Herr Jun, das Rennen um die Kanzlerkandidatur bei der Union gleicht einer nicht enden wollenden Zerreißprobe. Welche Aspekte sprechen für Armin Laschet und welche wiederum für Markus Söder?
Natürlich spricht für Laschet, dass er der Vorsitzende der größeren Partei ist. Dadurch hat er ein sogenanntes erstes Zugriffsrecht. Das möchte ihm der Vorsitzende der CSU offenkundig aber nicht zugestehen. Für Markus Söder spricht die deutlich höhere Popularität in den Umfragen. Hinzu kommt, dass innerhalb der CDU in der Kanzlerfrage keine Einigkeit besteht. Eine Entscheidung zugunsten von Laschet wäre die rationale Lösung, doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr spricht wiederum für Söder.
Wer auch immer am Ende siegreich aus diesem Duell hervorgeht: Es war zweifelsohne ein langwieriger Prozess bis zur Entscheidungsfindung. Welche Konsequenzen könnte das für den Wahlkampf der Union haben?
Es kann zu einer Demobilisierung im Wahlkampf kommen und dazu führen, dass sich die Unterlegenen nicht mehr so richtig engagieren. Die Wahl des „falschen“ Kandidaten kann für einen nachhaltigen Schaden sorgen. Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass die alten Trennlinien zwischen CDU und CSU, die abgedeckt schienen, nun wieder zum Vorschein kommen.
Als Partner für eine Koalition kommen aus Sicht der Union durchaus die Grünen infrage. Welchem Kanzlerkandidaten der Union würden Sie eine solche Koalitionsbildung eher zutrauen?
Das ist beiden Kandidaten zuzutrauen. Armin Laschet gehörte ja früher zur „Pizza-Connection“, und Markus Söder ist professionell genug, um sich einer Koalition mit den Grünen anzunähern. Er erfindet sich auch gern immer wieder neu. Erst vor gut einem Dreivierteljahr hatte er den Klimaschutz als neues, zentrales Thema für seine Partei genannt.
Kommen wir zu den Grünen, bei denen sich Annalena Baerbock gegen Robert Habeck durchgesetzt hat: Wie bewerten Sie die Entscheidung, dass Baerbock als Kanzlerkandidatin antreten wird?
Annalena Baerbock hatte es in ihrer eigenen Hand, sich dieser Aufgabe zu stellen. Sie kennt die Berliner Szenerie und den Parlamentsbetrieb gut, ist in ihrer Partei gut vernetzt und bedient die grünen Kernthemen wie Klima und Soziales. Außerdem ist sie stärker anschlussfähig an den linken Flügel der Partei.
Kann es den Grünen in die Karten spielen, dass die Kanzlerfrage bei ihnen deutlich geräuschloser abgelaufen ist als bei der Union?
Die Wählerschaft schätzt eher Parteien, die einheitlich auftreten. Das wurde von Baerbock und Habeck gut gelöst und kann durchaus von Vorteil sein.
Wie schätzen Sie Baerbocks Chancen ein, tatsächlich das Amt der Bundeskanzlerin zu übernehmen?
Das hängt natürlich von der Koalitionskonstellation ab. Sollten die Grünen aber die stärkste Partei werden, müssten bei der Union zwei Voraussetzungen gegeben sein: Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung über die Bundesregierung müsste zum Zeitpunkt der Wahl so hoch sein wie aktuell. Außerdem müsste die Union einen zum Zeitpunkt der Wahl unpopulären Kanzlerkandidaten stellen.
Wo sehen Sie für die Grünen die besten Möglichkeiten einer Koalitionsbildung?
Für die Grünen gilt es, für alle Seiten Offenheit zu zeigen und Koalitionsmöglichkeiten anzubieten. Das schließt alle Parteien, abgesehen von der AfD, mit ein. Dies ist auch eine Leitlinie, der sich Baerbock und Habeck verschrieben haben. Für den Wahlkampf ist das natürlich auch eine Herausforderung, die man zum Beispiel mit Blick auf die Wechselwähler bewältigen muss.
Das Interview führte Lukas Erbelding