Koblenz
„Das ganze Leben war transparent“: Wie die Stasi die DDR-Bürger bespitzelte – Eine Koblenzerin erzählt
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Elke Schlegel ist schockiert, wie systematisch ihr Leben in der DDR ausgeforscht worden ist. In ihren Stasi-Akten finden sich Berichte von Nachbarn, Freunden und Kollegen. "Das ganze Leben war transparent", sagt sie.
Kevin Rühle

Die Koblenzerin Elke Schlegel hat unserer Zeitung einen Einblick in ihre Stasi-Akten gegeben. 1200 Seiten realsozialistische Spitzelbürokratie, unter der die 66-Jährige bis heute leidet. Mehr als fünf Monate saß sie 1984 in der DDR im Gefängnis, bevor sie vom Westen freigekauft wurde. Wie perfide die Stasi arbeitete, ist auf einer Wanderausstellung im Bundesarchiv Koblenz zu sehen.

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Elke Schlegel hat mehrere Aktenordner auf ihrem Küchentisch im Koblenzer Stadtteil Karthause ausgebreitet. Alle prall gefüllt. 1200 Seiten einer DDR-Biografie. Vernehmungsprotokolle. Urkunden. Entlassungsscheine. Sogar eine Zahnarztbehandlung haben die Stasi-Mitarbeiter dokumentiert. „Das ganze Leben war transparent“, sagt die 66-Jährige und schüttelt den Kopf. „Dass jemand so viel über einen sammelt, kann man sich nicht vorstellen.“ Das Leben der anderen. Elke Schlegels Leben. 26 Jahre DDR haben für diese Aktenberge gereicht. Allein 91.000 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter beschnüffeln ihre Mitbürger. Rund um die Uhr.

Danach musste ich sofort in die Spülgruppe.

Elke Schlegel erinnert sich an den Moment, als sie einen Ausreiseantrag in den Westen stellte.

Die Koblenzerin blättert durch ihre Geschichte. Minutiös protokolliert von einer unersättlichen Unrechtsbürokratie. Viele Namen sind geschwärzt. Aber Elke Schlegel weiß auch so, wer der Staatssicherheit zugeliefert hat. Da ist der Nachbar, der sie als junge Frau bespitzelt hat. Es sind meist Belanglosigkeiten, die dennoch schmerzen. Oder der Barkeeper im Interhotel, der sich als Stasi-Mitarbeiter entpuppt. Und ihre frühere Chefin, die die junge Kellnerin bei Erich Mielkes Schergen anschwärzt. „Sie hat ihre Aufgaben nie erfüllt“, steht da zu lesen. Damals hat Elke Schlegel gerade ihren Ausreiseantrag in den Westen gestellt. „Danach musste ich sofort in die Spülgruppe“, erinnert sie sich. Mit extrem gekürztem Lohn.

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Der 23. März 1984 hat sich tief ins Gedächtnis von Elke Schlegel eingegraben. An diesem Tag wird die damals 26-Jährige von der Stasi verhaftet. Erst Monate später darf sie die DDR gegen 80000 Westmark verlassen.
Kevin Rühle

Als die gebürtige Jenaerin kurz nach der Wende zum ersten Mal in Gera Einblick in ihre Stasi-Akten werfen kann, ist sie geschockt. „Eine Frau hat die Papiere im Servierwagen in den Raum geschoben und mir auf den Tisch geknallt“, erinnert sie sich. Eine Stunde hat sie Zeit, um darin zu lesen. Viel zu wenig. „Wer hat denn so viel über dich aufgeschrieben?“, fragt sie sich. Sie war doch nur ein kleiner Fisch. Nach und nach kommen immer neue Dokumente zusammen, die dunkle Erinnerungen wecken. Der eigene Bruder, der sie festgenommen hat. Ein Stasi-Spitzel. Freunde, die sich gegenüber den Vernehmungsbeamten um Kopf und Kragen reden. Kollegen, die ihr eine ablehnende Haltung gegenüber der DDR bescheinigen. Haben sie ihr etwa auch noch die Wohnung verwanzt?

Und dann schlägt sie die Seite auf, die ihr Leben für immer verändert hat. Aktenzeichen 29/84. Ihr Haftbefehl. Ausgestellt am 29. März 1984. „Elke Schlegel wird beschuldigt, die staatliche Tätigkeit beeinträchtigt sowie ein Vergehen der ungesetzlichen Nachrichtenübermittlung und Verbindungsaufnahme begangen zu haben“, heißt es da in realsozialistischem Bürokratendeutsch. Selbst für den DDR-Unrechtsstaat ist das Süppchen extrem dünn, das die Stasi in Gera da anrührt, um sie in der Untersuchungshaft festzuhalten. Elke Schlegel will einen Anwalt. „Sie haben wohl zu viel Westfernsehen geschaut“, lautet die brüske Antwort. „Ich dachte damals immer noch, dass ich wieder rauskomme.“ Sie sollte sich täuschen. Aber was soll das eigentlich?

Laufzettel für Ausreise schon abgearbeitet

1983 haben Elke Schlegel und ihr Mann einen Ausreiseantrag in den Westen gestellt. Wie so viele andere DDR-Bürger berufen sie sich dabei auf die Helsinki-Schlussakte, die auch die DDR unterzeichnet hat. Sie garantiert Freizügigkeit. Theoretisch. Nach mehreren Anläufen wird der Antrag tatsächlich genehmigt. Euphorie macht sich breit. Den obligatorischen Laufzettel haben sie schon abgearbeitet. Alle Möbel sind verkauft, die Koffer gepackt. Das Paar weiß auch schon, wo es im Westen unterkommt. Der Kontakt mit dem Cousin in Neuwied ist geknüpft. Der große Traum vom Reisen scheint greifbar nah.

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Endlich in Freiheit: Nach einem monatelangen Martyrium darf Elke Schlegel im September 1984 ausreisen. Den Entlassungsschein hat sie bis heute aufbewahrt.
Kevin Rühle

Bis zum 28. März 1984. „Morgens um 4.30 Uhr haben sie unsere Wohnung mit sechs Männern überfallen“, erinnert sie sich. Getrennt werden sie zum Verhör vorgeladen. „Zur Klärung eines Sachverhalts“, heißt es als Begründung. Aber welcher? Die Ausreise ist doch längst durch. Heute weiß sie es. „Wir sind verkauft worden“, sagt sie. An den Westen. Gegen harte Devisen. „Mein Mann und ich waren jeweils 80.000 Westmark wert.“ Wie menschenverachtend kann ein Staat sein? Es wird quälende fünf Monate und 24 Tage dauern, bis Elke Schlegel der DDR-Maschinerie wieder entkommen wird.

Wir Politischen waren in der Hierarchie der letzte Dreck.

Elke Schlegel über ihre Haftzeit

Zwischen Verzweiflung und Freiheit steht Hoheneck. Das berüchtigte Frauengefängnis der DDR. Ein Zuchthaus mit mehr als 1000 Häftlingen, in dem Elke Schlegel zur bloßen Nummer degradiert wird. „Wir Politischen waren in der Hierarchie der letzte Dreck.“ 42 Frauen quetschen sie in eine Zelle mit Drei-Stock-Betten. Zwei Toiletten. Kaltes Wasser. Keine Privatsphäre.

„In meiner Zelle waren auch zwei Mörderinnen“, erinnert sich Elke Schlegel, die unter giftigen Dämpfen Strumpfhosen herstellen muss. 2400 pro Tag. So lautet die Norm. Die junge Frau, die bis auf 37 Kilo abmagert, schafft sie nie. „Als Strafe durfte ich niemandem schreiben.“ Auch den kleinen Sohn nimmt man ihr weg. „In der Krippe wurde er nie gewickelt“, sagt sie. „Auch im Kindergarten haben sie ihn drangsaliert.“ Psychoterror im Arbeiter- und Bauernstaat. Es sind die schlimmsten Tage ihres Lebens.

Mehr als 20 Jahre hat sie das Trauma verdrängt, als die alten Wunden 2007 plötzlich wieder aufreißen. Ausgerechnet im Auto auf der Koblenzer Südbrücke. Für eine Fortbildung in der Innenstadt hat sie eine Fahrgemeinschaft mit einer Kollegin gebildet, die sie gerade erst kennengelernt hat. Der Dialekt verbindet.

Beide sind aus dem Osten. Elke Schlegel fragt nach. Man kommt ins Gespräch. Was sie beide nicht ahnen können: In der DDR haben sich ihre Wege gekreuzt. In Hoheneck. Elke Schlegel ist Gefangene, die Kollegin Aufseherin. Ein Schock. „Ich habe die Beifahrertür aufgerissen, bin über die Leitplanke gesprungen und in den Koblenzer Stadtwald gerannt“, erinnert sie sich. Sie erleidet einen Nervenzusammenbruch. „Mein Körper spielte verrückt“, sagt sie. Elke Schlegel muss in psychologische Behandlung.

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Die Koblenzerin Elke Schlegel erhält eine SED-Opferrente von 330 Euro für das Leid, das sie in der DDR erleiden musste. Heute geht sie in die Schulen der Region, um Kindern und Jugendlichen ihre Geschichte zu erzählen.
Kevin Rühle

Hoheneck holt sie immer wieder ein. Die 66-Jährige blättert ein paar Seiten im Ordner weiter. „Mein Entlassungsschein“, sagt sie nachdenklich. Ausgestellt am 20. September 1984. Das Dokument weckt Erinnerungen an Bohnenkaffee und warmes Wasser. Gutes Essen statt Gefängnisfraß. „Vor der Ausreise in den Westen sind wir aufgepäppelt worden“, erklärt die Koblenzerin. Irgendwann werden sie zur Grenze gefahren. „In dem Bus war es mucksmäuschenstill“, blickt Elke Schlegel zurück. Alles nur ein Trick? Diesmal nicht. Die junge Frau ist frei. Und auch ihr Mann wird folgen. Ende September treffen sie in Gießen ein.

Mir war abwechselnd heiß und kalt. Ich habe am ganzen Körper gezittert.

Elke Schlegel muss 1985 nochmals in die DDR reisen, um ihren kleinen Sohn abzuholen.

Nur der kleine Sohn bleibt zurück. 1985 wird sie noch ein letztes Mal in die DDR reisen müssen, um ihn in Eisenach abzuholen. Es sind grausame Stunden. „Mir war abwechselnd heiß und kalt“, erinnert sie sich an den frostigen Empfang der DDR-Beamten. „Ich habe am ganzen Körper gezittert.“ Werden sie sie wieder ins Gefängnis stecken? Hoheneck? Es bleibt bei Drohungen. Dann ist die Familie wieder vereint. In Koblenz bauen sie sich ein neues Leben auf. Mittlerweile sind sie seit 40 Jahren am Rhein. Fast schon echte Schängel. 330 Euro SED-Opferrente erhält die 66-Jährige im Monat.

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1200 Seiten dick sind die Stasi-Akten von Elke Schlegel aus Koblenz. Die Regionalvorsitzende Rheinland-Pfalz der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft saß in der DDR fünf Monate und 24 Tage im Gefängnis. Unter anderem im berüchtigten Frauenzuchthaus Hoheneck.
Kevin Rühle

Noch weitaus wichtiger ist es Elke Schlegel aber, die Erinnerung an den DDR-Unrechtsstaat wachzuhalten. Dazu geht sie in die Schulen der Region, um von einem Land zu erzählen, das seine Bürger einsperren muss, damit sie ihm nicht davonlaufen. Ein Land, in dem sie als Schülerin öffentlich gemaßregelt wird, weil sie ein T-Shirt mit dem „Marlboro“-Mann trägt. Dem „Klassenfeind“. Es ist eine Sprache, die den Jugendlichen heute fremd ist. So wie die DDR. Für Elke Schlegel ist es ein Teil ihrer Geschichte, die sie als Regionalbeauftragte Rheinland-Pfalz der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft an die nächste Generation weitergeben möchte. Es ist ihr persönliches Vermächtnis.

Elke Schlegels Buch „5 Monate und 24 Tage. Frauenzuchthaus Hoheneck – eine Extremerfahrung“ ist im Imprimatur Verlag Lahnstein erschienen. 17 Euro.

Im Stasi-Unterlagen-Archiv werden Millionen Schriftstücke, Karteikarten, Tonbänder und Fotos des Ministeriums für Staatssicherheit gelagert und systematisch wissenschaftlich erschlossen. Seit 2021 ist die Behörde Teil des Bundesarchivs mit Hauptsitz in Koblenz. Einen kleinen Einblick in die Arbeit der Stasi, die Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde und Auslandsnachrichtendienst zugleich war, erhalten Besucher bei der Wanderausstellung „Alles wissen wollen.

Die Stasi und ihre Dokumente“, die noch bis zum 6. September im Foyer des Bundesarchivs Koblenz zu sehen ist. Montags bis freitags von 9 bis 20 Uhr und samstags von 9 bis 13 Uhr wird anhand von 21 Stasi-Objekten gezeigt, mit welchen Methoden die Stasi gearbeitet hat und welche drastischen Folgen das für die bespitzelten DDR-Bürger hatte. Da ist etwa der Fußballer, der bewusst „kaputt gespritzt“ werden sollte, weil man ihm Fluchtgefahr unterstellte. Schon eine mit Wasserfarben gemalte Flagge der Tschechoslowakei konnte einem 15-Jährigen zum Verhängnis werden.

Interessierte können sich auch darüber informieren, was in einer handschriftlichen Verpflichtungserklärung eines inoffiziellen Mitarbeiters so steht und welchen enormen Aufwand der Spitzelapparat bei einem Besuch des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt 1981 in der DDR betrieben hat. Exakt 4388 Stasi-Mitarbeiter waren damals im Rahmen der „Aktion Dialog“ im Einsatz, um genau diesen zwischen der DDR-Bevölkerung und Schmidt möglichst zu unterbinden. Auch die geschönte Akte des berüchtigten Stasi-Chefs Erich Mielke ist dort ausgestellt. Weitere Informationen und ein Kurzfilm zur Ausstellung gibt es unter www.stasi-unterlagen-archiv.de.

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