Herr Professor Dr. Hufen, das Bundeskabinett hat gerade ein neues Infektionsschutzgesetz verabschiedet. Der Bundestag soll möglichst noch in dieser Woche zustimmen. Die Zustimmung der Länder im Bundesrat sei nicht nötig, meint die Bundesregierung. Sind Sie auch dieser Auffassung?
Das ist sehr zweifelhaft. Bei der Regelung als solcher hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz. Das ist ganz klar. Aber die Regelung greift ja tief in die Verwaltungsabläufe der Länder ein, weil die Regeln unmittelbar gelten sollen und der Bund dazu eigene Verwaltungsvorschriften erlassen muss. Dazu braucht er nach Artikel 88 des Grundgesetzes die Zustimmung des Bundesrates, und damit ist das ganze Gesetz zustimmungspflichtig. Aber die inhaltlichen Probleme sind natürlich viel gravierender als die Frage der Zustimmungsbedürftigkeit.
Konkret greift der Bund bei den Schulen sehr deutlich in die Kompetenz der Länder ein ...
Ja, das ist ein ganz besonders heikler Punkt. Es finden sich Regeln zu Schule und Hochschule, speziell zur Schließung von Schulen, die wirklich genuin Ländersache ist. Das ist der Kernbereich der Landeskompetenz. Das halte ich für glatt verfassungswidrig – unabhängig von der Zustimmungspflicht.
Sie würden dem Land Rheinland-Pfalz nicht raten, diesem Gesetz zuzustimmen, wenn es denn gefragt würde?
Das würde ich überhaupt nicht raten. Das ganze Gesetz ist ein einziger Schnellschuss. Es soll eine einheitliche Regelung schaffen, schafft aber unglaubliche Reibungspunkte. Wir haben dann Regelungen, die dem Landesrecht vorgehen, aber die Landesverordnungen bleiben bestehen. Es gibt dann überschießende Regelungen, und kein Mensch weiß mehr, wo nun die Rechtsgrundlagen liegen – beispielsweise für Ausgehverbote. Das Land Rheinland-Pfalz hat zu den Ländern gehört, die eigentlich immer das gemacht haben, was im Bund beschlossen worden ist, und wo Abweichungen vorliegen, waren die durch rheinland-pfälzische Besonderheiten gut begründet. Das Land sollte wirklich sehr gut überlegen, ob es diesem Ungetüm von Gesetz zustimmen will.
Die Bundesregierung möchte das Infektionsschutzgesetz neu auflegen. Der Entwurf flirtet vor allem hinsichtlich der Ausgangssperre mit Rechtsbeugung. Eine Formulierungshilfe, verantwortet von Jens Spahn (CDU) und Horst Seehofer (CSU), die das Kanzleramt an die Fraktionen von Union und SPD ...Kommentar zum neuen Infektionsschutzgesetz: Bundesregierung flirtet mit dem Autoritären
Sie haben die Ausgehverbote angesprochen, die ja praktisch ein nächtlicher Hausarrest sind. Halten Sie das für verhältnismäßig?
Ausgehverbote sind ja von Anfang an in der kritischen Diskussion gewesen. Deutschland hat auch in der ersten schwierigen Phase – außer in Bayern – bei totalen Ausgehverboten nie mitgemacht, was andere Länder getan haben. Bei Ausgehverboten sprechen wir faktisch vom Einsperren der Menschen. Das bedarf besonderer Rechtfertigung, und es ist eben nicht erwiesen, dass sie wirksam sind. Die Aerosolspezialisten haben gerade am Montag ja sehr deutlich gemacht, dass im Freien nur eine ganz geringfügige Ansteckungsgefahr besteht. Problematisch sind Treffen in Innenräumen. Die finden dann eben um 8 Uhr oder mit Übernachtung statt. Die Ausgangssperren sind sicherlich ein sehr problematisches, wahrscheinlich sogar ungeeignetes Mittel und damit auch im juristischen Sinne unverhältnismäßig.
Sind die Ausgehverbote für vollständig geimpfte Menschen überhaupt gerechtfertigt?
Auch das ist ein besonders wunder Punkt. Das Gesetz bindet bestimmte Maßnahmen ausnahmslos an die Sieben-Tage-Inzidenz von 100, und das gilt automatisch auch für Sachverhalte, die wirklich nicht zu rechtfertigen sind. Es fehlen sämtliche Härtefallregelungen, die unbedingt notwendig sind, um schwerwiegende Grundrechtseingriffe zu vermeiden. Es gibt keine Ausnahmebestimmungen für Geimpfte, obwohl schon ganze Altersgruppen durchgeimpft sind. Das heißt, das sprichwörtliche ältere Ehepaar, das nach 9 Uhr noch mal um den Block gehen will – beide immun –, darf das nur, wenn es einen Hund dabei hat. Das ist lächerlich. Das könnte gar nicht lächerlicher sein.
Die Deutsche Dogge hat mehr Rechte als der deutsche Bürger?
Nein, der deutsche Bürger mit Dogge hat mehr Rechte als die Deutsche Dogge, aber auch als das voll geimpfte Ehepaar ohne Dogge.
Andere Ausnahmen folgen der Logik: Alles, was mit Berufen zu tun hat, ist erlaubt. Alles, was Spaß macht und die Freizeit betrifft, verboten. Kennt das Grundgesetz eine solche Unterscheidung?
Dieses Gesetz übernimmt die gleichheitswidrigen Regelungen, die sich schon in den Landesverordnungen gefunden haben. Alles, was geschäftsmäßig ist, ist privilegiert. Kunst, Kultur und Museen werden schlecht behandelt. Baumärkte bleiben geöffnet. Wir wissen einfach viel zu wenig über die Ansteckungsquellen, um derartig rigide ganze Bereiche stillzulegen. Die Leute dürfen in vollen S-Bahnen fahren, aber nur zur Arbeit, nicht zum Konzert. Da stecken merkwürdige Definitionen von Grundbedürfnissen dahinter. Wer weiß schon, ob für Menschen ein Konzertbesuch nicht viel wichtiger ist, als täglich eine Quarkschnitte zu kaufen. Das ist eine sehr einseitige Sicht von Systemrelevanz und Wesentlichkeit. Das sollte der Staat nicht regeln, und er sollte es schon gar nicht zentral regeln.
Wir haben über Ausgangssperren gesprochen. Die sind beispielsweise in Niedersachsen von einem Oberverwaltungsgericht (OVG) gekippt worden. Die Begründung: Die Politik könne „nicht annäherungsweise“ nachweisen, dass es sich um ein wirksames Mittel handelt. Nun wird materiell, also inhaltlich, dieselbe Regelung formell in ein anderes Recht, nämlich ein Bundesgesetz, gegossen, obwohl Bürger sich schon ihr Recht erstritten haben. Hebelt die Bundesregierung hier mit einem Taschenspielertrick den Rechtsstaat aus und macht ihn unglaubwürdig?
Sie macht ihn unglaubwürdig, und man merkt dabei die Absicht. Wenn das Ganze jetzt durch ein Bundesgesetz oder eine Rechtsverordnung des Bundes geregelt wird, dann schaltet man den Rechtsschutz aus. Es gibt keinen Rechtsschutz gegen Bundesgesetze und Rechtsverordnungen. Es ist klar beabsichtigt, die Oberverwaltungsgerichte aus dem Spiel zu nehmen. Das empört mich. Es gibt eine ganze Menge an Beispielen von Verboten, die dort aufgehoben oder ausgesetzt wurden.
Die Beherbergungsverbote wurden von verschiedenen Gerichten für verfassungswidrig erklärt, genauso die Ausgangssperren. Nun missachtet man diese Gerichtsentscheidungen. Aktuell laufen 10.000 Verfahren vor Verwaltungsgerichten, die dann alle Makulatur sind. Nun landet alles beim Bundesverfassungsgericht als einziger Ebene des Grundrechtsschutzes. Und da kann man nur sagen: Viel Spaß!
Karlsruhe wird überrannt?
Ja, eben. Die Autoren dieser Regelungen sind ja ganz besonders stolz darauf, dass sie direkt und unmittelbar gelten. Deshalb ist eine Verfassungsbeschwerde zulässig. Sie müssen nicht mehr warten, bis der Polizist sie erwischt. Sie können sich direkt wegen dieses Ausgangsverbots an das Bundesverfassungsgericht wenden.
Was bedeutet das für Bürger, die ihr Recht erstreiten wollen?
Das bedeutet vor allen Dingen, dass die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde viel geringer sind als vor den Verwaltungsgerichten. Jetzt bleibt aber nur die Verfassungsbeschwerde. Die ist zwar kostenlos, aber wenn sie nicht sehr gut begründet und am besten von einem sehr teuren Anwalt vertreten wird, hat sie eigentlich auch geringe Aussicht auf Erfolg.
Was passiert mit erstrittenen Ausnahmen, beispielsweise bei den Besuchszeiten in den Alten- und Pflegeheimen?
Man hat gemerkt, dass man die alten Leute nicht total isolieren darf. Dazu gab es Klagen, auch ich habe Gutachten erstellt. Die Ausnahmeregelungen zu Besuchszeiten sind inzwischen in der Landesverordnung enthalten. Nun droht wieder eine totale Sperre – und das, obwohl ein Großteil der Menschen dort inzwischen geimpft und immun ist. Darüber hat einfach niemand nachgedacht. Eine Katastrophe.
Das Interview führte Carsten Zillmann