gutachten eingereicht
Die Flutkatastrophe im Ahrtal hatte im Juli 2021 insgesamt 136 Todesopfer in Rheinland-Pfalz gefordert, 135 davon im Ahrtal, eine weitere Person starb im Raum Trier. Derzeit läuft bekanntlich ein Beschwerdeverfahren, bei dem die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz die Entscheidung der Koblenzer Staatsanwaltschaft, keine Anklage gegen Pföhler zu erheben, überprüft. Auch Gräff hat Gutachten eingereicht. Er erhofft sich davon, dass die Generalstaatsanwaltschaft zu dem Ergebnis kommt, dass zumindest nachermittelt werden muss.
Auf Anfrage unserer Zeitung teilt ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft zum derzeitigen Stand der Überprüfung mit: „Nach den derzeitigen Planungen rechne ich damit, dass die Sichtung der aus mehreren Zehntausend Aktenseiten und zahlreichen Datenträgern und Beweismitteln bestehenden Akten des Verfahrenskomplexes nicht vor Ende des kommenden Monats abgeschlossen werden kann. Danach müssen die Ergebnisse noch sorgfältig im Hause besprochen und abschließend zu Papier gebracht werden. Wann die hiesigen Überprüfungen abgeschlossen sein werden, lässt sich daher gegenwärtig noch nicht verlässlich festlegen.“
„Es geht um große Menschenrechtsverletzungen“
Gräff hat seine Gutachten auch an Amnesty International gesandt. Die bekannte Nichtregierungsorganisation recherchiert und publiziert Menschenrechtsverletzungen. Der 71-Jährige berichtet im Gespräch mit unserer Zeitung, dass er von dort auch eine Rückmeldung erhalten habe: Man könne sich dieses Einzelfalles – gemeint sei das Lebenshilfehaus Sinzig - zwar nicht annehmen, werde die Causa aber weiter beobachten, sei ihm von Amnesty mitgeteilt worden, so Gräff.
„Es geht um große Menschenrechtsverletzungen“, behauptet der 71-Jährige mit Blick auf die Ahr-Katastrophe. Und erklärt dann, wie er diese These begründet: „Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert von den Mitgliedstaaten einen wirksamen Schutz von behinderten Menschen bei Naturkatastrophen. Dazu gehören Evakuierungspläne, die rechtzeitig – vor Eintreffen einer Flut beispielsweise –, aktiviert werden müssen.“ Diese Forderung habe die Kreisverwaltung mit Blick auf das Lebenshilfehaus in Sinzig nicht umgesetzt, so der 71-Jährige – obwohl seit 2014 klar gewesen sei, dass das Haus in einem Überflutungsgebiet liegt. Bis zur Katastrophe im Jahr 2021 hätte man also etwa sieben Jahre Zeit gehabt, entsprechende Rettungspläne zu erarbeiten, betont Gräff.
Er legt sich in seinem Kampf für eine Anklage gegen den ehemaligen Ahrtal-Landrat gefühlt mit der ganzen Justizszene des Landes an: Flutopfer-Anwalt Christian Hecken. Mit unserer Zeitung hat der 42-Jährige nun darüber gesprochen, was ihn antreibt.Was treibt Flutopfer-Anwalt Christian Hecken an?