Vielleicht gab ihm der Blick auf diesen Strand, den er nie gesehen hat und als schwer herzkranker Mensch auch nicht mehr sehen würde, trotzdem Hoffnung. Drei Mal musste mein Vater ins Krankenhaus. Zweimal kehrte er für ein paar Tage zurück und konnte Hoffnung schöpfen. Dreimal musste er, der kaum noch einen Fuß vor die Tür setzen konnte und isoliert mit meiner Mutter lebte, in der Klinik in Corona-Quarantäne. Über Wochen bekam er keinen Besuch. In seinen letzten Stunden erlaubte das Krankenhaus es uns Angehörigen, von ihm Abschied zu nehmen. Tausende andere alte Menschen hatten dieses große Glück nicht. Sie starben allein, ohne Abschied, ohne eine letzte Umarmung. Andere verbrachten Wochen der Isolation in Kliniken oder Pflegeheimen.
Diese Menschen erlebten im Corona-Jahr die wohl schlimmsten und unmenschlichsten Einschränkungen ihrer Grundrechte – ihnen wurde das Recht auf einen würdevollen Tod genommen. Und doch ist von diesen Menschen, die weder mit noch an Covid-19 starben und doch schwer unter Corona litten, wenig die Rede. Immerhin können Angehörige ihre Liebsten in Pflegeheimen mittlerweile unter strengen Beschränkungen besuchen. Doch noch immer sterben viele Menschen allein in Krankenhäusern. Familien stürzt das in große emotionale Nöte. Viele leiden leise, ohne lauten Protest. Viele macht dies auch wütend.
Zwei Lehren kann man aus diesen Schicksalen ziehen: Weil Corona-Beschränkungen zu als unmenschlich empfundenen Zuständen führen, müssen sie nicht per se falsch sein. So groß persönliche und finanzielle Entbehrungen sein mögen – sie rechtfertigen nicht, die Corona-Gefahr kleinzureden. Mehr als 30.000 Tote und noch gar nicht zu ermessende Langzeitfolgen bei Covid-19-Patienten sprechen eine klare Sprache. Dennoch ist Skepsis geboten, wenn die Politik zwischen dem Gesundheitsschutz aller und der Menschenwürde Einzelner abwägt. Immer wieder, in manchen Zeiten zu oft, hat die Menschenwürde darunter zu sehr und in nicht gerechtfertigter Weise gelitten. Das müssen wir den Entscheidungsträgern nicht verzeihen, wir müssen vielmehr einklagen, dass sie sorgsamer abwägen. Viele haben das getan – auch vor Gericht.
Die zweite Lehre ist, dass viele Menschen nur durch einen Erfolg des Mammutprojektes Impfen die Hoffnung zurückgewinnen können. Bund und Länder dürfen dieses Vorhaben nicht wie irgendein Projekt behandeln, bei dem es halt zu Fehlern kommt. Zu wenig Impfstoff, eine sinkende Impfbereitschaft, „Sonderrechte“ für Geimpfte: Diese Probleme sind seit Monaten absehbar. Dass sie erneut erst thematisiert werden, wenn es nicht mehr anders geht, ist fatal. Corona sollte uns lehren, neu und flexibel zu denken. Freiheiten für Geimpfte müssen wir abwägen, aber verbieten dürfen wir sie keinesfalls. Damit würden wir uns den Weg zurück in ein normales Leben verbauen – auch wenn es gerade so unerreichbar scheint wie der Strand auf den Seychellen.
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