Die Arbeit in einem Gefängnis ist nicht ungefährlich. Das liegt in der Natur der Sache. Haben Sie in ihrer langen Karriere auch schon einmal brenzlige Situationen erlebt?
Es gab zwei, drei Situationen, in denen JVA-Vollzugsbeamte niedergeschlagen worden sind. Aber das sind wirklich sehr seltene Fälle. Man bereitet sich ja vorab auf die Leute vor, die schwierig beziehungsweise psychisch auffällig sind. Man darf nicht naiv sein, wenn man im Vollzug arbeitet. Man erwirbt über die Jahre schon ein bisschen Menschenkenntnis. Es gab aber einmal den Fall, dass ein Häftling böse war über die Entscheidung, dass es keine Vollzugslockerungen geben wird. Er hat einem JVA-Mann so heftig gegen die Hand getreten, dass der Mittelhandknochen gebrochen war. Ich will mit meinem Buch auch eine Lanze für JVA-Mitarbeiter brechen. In dem Job muss man schon angstfrei sein…
Gibt es in Gefängnissen mit Blick auf Straftatbestände eine Hierarchie unter Häftlingen? Anders gefragt – gelten manche Verbrechen selbst unter brutalsten Schlägern als absolut verachtenswert? Ich frage aus aktuellem Anlass: Der britische Ex-Rockstar Ian Watkins (Lostprophets) ist laut Medienberichten vor einigen Tagen von Mithäftlingen niedergestochen worden, schwebt offenbar derzeit in Lebensgefahr. Watkins soll unter anderem versucht haben, ein Baby zu missbrauchen …
Diese Hierarchie gibt es. Besonders Sexualstraftätern wird dann angeraten, sich zurückhaltend zu geben. Wir helfen den Gefangenen in der Weise, dass wir sie dann an einem eher überschaubaren und geschützten Bereich zum Arbeiten einsetzen. Es kann auch sein, dass man die Gefangenen in eine ganz andere Station verlegen muss. Manchmal kann sogar die Verlegung in eine andere Anstalt nötig werden. Trotz des Umstandes, dass diese Menschen schlimmste Verbrechen begangen haben, müssen wir die Menschen so nehmen, wie sie sind. Und dafür sorgen, dass der Aufenthalt im Gefängnis menschlich verläuft.
Es spricht sich doch bestimmt sehr schnell rum, wer weshalb sitzt, oder?
Ja. Und Täter, denen Sexualmorde oder Verbrechen an Kindern nachgewiesen werden konnten, die haben eine schwierige Zeit. Zusammengeschlagen worden ist ein Sexualstraftäter in meiner Zeit aber nicht. Schubser auf dem Weg zur Arbeit – das kam indes sicherlich vor. Ein Sozialarbeiter führt dann meist Gespräche mit den Betroffenen. Fakt ist übrigens, dass ein Drittel der Sexualstraftäter die Taten bis zum letzten Hafttag leugnet. Es ist alles zu schambesetzt.
Und dieses Abstreiten dient auch dazu, sich Kontakte zu erhalten – vielleicht zu Bekannten oder zu den Eltern. Ein unschuldiger Sohn ist leichter zu besuchen, als einer, der sich an Kindern vergangen hat. Dieses Leugnen führt aber leider dazu, dass während der Haft keine therapeutischen Ansätze möglich sind. Dann wird das Ganze zu einem „Verwahrvollzug“, um es mal despektierlich auszudrücken.
Ist in Ihrer Zeit als JVA-Leiter mal jemand ausgebrochen?
Da hatte ich im Großen und Ganzen viel Glück (lacht). Ich hatte immer Mitarbeiter, die da entsprechend gut aufgepasst und ihre Arbeit ordentlich gemacht haben. Aber ja, es gab einen Ausbruch aus der JVA Diez – und den habe ich auch in meinem Buch beschrieben. Anfang der 1990er-Jahre war das: Damals war es einem Gefangenen gelungen, sich nach Arbeitsende in einem der Arbeitsbetriebe zu verstecken. Mit Werkzeugen aus dem Betrieb hat er dann ein Gitter durchtrennt und ist so in den Außenbereich des Geländes gelangt, anschließend die Mauer hochgeklettert. Dann musste er sich noch durch den Stacheldraht arbeiten. Mit ziemlicher Sicherheit hat er aber eine Hilfe gehabt: Da hat wohl einer in der Nähe mit dem Wagen draußen auf ihn gewartet.
Hat man ihn denn wieder einfangen können?
Der Mann wurde einige Jahre später in Spanien gefasst. Ich glaube, er hatte sogar „nur“ eine Strafzeit von drei Jahren. Man kann also nicht sagen, dass die „Lebenslangen“ diejenigen sind, die von der Fahne gehen wollen (lacht.) Ich glaube aber, dass viele im Gefängnis immer wieder mal mit der Idee der Flucht spielen. Das erlaubt vielen, die Haftzeit psychologisch zu überstehen. Nach dem Motto: Wenn ich wollte, dann könnte ich…
In drei Dekaden Gefängnisalltag sammelt sich doch bestimmt auch die eine oder andere Anekdote an, oder?
Es hat sich mal ein Gefangener beschwert – und in Folge sogar einen Mithäftling angezeigt. Er behauptete, er habe mit seinem Mithäftling einen Deal gemacht: ein vierstelliger Betrag gegen Hilfe beim Ausbruchversuch. Diese Hilfe habe der Mann dann am Ende nicht geleistet – weshalb er nun sein Geld zurückhaben wolle, so die Argumentation des Gefangenen. Er hat den Mann dann tatsächlich wegen Betruges bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Im ersten Moment mussten wir herzlich lachen, als wir davon Wind bekamen. War das nun alles ernst gemeint – oder ein Scherz? Ich glaube aber eher, dass das nicht ernst gemeint war (lacht). Das war nämlich einer, der gern und viel geschrieben hat. Ich denke, er wollte einfach der Staatsanwaltschaft etwas Arbeit machen…
Haben Sie während ihrer Karriere auch mal bekannte Straftäter betreut?
Ja. Ohne Namen nennen zu wollen. Das war 1999 in der JVA Koblenz. Der Mann hatte mehrere Menschen getötet – und war Ende der Neunziger nach einem Gefängnisausbruch monatelang auf der Flucht. Diese wurde auch in den Medien immer wieder thematisiert. Er wurde schließlich gefasst – und landete in der JVA Koblenz. Dort sagte er zu mir, dass er ein Problem mit der Optik seiner Zelle habe: Die sei in einem furchtbaren Grün gestrichen. Und um eine Sportzeitung bat mich der Mann.
Da er als problematisch galt, wollten wir die Zelle dann tatsächlich ockerfarben streichen. Durch ein Versehen wurden die vier Wände dann am Ende aber noch schreiend grüner. Der Gefangene kam dann aber ohnehin nach NRW zu einer Gerichtsverhandlung. Das hatte sich also erledigt. Die Sportzeitung hat er aber bekommen.
Was entgegnen Sie Menschen, die den deutschen Knast mit Urlaub vergleichen?
Eine Freiheitsstrafe ist – wie es ja schon im Wort enthalten ist – eine Strafe. Wenn man sich vorstellt, dass die Gefangenen sich den überwiegenden Teil ihrer Haftzeit in der Zelle aufhalten, dass ihre Familienmitglieder sie vielleicht zwei Stunden im Monat mal besuchen können, dass man im Gefängnis für alles Anträge stellen muss, und dass man mit anderen Gefangenen zu tun hat, mit denen man in Freiheit wohl überhaupt nichts zu haben würde … Kurz: Personen, die hier von „Urlaub“ reden, würde ich anraten, sich mit der Thematik mal ein bisschen genauer zu beschäftigen.
Was genau verstehen Sie unter Resozialisierung – und wie funktioniert sie?
Es gibt Trainingskurse, soziales Training, man kann einen schulischen, teils sogar beruflichen Abschluss in Haft erwerben. Fakt ist auch, dass etwa 60 Prozent der Gefangenen ein Drogenproblem haben. In einigen Anstalten gibt es deshalb hilfreiche Vorbereitungskurse für Therapien, die nach der Haft angegangen werden können. Fakt ist: Die Haft soll nicht schaden. Natürlich gibt es zwangsläufig Restriktionen, aber die Haft soll die Menschen nicht schlechter machen.
Wie häufig werden Straftäter wieder rückfällig?
55 Prozent der Strafgefangenen werden leider wieder rückfällig. Das bedeutet aber nicht, dass sie erneut in eine Anstalt zurückkehren. Von den besagten 55 Prozent ist das nur ungefähr ein Drittel, die wieder eine Freiheitsstrafe verbüßen müssen. Es ist ja auch schon ein Erfolg, wenn ein Gefangener nur im geringen Maße rückfällig wird, vielleicht nun ohne Führerschein gefahren ist, während er vorher Raubüberfälle begangen hat.
Was könnte man am deutschen Gefängnissystem verbessern?
Die Phase nach der Entlassung – die ist für die Leute teils sehr schwierig. Diese müsste enger betreut werden. Es bräuchte da eine engere Verzahnung zwischen der Bewährungshilfe und dem Sozialdienst der Gefängnisse. Aber die Personalkapazitäten reichen dafür einfach nicht. Das würde ich mir aber wirklich wünschen.
Die Fragen stellte Johannes Mario Löhr
Das Buch von Norbert Henke – „31 Jahre hinter Gittern – ein ehemaliger Anstaltsleiter erzählt“ – kann hier erworben werden: