Erst auf, dann zu: Der neueste Stand der Corona-Inzidenzwerte hat Folgen für Einzelhändler und Kunden - Land stoppt Alleingang in Pirmasens
Einzelhandelserverband fordert: „Nicht sklavisch an Inzidenzen festhalten“
Der Einzelhandel leidet weiter unter der Pandemie: Wegen Corona-Beschränkungen wird nicht nur die Zahl der Kunden begrenzt – in immer mehr Landkreisen ist wegen steigender Inzidenzwerte wieder nur Terminshopping erlaubt. Foto: dpa
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Rheinland-Pfalz. Steigende Infektionszahlen haben die Diskussion um „Corona-Notbremsen“ und die Rückkehr zu schärferen Maßnahmen neu angeheizt. Der rheinland-pfälzische Einzelhandelsverband fordert, die Bewertung des weiteren Pandemiegeschehens auf eine breitere Grundlage zu stellen. „Wir müssen uns grundsätzlich der Frage widmen, ob der Inzidenzwert tatsächlich der richtige Ansatzpunkt ist“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Rheinland-Pfalz, Thomas Scherer.

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Es sei zu erwarten gewesen, dass die Inzidenzzahlen steigen, sobald Kitas, Kindergärten und Schulen geöffnet werden. Wenn demnächst noch mehr getestet werde, würden die Zahlen ebenfalls nach oben gehen. „Deshalb lautet unsere Forderung, dass man sich nicht sklavisch an den Inzidenzen festhält“, sagte Scherer. „Es müssen auch weitere Punkte wie etwa die Anzahl der vorgenommenen Tests und die Belastung des Gesundheitssystems miteinbezogen werden.“

Wegen der steigenden Inzidenzwerte müssen etliche Kommunen in Rheinland-Pfalz vorherige Lockerungen wieder zurücknehmen. So sieht es die Corona-Verordnung im Land vor. In Mainz etwa gelten seit Dienstag wieder mehr Einschränkungen in Handel, Sport und Freizeit. So muss unter anderem der erst vor Kurzem geöffnete Handel wieder schließen. Terminshopping bleibt aber weiterhin möglich, sagte Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD). Eine entsprechende neue Allgemeinverfügung trat in der Landeshauptstadt am Dienstag um 0 Uhr in Kraft. Laut Ebling ein „bitterer, aber notwendiger Schritt“.

Auch im Landkreis Ahrweiler und im Rhein-Lahn-Kreis gilt bereits seit Dienstag wieder eine neue Corona-Verordnung, die die Rückkehr zum Terminshopping enthält und den Amateur- und Freizeitsport wieder einschränkt. Der Landkreis Neuwied und der Westerwaldkreis ziehen ab heute nach. In Koblenz wurde am Dienstag zum dritten Mal in Folge der wichtige Schwellenwert von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner knapp überschritten. Wann daraus welche Konsequenzen gezogen werden, war noch unklar.

Anders dagegen war zunächst die Lage in Pirmasens: Obwohl die pfälzische Stadt landesweit mit einer Inzidenz von 169 am Montag den höchsten Wert aufwies, wurde dort die „Corona-Notbremse“ nur mit halber Kraft gezogen. Zwar galten seit Montag strengere Regeln wie etwa eine Kontaktbeschränkung im öffentlichen Raum und beim Einkaufen. Die Geschäfte blieben aber zunächst geöffnet. Die Infektionslage sei geprägt von einem sprunghaften Anstieg der Fallzahlen aus einem Kindergarten seit vergangenem Mittwoch, begründete Oberbürgermeister Markus Zwick (CDU) die umstrittene Entscheidung. Den Einzelhandel nahm Zwick explizit in Schutz. Die Läden hätten keinen Anteil an dem sprunghaften Anstieg, betonte er. „Wir haben auch im Krankenhaus keinen Engpass auf der Intensivstation. Und wir haben vom Gesundheitsamt gemeldet bekommen, dass wir überwiegend jüngere Leute mit leichteren Verläufen haben“, fügte er an. Doch die Landesregierung zog in Pirmasens jetzt selbst die „Corona-Notbremse“.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) pocht auf die Einhaltung der mit den Kommunen vereinbarten Verschärfung der Corona-Maßnahmen bei einem entsprechenden Anstieg der Infektionszahlen. „Ich nehme die Bedenken aus den Kommunen ernst“, erklärte Dreyer am Dienstag nach einer Kabinettssitzung. „Ich nehme aber genauso ernst, was ich vorher mit ihnen verabredet habe: Wir können nur öffnen, wenn klar ist, wie der Weg zurück geht.“

Die Stadt Pirmasens, in der am Dienstag ein Inzidenzwert von 151,6 ermittelt wurde, wurde deshalb angewiesen, die Allgemeinverfügung des Landes umzusetzen, berichtete Oberbürgermeister Markus Zwick (CDU) am Dienstag. Die Geschäfte müssen weitgehend schließen. Ab heute dürfe der Einzelhandel in Pirmasens nur noch Terminshopping für maximal eine Person pro Laden anbieten. Außerdem gilt in der Stadt dann wieder eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 21 Uhr und 5 Uhr. Zwick sagte laut SWR, er müsse sich dem Erlass des Landes „zähneknirschend“ beugen.

Dreyer hingegen machte deutlich: Der Plan mit der Rücknahme von Öffnungsschritten beim Überschreiten festgelegter Inzidenzwerte sei mit allen Beteiligten so verabredet worden. „Natürlich war da nicht der Oberbürgermeister von Pirmasens dabei, aber die kommunalen Spitzenverbände“, fügte sie hinzu. In der überwiegenden Zahl der betroffenen Kommunen habe man sich an diese Vereinbarung erinnert und sie umgesetzt.

Mit seiner ursprünglichen Haltung, den Einzelhandel trotz hoher Inzidenzwerte nicht zu schließen, dürfte der Pirmasenser OB beim Handelsverband aber offene Türen eingerannt haben. Um die verwirrende Situation für Ladenbesitzer und Kunden zu beenden und die Geschäfte nicht von Tag zu Tag und von Woche zu Woche öffnen und wieder schließen zu müssen, heißt es nach Ansicht Scherers: Abschied nehmen vom starren Blick auf die Inzidenzzahlen. „Wir müssen von dem Inzidenzwert als Hauptkriterium für die Beurteilung des Pandemiegeschehens wegkommen“, sagte er. Dass es in einigen Städten derzeit nur Terminshopping statt richtig geöffneten Läden gibt, nimmt der Verband zähneknirschend zur Kenntnis. Diese Unsicherheit sei die „Kröte, die man schlucken musste“, räumte der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands ein. Ansonsten hätte die Gefahr bestanden, dass der Einzelhandel gar nicht hätte öffnen dürfen.

„Wir gucken nicht nur auf die Inzidenz“, betonte dagegen Ministerpräsidentin Dreyer. Es werde auch auf die Situation in den Krankenhäusern und die Ausweitung der Tests geschaut. Aber der „Perspektivplan“ zu weiteren Öffnungen beziehungsweise deren Rücknahme je nach Infektionslage habe die Inzidenzen als Schwerpunkt. Der Plan werde umgesetzt, auch wenn klar sei, dass die Inzidenzwerte aufgrund einer höheren Anzahl von Tests steigen könnten. „Das heißt nicht, dass das für alle Ewigkeiten in Stein gemeißelt ist.“

Auch beim Notnagel Terminshopping ist der Handelsverband unzufrieden. Es sei ein gewisses Maß an Flexibilität ratsam, sagte Scherer. So sei es in einigen Bundesländern explizit erlaubt, dass Geschäftsinhaber und Kunden spontan einen Termin ausmachen könnten, wenn die Situation es erlaube. In der rheinland-pfälzischen Verordnung heiße es dazu lediglich „nach vorheriger Vereinbarung“. Wie lange dieses „Vorher“ sein müsse, stehe nicht drin, unterstrich er. Wenn Platz im Geschäft sei, stelle sich die Frage, warum ein Ladeninhaber einen Kunden abweisen solle, nur weil dieser keinen Termin habe, sagte Scherer. „Oder ob man einem Kunden sagen soll: Rufen Sie mich in drei Minuten an, dann sage ich Ihnen, dass Sie in fünf Minuten kommen dürfen.“ Sollte man so etwas einfordern, wäre das „überbordender Bürokratismus“.

Scherer empfiehlt in diesem Zusammenhang den Blick zu den saarländischen Nachbarn. Dort hatte das Oberverwaltungsgericht in der vergangenen Woche eine wesentliche Vorschrift zur Beschränkung des Einzelhandels vorläufig außer Vollzug gesetzt. Dabei geht es um die Pflicht zur vorherigen Terminbuchung und die Beschränkung auf einen Kunden pro 40 Quadratmeter Verkaufsfläche. Sie sei eine Ungleichbehandlung gegenüber „privilegierten Geschäftslokalen“ wie Buchhandlungen und Blumenläden, in denen eine Person pro 15 Quadratmeter als „infektionsschutzrechtlich unbedenklich“ angesehen werde, teilte das OVG mit (Az. 2 B 58/21).

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