Überall im Hunsrück sind Mitte des 19. Jahrhunderts Werber unterwegs. Selbst in kleinen Dörfern wie Argenthal, Sargenroth und Ohlweiler preisen die Agenten Südbrasilien als Auswanderungsland an. Mehr oder weniger seriös wird das Blaue vom Himmel versprochen. Und mitunter auch erlogen. „Das ist damals ein bedeutender Wirtschaftszweig gewesen“, erklärt Kristina Müller-Bongard. „Das war in etwa so, als wenn Sie heute in ein Reisebüro gehen.“ Seit gut einem Jahr hat die Leiterin des Simmerner Hunsrück-Museums für ihre Ausstellung „Neuland – 200 Jahre Auswanderung nach Brasilien“ die Geschichte der Hunsrücker Emigranten erforscht.
Die großen Agenturen sitzen in den Städten. Cornelius in Simmern, Stöck in Bad Kreuznach, Vogt & Krück in Bingen. In Koblenz verkaufen die Unternehmen Von Leroy und Kranz den Traum Brasilien wie eine Urlaubsreise. „Ein professionelles Geschäft“, sagt die Museumsleiterin. Aber in dem lukrativen Markt tummeln sich auch jede Menge schwarze Schafe, die aus der Not der Menschen Kapital schlagen wollen. Vor einigen Agenten wird sogar im Amtsblatt gewarnt. Aus gutem Grund. „Es gab auch viele Schlepper“, hat Kristina Müller-Bongard herausgefunden.
Bei ihren Recherchen für die Ausstellung, die am Samstag, 18. Mai, eröffnet wird, ist sie auf einen besonders dreisten Betrugsfall gestoßen. Werber haben Hunsrückern gefälschte Tickets für die Schiffspassage ins vermeintliche Paradies angedreht. „Dann standen sie in Dünkirchen am Hafen und wurden nicht an Bord gelassen“, sagt die Museumsleiterin. Ausgeträumt. Die Verzweiflung der Opfer können wir nur erahnen. „Sie hatten nichts mehr“, sagt Kristina Müller-Bongard. Familien am Abgrund. Denn in der Heimat haben sie alle Brücken hinter sich abgebrochen. Ihr Besitz ist verkauft. Als sie später als Bittsteller in ihre Dörfer zurückkehren, stoßen sie auf kalte Ablehnung und erbitterten Widerstand.
Kein Einzelfall, wie der Hunsrücker Geschichtsexperte Fritz Schellack herausgefunden hat, der maßgeblich an der Ausstellung mitgearbeitet hat. Für viele Hunsrücker endet die Auswanderung in einem Albtraum. Gleich mehreren Familien aus dem kleinen Dorf Buch (Rhein-Hunsrück-Kreis) etwa geht schon vor der großen Überfahrt das Geld aus. Monatelang lungern sie in den Hafenstädten herum. Bei ihrer Rückkehr in den Hunsrück sind sie unerwünscht. Ein paar kommen noch bei Verwandten unter. Den Rest wollen sie in Buch möglichst schnell wieder loswerden. Heimatlose.
Teurer Rechtsstreit um gescheiterte Auswanderer
Der Fall geht vor Gericht. Am Ende zwingt die preußische Bezirksregierung die Gemeinde, die Gestrandeten wieder aufzunehmen. Die Stimmung im Ort ist entsprechend aufgeheizt. Denn zu den mittellosen Kostgängern kommen jetzt auch noch die immensen Prozesskosten des neunjährigen Rechtsstreits hinzu, die sich am Ende auf rund 1800 Taler summieren. Viel Geld. „Das war etwa ein Drittel der Jahreseinnahmen von Buch“, hat Schellack recherchiert. Um die Schulden zu begleichen, wird kurzerhand ein Teil des kostbaren Gemeindewalds abgeholzt. „Das Flurstück heißt immer noch Brasilien“, sagt Schellack.
Dennoch brechen weiter Zehntausende Hunsrücker auf ins Ungewisse. In das Land, in dem Milch und Honig fließen sollen. Manche Dörfer werden geradezu entvölkert. Eine soziale Erosion, die lange nachwirkt. Denn es sind meist die Jungen, Mutigen und Innovativen, die die Region verlassen. Was haben sie auch zu verlieren? Karge Böden, ärmliche Häuser. Der ohnehin kümmerliche Besitz der Großfamilien wird zusätzlich durch die Realteilung verstümmelt. Und dann grassiert Mitte des 19. Jahrhundert auch noch die Kartoffelfäule.
Da klingen die Worte der Werber nur allzu verlockend. Brasilien wird zum Sehnsuchtsort einer ganzen Generation. Dazu tragen auch die vielen Briefe bei, die den Hunsrück aus der neuen Heimat erreichen. Für die Ausstellung im Simmerner Hunsrück-Museum haben sie einige Kopien ausgestellt. Jahrzehntelang lang sind sie auf Dachböden vergilbt, bis die historischen Schätze endlich wieder gehoben worden sind. In gestochen scharfer Schrift berichten die Auswanderer von ihrem Neuanfang in Brasilien. Praktischerweise mit Datum und Ortsangabe im Briefkopf.
Heute sind sie eine ungemein authentische Quelle für Heimatforscher und Historiker. Wer sind die Verfasser? „Das waren schon mal nicht die Ärmsten“, erklärt Schellack, der Hunderte Briefe gelesen hat. Sprache und Schrift künden von einer gewissen Bildung. Und bescheidenem Wohlstand. „Wir dürfen nicht vergessen, dass sie die einzige Kommunikation in die alte Heimat waren“, betont Schellack. Und die frohe Botschaft kommt an. „Oft wollte dann die ganze Familie auswandern.“ Die zweite Emigrationswelle nach Brasilien wird die erste deutlich übertreffen.
Es gab nur knapp einen Quadratmeter pro Person.
Die Simmerner Museumsleiterin Kristina Müller-Bongard zu den Bedingungen an Bord
Eine Kreuzfahrt ist die Passage über den Atlantik aber nicht. Sechs bis zehn Wochen sind die Passagiere der ersten drei Segelschiffe unterwegs, als sie 1824 in Brasilien an Land wanken. Für die Ausstellung haben sie einen Schiffsrumpf nachempfunden. Unter Deck geht's denkbar eng zu. 230 bis 400 Menschen müssen sich irgendwie zusammenzwängen. „Es gab nur knapp einen Quadratmeter pro Person“, hat Kristina Müller-Bongard nachgerechnet. Gepäck inklusive. Ein Rucksack. Eine Tasche. Vielleicht noch ein Koffer oder eine Truhe. „Ein, zwei Zentner pro Kopf“, erklärt die Museumsleiterin. Mehr haben die meisten zum Neustart nicht dabei. Nur einige wenige, die es sich leisten können, nehmen ein Kuh mit an Bord. Eine Tortur für die Tiere.
Aber auch die Passagiere sie nur bedingt hochseetauglich. Kaum jemand dürfte je zuvor das Meer gesehen haben. Für viele Hunsrücker wird schon der Transport zum Hafen die erste Reise auf dem Rhein gewesen sein. Auf dem rauen Atlantik sieht man die grün angelaufenen Gesichter der Auswanderer bei hohem Wellengang oder Sturm geradezu vor sich. Aber das sind noch die geringsten Sorgen an Bord. „Viele litten an Skorbut oder anderen Mangelerkrankungen“, sagt Schellack. Hinzu kommen Seuchen, die sich unter Deck rasend schnell verbreiten. Nicht selten ist der Proviant unterwegs verdorben. Viele sterben schon bei der Überfahrt. Vor allem Kleinkinder rafft es dahin.
Und teuer ist die Passage auch noch. Der Preis schwankt von Schiff zu Schiff, Familiengröße und Essensversorgung. Schellack hat in alten Dokumenten eine Rechnung gefunden. Demnach hat eine Familie 385 Taler gezahlt. Zum Vergleich: „Ein normales Bauernhaus kostete damals rund 300 Taler“, sagt Schellack. Größere etwa 500 Taler. Da bleibt für den Neuanfang in Brasilien nicht viel übrig. Wenn überhaupt. Und Rückfahrtickets hat niemand gelöst.
Urwald in Brasilien ist nicht unbewohnt
Was sie in Rio Grande do Sul konkret erwartet, wissen die Hunsrücker nicht. Kaum einer der Auswanderer dürfte die Aufzeichnungen des Naturforschers und Ethnologen Maximilian zu Wied-Neuwied gelesen haben, der den Süden Brasiliens von 1815 bis 1817 bereist hat. Dann hätten sie zumindest gewusst, dass ihr Gelobtes Land mitten im Urwald liegt. Und dass es keineswegs unbewohnt ist. Dem adligen Forschungsreisenden, der Pionierarbeit für die Besiedlung des Grenzgebiets geleistet hat, ist auch ein Teil der Ausstellung in Simmern gewidmet.
Die Ankunft dürfte also für viele Auswanderer eher ernüchternd gewesen sein. Doch ist der Urwald erst mal gerodet, gleicht die hügelige Landschaft durchaus dem Hunsrück. „Nur eben viel größer“, sagt Kristina Müller-Bongard. Und deutlich wärmer und fruchtbarer. „Zum Teil haben sie mehrmals im Jahr geerntet.“ Der Speiseplan erweitert sich beträchtlich. Denn die gewohnte Kartoffel will nicht so recht gedeihen. „Dafür haben sie Mais und Maniok angepflanzt“, erklärt Schellack. Hinzu kommen Zitrusfrüchte und Reis. Hungern müssen sie nicht.
Wenn nur die Entfernungen nicht so groß wären. Denn die Siedlungen sind auf dem Reißbrett entworfen worden. Oft sind es 500 Meter bis zum nächsten Nachbarn. „Das waren sie aus dem Hunsrück nicht gewohnt“, erklärt Schellack. „Da hatten viele schon Angst.“ Zumal es auch immer wieder zu Überfällen durch Indigene kommt, denen die Siedler den Lebensraum rauben. Es ist das wohl dunkelste Kapitel der Kolonisierung. Am liebsten bleiben die Hunsrücker deshalb unter sich. „Das war eine Notgemeinschaft“, sagt Schellack.
Doch schon nach ein, zwei Generationen prosperiert die Kolonie. Und mit ihr viele Hunsrücker Auswanderer. Die Familie Tatsch etwa betreibt eine große Tabakfirma. Auch die Besitzer der größten Brauerei der Region haben Hunsrücker Wurzeln. Und Kardinal Claudio Hummes, dessen Vorfahr einst aus Buch nach Brasilien ausgewandert ist, bringt es fast sogar bis zum Papst. Hunderttausende Hunsrücker Namen füllen heute die Telefonbücher der Provinz. Sie haben dem Land ihren Stempel aufgedrückt.
Hunsrücker haben Süden Brasiliens geprägt
Petrópolis wird zur Residenzstadt ausgebaut. Das „Versailles Brasiliens“, wie es viele nennen. „Dafür wurden viele Handwerker angeworben“, erklärt Kristina Müller-Bongard. Viele davon kommen aus dem Hunsrück. Und Anpacken können sie. Auch in Saó Leopoldo, Blumenau und der Simmerner Partnerstadt Igrejenha sind die Spuren der deutschen Einwanderer nicht zu übersehen. Heute leben in den Städten Zehntausende Nachfahren der Hunsrücker Auswanderer, die die alten Traditionen pflegen. Oktoberfest inklusive.
1825 gab es am Idarbach gerade mal 32 Edelsteinschleifereien. 1868 waren es schon 1868.„
Kristina Müller-Bongard zur Bedeutung der Achat-Exporte aus Brasilien an die Nahe
Aber auch die Heimat profitiert, erklärt Kristina Müller-Bongard. Sie zeigt auf einen Achat, der ihr für die Ausstellung vom Edelsteinmuseum Idar-Oberstein zur Verfügung gestellt worden ist. Als Schiffsballast kommen die Steine von Südbrasilien an die Nahe und lösen einen regelrechten Gründerboom aus. “1825 gab es am Idarbach gerade mal 32 Edelsteinschleifereien„, erklärt die Museumsleiterin. “1868 waren es schon 1868." So schließt sich der Kreis.
Ausstellung zur Auswanderung in Simmern
Mit der Ausstellung „Neuland – 200 Jahre deutsche Auswanderung nach Brasilien“ widmet das Hunsrück-Museum Simmern vom 19. Mai bis zum 30. Dezember eine große Sonderausstellung. Das Themenspektrum reicht von Migration & Identität, Fluchtursachen über wirtschaftliche und soziale Aspekte bis hin zu Sprachforschungsprojekten und Kulturaustausch. Dazu ist ein Teil eines Auswandererschiffs nachgebaut, um zu zeigen, wie eng es an Bord zugegangen ist. Auch Leihgaben aus Sao Leopoldo in Brasilien sind mittlerweile eingetroffen. Auf der anderen Seite des Atlantiks wird der Jahrestag ebenfalls groß gefeiert. Mehr Infos gibt es unter Telefon 06761/837401 oder im Internet unter www.hunsrueck-museum.de