Der Vorsitzende des Ethikbeirats verteidigt Vorgehen: Einzelne können bei der Impfstrategie nicht bevorzugt werden
Frühere Impfung für Hochrisikopatient?: Regierung bleibt im Fall Benni Over hart – Ethikrat verteidigt Impfstrategie
Benni Over (30) kämpft um eine frühe Impfung
privat

Es ist ein Einzelschicksal, aber die Geschichte des schwerstkranken Benni Over aus Niederbreitbach im Kreis Neuwied, der an einer unheilbaren Muskeldystrophie leidet und als Hochrisikopatient gilt, steht stellvertretend für viele Familien im Land. Ihre Situation ist schwierig: Besonders schutzbedürftige Angehörige werden laut der Impfstrategie, die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Ende vergangener Woche vorgestellt hat, nicht früh gegen das Coronavirus geimpft werden, weil sie zu jung sind und zu Hause gepflegt werden. Die Familie des 30-jährigen Benni kämpft nun dafür, dass für ihren Sohn und ähnlich gelagerte Fälle Einzelfallentscheidungen getroffen werden, und kritisiert in unserer Zeitung die zuständigen Behörden, von denen sie eine „vertröstende Standardantwort erhalten“ habe, sagt Bennis Vater Klaus Over.

Benni Over (30) kämpft um eine frühe Impfung
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Der Vorsitzende des Ethikbeirats Corona-Schutzimpfung, Prof. Norbert W. Paul, meldet sich nun in einer Stellungnahme zu Wort, die unserer Zeitung vorliegt. Darin äußert er Verständnis für die Familie Over und alle anderen in einer ähnlichen Situation, macht ihnen aber auch wenig Hoffnung: „Einzelne jetzt zu bevorzugen, auch wenn sie ihre Situation zu Recht als sehr belastend einschätzen, ist in der momentanen Situation absoluter Knappheit ethisch nicht zu begründen.“

Mit Knappheit meint Paul die Versorgung des Landes mit Impfdosen. „Zum Auftakt der Impfungen wird es leider erwartbar deutlich zu wenige Impfdosen geben, um bereits im ersten Schritt alle Risikogruppen versorgen zu können“, schreibt er. Deshalb müsse zwangsläufig der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl an Menschen in den Blick genommen werden, „auch wenn dies durch Einzelne als als ungerecht empfunden wird“.

Im Impfplan sollen in einem ersten Schritt Menschen geimpft werden, die in Pflegeheimen leben. Paul erklärt das mit dem „Bestreben, Menschen in Orten mit sehr aktivem Infektionsgeschehen zu schützen. Das Leben in Häusern der Pflege und der Eingliederungshilfe ist immer ein Leben der Begegnung. Bei unseren betagten Mitbürgern verläuft die Krankheit besonders schwer und häufig tödlich.“

Im Falle einer Erkrankung benötigten sie zumeist die Hilfe der ohnehin stark belasteten Intensivmedizin, oft über Wochen. „Ein Schutz der Menschen in den Einrichtungen der Pflege und Eingliederungshilfe zur Vermeidung von Ansteckung schützt indirekt damit auch den Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung für uns alle“, schreibt Paul weiter.

Häusliche Zwangsisolation sorgt für Probleme

„Das Dilemma, in dem wir bei der Vergabe des zu Beginn so knappen Impfstoffs stehen, ist bei diesem Gedanken sofort spürbar und mehr als schmerzhaft“, ist dem Mediziner und Philosophen bewusst. Der Ethikrat werde mit „großer Umsicht, Empathie und Bestimmtheit“ alles daransetzen, Menschen mit besonderen Risiken, die sich anderweitig schlecht schützen können, mit hoher Priorität zu impfen. „Eine Abwägung zwischen dem Leid des einen und dem Leid des anderen kann und darf es jedoch nicht geben.“

Für Familie Over geht es um jeden Tag, den Benni früher vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus geschützt ist. Die Zwangsisolation, in die sich die Familie vor bereits zehn Monaten begeben hat, ist da nur eine Seite der Medaille. Schwerer wiegt die Tatsache, dass notwendige Therapien ausfallen, weil die Therapeuten sich weigern, zu den Overs ins Haus zu kommen – vor Angst, Benni ungewollt zu infizieren.

Die fehlenden Therapien machen sich bereits bemerkbar. Der Vater beschreibt die Situation sehr klar: „Wenn Therapien nicht sofort wieder aufgenommen werden, dann wird er die nächsten Monate, auch ohne an Corona zu erkranken, nicht überstehen.“

Rheinland-Pfalz zählt rund 154.000 Personen, die ambulant gepflegt werden

Die Gruppe der ambulant, also im eigenen Zuhause gepflegten Menschen, zu denen auch Benni Over gehört, umfasse im Land Rheinland-Pfalz rund 154.000 Personen, schreibt Paul in seiner Stellungnahme. Davon seien allein 47.000 älter als 75 Jahre.

Die rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler sagte der Deutschen Presse-Agentur, es sei noch nicht klar, wie viele Impfdosen das Land im ersten Schwung erhalten werde, „klar ist nur, dass es nicht ausreichen wird, um die Priorisierung, die vorgegeben wird, zu Beginn komplett erfüllen zu können“. Daher werde man „jetzt erst einmal dort beginnen, wo die Impfungen ganz dringend notwendig sind, nämlich in den Alten- und Pflegeheimen“.

Paul betont: „Die Impfstrategie wird in unserem Bundesland fortlaufend angepasst, um schnellstmöglichen Schutz zu organisieren und niemanden zurückzulassen.“ In der aktuellen Situation – gerade weil die Frage ethisch so brisant ist – brauche es aber klare und verlässliche Regeln für alle. „Daher muss an dieser Stelle bedauerlicherweise noch an Geduld und Solidarität appelliert werden.“

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