Chefankläger Jürgen Brauer geht in Pension und erinnert sich an spektakuläre Fälle und ein "Gottesurteil"
Der Generalstaatsanwalt, der sich mit Erdogan anlegte: Jürgen Brauer zieht Bilanz
Jürgen Brauer hat aus seiner Dienstzeit so einiges zu erzählen. Der Generalstaatsanwalt war in einige Ermittlungen und Verfahren involviert, die bundesweit für Aufsehen gesorgt haben.
Thomas Frey

Er kennt spektakuläre Kriminalfälle aus dem Effeff, hat dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Stirn geboten und womöglich ein „Gottesurteil“ erlebt: Generalstaatsanwalt Jürgen Brauer. Kurz vor seinem Ruhestand zieht er Bilanz.

Dazu gehört auch, dass die Behörde in seiner Amtszeit seit 2014 mächtig gewachsen ist – mit den Landeszentralstellen für Cybercrime und zur Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus. Seither ist der „General“ Jürgen Brauer nicht mehr nur Chef der Staatsanwaltschaften Bad Kreuznach, Koblenz, Mainz und Trier, die er früher leitete.

Der promovierte Jurist (65) kam als Rechtsanwalt 1986 in den Justizdienst. Er war zunächst Richter, ist aber seit 1989 Ankläger, unterbrochen nur durch die Zeit als Abteilungsleiter im Ministerium. Weil es in der Position des „Generals“ kein Vakuum geben darf, steht Harald Kruse, noch Leitender Oberstaatsanwalt in Koblenz, bereits seit Juli als Nachfolger fest.

Früher gab es noch „Ganovenehre“

Im Gespräch mit unserer Zeitung erinnert sich Brauer an viele Fälle, auch an die alte „Ganovenehre“, allein mit Cleverness und „ehrlicher Arbeit“ einen Tresor zu knacken. Heute fahren niederländische Banden vor, sprengen Geldautomaten und rasen mit der Beute aus verwüsteten Häusern in PS-starken Autos davon. Immerhin werden keine Banken mehr überfallen und Geiseln genommen. „Weil die Banken reagiert haben und kaum noch Bargeld in den Filialen haben“, erklärt Brauer. Aber in den Automaten lockt noch viel Geld.

Weil die Niederlande bei Anschlägen Scheine mit Farbe oder Klebstoff unbrauchbar machen, weichen Banden in Serie nach Deutschland aus. Keine Frage, dass sich Fahnder auch mehr technische Gegenwehr in Deutschland wünschen. „Immerhin funktioniert die Rechtshilfe mit den Niederländern lobenswert gut.“ Deshalb könnten Gangster auch gefasst werden.

Landeszentralstelle legt Cyberbunker still

Aber der Fokus der Generalstaatsanwaltschaft richtet sich auf andere Kriminalität. Die Zentralstelle zur Bekämpfung jugendgefährdender und gewaltverherrlichender Medieninhalte konzentriert sich „in einer bundesweiten Arbeitsgruppe maßgeblich“ auf die Frage, wie sich mit Künstlicher Intelligenz Unmengen kinderpornografischer Fotos gezielter auswerten lässt. Die 2014 aufgebaute Landeszentralstelle Cybercrime ist bundesweit bekannt, seit sie 2019 den unterirdischen Cyberbunker in Traben-Trarbach stillgelegt hat.

Der Coup könnte noch Rechtsgeschichte schreiben. Denn der Betrieb eines riesigen Rechen- und Datenzentrums im alten Nato-Bunker allein ist nicht strafbar. Es ist der Vorsatz nachzuweisen, kriminelle Machenschaften bewusst geduldet oder unterstützt zu haben. Nach dem noch nicht rechtskräftigen Trierer Urteil haben aber acht Personen als kriminelle Vereinigung den Bunker für Kunden betrieben, die im großen Stil dunkle Geschäfte auf Darknet-Marktplätzen machten. Die Spuren im Bunker lösten mehr als 200 Folgeverfahren aus. Kürzlich wurde in Trier ein australisches Paar zu hohen Haftstrafen verurteilt. Es hatte mit einem der größten illegalen Onlinemarktplätze der Welt mehr als 2,7 Millionen Euro eingenommen.

Die dritte Landeszentrale des „Generals“ bekämpft Terrorismus und Extremismus. Denn seit dem Attentat von Anis Amri auf den Berliner Weihnachtsmarkt von 2016 (zwölf Tote, mehr als 70 Verletzte) soll es nicht mehr passieren, dass Informationen über Gefährder zwischen den Bundesländern auf der Strecke bleiben. Aber die Koblenzer Staatsanwälte vermitteln nicht nur Wissen, sie ermitteln auch – beispielsweise in den schwierigen Fällen der IS-Rückkehrerinnen aus Idar-Oberstein. Sie zerschlugen im April auch die rechtsextremistische Chatgruppe „Vereinte Patrioten“, die mutmaßlich Gesundheitsminister Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach entführen und mit Blackouts „bürgerkriegsähnliche Zustände“ verursachen wollte.

Hetzer schwer zu finden

Diese Landeszentrale ist seit 2021 für die Verfolgung von Hass und Hetze im Internet zuständig, stößt aber an ihre Grenzen. „Für Ermittler wäre die Vorratsdatenspeicherung der Telekommunikationsdienste für drei Monate schon sehr hilfreich“, sagt der „General“. Früher sei es doch auch normal gewesen, dass die Telekom auf der Rechnung alle Telefonate samt Dauer auflistet. „Kunden wollten dies.“ Aber mit der Flatrate verschwand diese Praxis, die zum Politikum wurde.

Und wie schwierig der Datenaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei künftig wird, ist offen. Jedenfalls muss der Wissenstransfer über Personen nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf eine neue rechtliche Basis gestellt werden. „Vermutlich wird es nicht einfacher“, lautet Brauers Prognose.

Bundesweit Schlagzeilen machte auch sein Streit mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der Jan Böhmermanns „Schmähkritik“ bei ZDFneo 2016 verbieten lassen wollte. Doch Mainzer Staatsanwälte hatten die Ermittlungen eingestellt – zu Recht, wie Brauer feststellte und Erdogans Beschwerde zurückwies. Nach der deutschen Kunst- und Meinungsfreiheit müsse der Präsident das „Schmähgedicht“ aushalten. Weil der aber womöglich „sehr nachtragend“ sein könnte, habe er „alles selbst unterschrieben, um Kollegen die Reiseziele nicht einzuschränken“.

Die Suche nach dem Phantom

Weniger bekannt ist Brauers erfolglose Suche nach einem Phantom. Hintergrund: Vor 15 Jahren wurde in Idar-Oberstein nach dem Raubmord an einer Rentnerin eine DNA-Spur gefunden, die danach an noch mindestens 40 weiteren Tatorten auftauchte – europaweit und zuletzt in Heilbronn, wo die Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter vom NSU getötet wurde. Aber die mit der Belohnung von 300.000 Euro bundesweit gesuchte Schwerverbrecherin gab es gar nicht. „Alle Spuren stammten von einer Packerin“, die Wattestäbchen in Röhrchen steckte.

„Schuld war ein Produktionsmangel, der nicht hätte passieren dürfen.“ Wenn Brauer sich erinnert, kann er sich heute noch in Rage reden. „Zunächst hat kein Sachverständiger reagiert“, als er damals meinte, eine solche Täterin „kann es doch gar nicht geben“.

Und wie war dies mit dem „Gottesurteil“, an das Brauer schmunzelnd zurückdenkt? Da beteuerte in einem Missbrauchsprozess der Angeklagte im letzten Wort erneut seine Unschuld. Er faltete die Hände und rief in Richtung des damals noch im Trierer Landgericht hängenden Kruzifix: „Gott sei mein Zeuge!“ Und in diesem Moment „ist der Mann mit seinem Stuhl umgefallen“ ...

Brauer lacht gern – könnte als Pendler zwischen Trier und Koblenz wohl stundenlang Erlebnisse mit der Bahn erzählen. Aber sein Beruf machte ihn auch misstrauisch. „Ich habe noch nie etwas im Internet bestellt.“ Vielleicht beschäftige er sich im Ruhestand mit Onlinebanking. „Aber noch gehe ich lieber zur Kasse.“

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