Da muss Heinz Hagenbuchner erst einmal schlucken. Und dann gibt er seiner Überraschung und Freude über eine Nachricht Ausdruck, die unsere Zeitung ihm am Telefon übermittelt: Die Kongregation der Marienschwestern hat die Aufarbeitung von mutmaßlichen Kindesmisshandlungen durch Nonnen im einstigen Kindererholungsheim in Langweiler (Kreis Birkenfeld) angekündigt. Man wolle den Vorwürfen nachgehen, die Betroffene geäußert hätten, teilte die Regionaloberin der Deutschen Region, Cordula Klafki, in Berlin dieser Tage mit.
Es werde einen unabhängigen Ansprechpartner geben, der für Gespräche mit Betroffenen zur Verfügung stehe. „Bislang haben wir das Thema nicht ernst genug genommen. Das tut uns leid“, teilte Klafki weiter mit. Der Orden wolle nun rasch Strukturen aufbauen, „damit wir für Betroffene ansprechbar werden“. Zeitzeugen aus der Ordensgemeinschaft gebe es nicht mehr. Alle Schwestern, die in dem Heim im Kreis Birkenfeld gearbeitet hätten, seien inzwischen tot.
Die Geschichte reicht weit zurück
Unsere Zeitung hatte bereits im Juni 2013 über erhebliche Misshandlungen im Heim berichtet: Heinz Hagenbuchner, damals 66 Jahre alt und in der Nähe von Ulm wohnhaft, hatte Kontakt zu unserer Lokalredaktion in Idar-Oberstein aufgenommen. Hagenbuchners Geschichte, über die wir damals einen ganzseitigen Bericht veröffentlichten, reicht weit zurück – ins Jahr 1959, als er – zwölf Jahre alt – gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder (zehn Jahre) für sechs Wochen zur Erholung ins Heim Marienhöh geschickt wurde.
2013 sagte er im Gespräch mit unserer Zeitung: „Zum Mittagsessen gab es oft Gemüseeintopf, der in großen Tellern randvoll verabreicht wurde. Die kleineren Kinder konnten diese großen Mengen nicht auf einmal essen. Also wurde von den Schwestern mit Gewalt nachgeholfen. Die kleinen Kinder aßen aus Angst weiter, bis sie den Mageninhalt in den Teller erbrachen. Dieses Erbrochene mussten sie dann noch mal aufessen.“ Wenn ein Kind beim Pflicht-Mittagsschlaf flüsterte, habe es sofort Prügel gegeben.
Heute Menü statt Kartoffeln
Immer wieder sei den Kindern Angst gemacht worden: Es gebe einen dunklen Raum im Keller… „Das eigentlich Schlimme in dieser Zeit war für mich nicht nur das Geschlagenwerden von fremden Ordensschwestern, sondern dieser ständige Anpassungsstress an die vielen verschiedenen Frauen. Ich wusste ja nie, welche Schwester wie drauf war. Dazu diese seelisch kalte Atmosphäre. Das hat in mir tiefe Spuren der Hilflosigkeit hinterlassen.“
Er möchte – damals wie heute – dass diese Dinge nicht in Vergessenheit geraten, die Wahrheit auf den Tisch kommt: „Es überrascht mich nicht, dass keiner etwas Negatives über die Zeit sagt. Da wurde vieles verdrängt. Das kennt man ja auch aus anderen dunklen Kapiteln der Geschichte.“
Nie etwas Schlechtes über die Schwestern gehört
Hagenbuchner, heute mittlerweile 77 Jahren und immer noch sportlich aktiv, betrachtete es 2013 mit einer gewissen Ironie des Schicksals, dass Marienhöh seit 2009 ein schickes, mittlerweile mehrfach ausgezeichnetes Golf-, Wander- und Familien-Hotel ist, in dem Menschen, Ruhe, Natur und Wellness finden. Exklusive Menüs statt Kartoffeln mit Specksoße. Die Langweilerer schüttelten angesichts dieser traurigen Geschichte, die Hagenbuchner erzählte, 2013 den Kopf: Nie habe man etwas Schlechtes über die Schwestern gehört. Ihr Wirken sei „segensreich“ gewesen für die Gemeinde.
Jan Bolland, damaliger Geschäftsführer des Kloster-Hotels, reagierte sehr überrascht, als er hörte, was Hagenbuchner offenbar einst hier erlebt hat. Gern wolle man mit ihm persönlichen Kontakt aufnehmen, um Näheres über die Umstände zu erfahren. So kam es auch: Hagenbuchner war Bollands persönlicher Gast, es wurde über eine Erinnerungstafel gesprochen. „Dann verlief das aber im Sand“, blickt Hagenbuchner heute zurück. Sein Ansatz damals: „Vielleicht finde ich auf diesem Weg Menschen, die dort Ähnliches erlebt haben.“ Eine Anfrage unserer Zeitung bei der aktuellen Geschäftsführung – Bolland ist nicht mehr zuständig – blieb bislang unbeantwortet.
Schläge mit der flachen Hand
Sehr interessiert nahm er im aktuellen Telefonat mit unserer Zeitung die Information zur Kenntnis, dass sich beim SWR bereits vor zwei Jahren weitere Betroffene gemeldet hatten, die die Aussagen des 77-Jährigen bestätigen und ausweiten: Monika Kielburg berichtete dem SWR und nun auch unserer Zeitung: „Wir durften nicht weinen, wir durften nicht aufstehen, und ich war zu der Zeit noch Daumenlutscher. Das wollten sie mir abgewöhnen.“ Also hätten die Nonnen das achtjährige Mädchen geweckt, ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht gestrahlt und sie mit in den Waschraum genommen. „Dort gab es mit dem Stock dann Schläge auf die Hände.“
Langweiler - Fast in Vergessenheit geraten ist die Vergangenheit des Kloster-Hotels in Langweiler: Es war einmal ein kirchliches Kinderheim. Doch die grausamen Erinnerungen eines Mannes, der hier aufgewachsen ist, überraschten und schockten nicht nur den jetzigen Geschäftsführer des Hotels.Von der Zeit im Heim traumatisiert
Kielburg besuchte vor drei Jahren das schicke Hotel: „Ich blieb zwei Nächte dort. Im Restaurant, der ja früher der Speisesaal war, sagte ich zu einer Bedienung, dass ich schon einmal hier gesessen hätte, vor langer Zeit. Und dass das nicht schön war. Sie gab sich überrascht. Sie habe noch nie etwas davon gehört.“ Kielburg löste mit ihrer Offenheit eine Welle aus: Viele ebenfalls Betroffene meldeten sich bei ihr: „Das wurde mir dann auch zu viel und zu belastend.“ Froh sei sie, dass nun wohl Bewegung in die Sache komme.
Kinder im Keller kalt abgeduscht
Eine andere Betroffene schildert: „Wir erlebten, wie ein Kind an unserem Tisch, das ein Problem mit dem Aufessen hatte, immer wieder in den Keller gezerrt und kalt abgeduscht wurde.“ Ein früher im Raum Koblenz wohnhafter Mann blickt in einer E-Mail an uns zurück: „Ein Aufenthalt bei den Marienschwestern in den 1960er-Jahren in Langweiler hat bis heute immer noch viele Spuren hinterlassen, was mir immer wieder hochkommt. Ich bin Jahrgang 1951 und habe als Kind in dem genannten Zeitraum sechs Wochen in der Einrichtung in Langweiler einen ,unvergessenen‘ Aufenthalt erlebt. Die Schwestern waren bei der Ankunft sehr freundlich, was sich ganz schnell – noch am selben Tag – um 180 Grad gedreht hatte.“
Ich werde nie begreifen, wie Menschen so grausam zu Kindern sein können.
Heinz Hagenbuchner (77) hat noch immer intensive Erinnerungen an jene schlimme Zeit in seinem Leben, als er um die Osterzeit 1959 im Marienhöh-Heim war.
Es habe bei den geringsten Anlässen und Vergehen Schläge mit der flachen Hand sowie auch mit einem Rohrstock. Vollzogen worden seien die Misshandlungen wahllos am ganzen Körper der Kinder: „Das Essen war immer sehr minimal und selten ausreichend. Es war oft ungenießbar. Erbrochenes musste im Beisein von den anderen Kindern immer von dem verursachenden Kind aufgegessen werden – ansonsten gab es Arrest, und das Abendessen wurde verweigert. Nach dem Aufenthalt hatte ich sehr stark an Gewicht verloren. Auf den Toiletten gab es kein Toilettenpapier. Musste man auf die Toilette, musste man bei einer Schwester nach Papier anfragen. Es gab immer nur zwei Blatt Toilettenpapier.“
Die verschmutzte Unterwäsche sei dann noch mit Schlägen quittiert worden. Nachmittags sei es dann in den Wald auf eine angrenzende Wiese gegangen. Die gesammelten Beeren und Pilze seien vermutlich verkauft worden: „Dieser Aufenthalt hat bei mir bis heute, 65 Jahre später, noch sehr große Narben hinterlassen.“ Hagenbuchner erschüttern solche Schilderungen: „Das ging offenbar lange dort so zu. Ich war ja einige Jahre früher im Heim…“ Er möchte sich auf jeden Fall mit seinen Leidensgenossinnen und – genossen vernetzten.
Ansprechpartnerin in Berlin berufen
Alfred Reicherts – Jahrgang 1952 und seit 1992 Ortsbürgermeister der Gemeinde Langweiler, die gern als „Perle des Hunsrücks“ bezeichnet wird – sagt: „Dieses Thema ist mir bekannt. Sicherlich sind diese Fälle bedauerlicherweise vorgekommen. Ich persönlich hatte das Kloster und die Schwestern in guter Erinnerung. Ein von den Schwestern geführter katholischer Kindergarten hatte auch in umliegenden Dörfern einen guten Ruf, und die Krankenschwester aus dem Orden versah einen Dienst im Dorf als Ersthelferin, Krankenschwester und ersetzte die heutige Gemeindeschwester. Für Obdachlose war Marienhöh immer eine Anlaufstelle.“ Die Nonnen hätten im Dorf einen guten Ruf mit einem Hauch von Ehrfurcht genossen. Es habe offensichtlich wie überall „Gute und Böse“ gegeben.
Mit Blick auf die geplante Aufarbeitung ist Barbara Kreichelt aus Berlin die Ansprechpartnerin. Auf Nachfrage unserer Zeitung berichtet sie: „Ich bin dafür da, mir die Erfahrungen der Betroffenen mit negativen, aber auch derer mit positiven Erlebnissen (die es tatsächlich auch gibt) anzuhören. Wenn Betroffene es wünschen, stelle ich gern einen Kontakt zur Provinzleitung her und kann diese Gespräche auch begleiten.“
Suche nach Betroffenenberichten
Sie möchte Betroffene und Ehemalige ermutigen, ihre Geschichte und Erlebnisse aufzuschreiben und ihr zur Verfügung zu stellen, um ein Bild über die Jahre des Heimes (1951 bis 1988) zu bekommen: „Ich recherchiere im Archiv, um etwas über Langweiler zu erfahren. Das sieht aber sehr dürftig aus. Deshalb ist es hilfreich, Betroffenenberichte zu bekommen. Wenn ich genug Material habe, werde ich das verschriftlichen und zur Verfügung stellen. Hier bitte ich aber um Geduld, weil das noch etliche Zeit in Anspruch nehmen wird.“
Bad Sobernheim. Wellen schlagen sollen im Gesundheits-, Wellness- und Schönheitshotel Bollants im Park im Bad Sobernheim auch künftig nur das Schwimmbad und der Whirlpool.Neuer Besitzer bei Bollants im Park: Klosterhotel Marienhöh wird um Edelchalets erweitert
Zunächst wolle sie telefonisch und per E-Mail mit Ehemaligen in Kontakt kommen: „Sollten dann im Rheinland heute noch Ehemalige leben, werde ich gern eine Reise unternehmen, um mich dort mit ihnen zu treffen.“ Die deutsche Provinz der Marienschwestern sei nur noch sehr klein mit 37 Schwestern, von denen nur noch 7 Schwestern zwischen 65 und 80 Jahren sind. Alle anderen sind älter als 80 Jahre. Der Sitz der deutschen Provinz ist in Berlin. Wegen der geringen Größe gebe es keine eigene Internetseite. Diesbezüglich sei sie mit der Generalleitung im Gespräch, um eine Lösung zu finden.
Kontakt: Barbara Kreichelt, E-Mail ansprechperson-orden@mailbox.org
Wie es mit dem Kloster weiterging
Mit dem letzten Gottesdienst in der Kapelle am 7. Juni 2004 endete die Zeit des Marienhöh als Kloster. Nach dem Krieg wurde das Haus zwischenzeitlich für die Pflege älterer Menschen durch den Orden der Trierer Boromäerinnen genutzt. Ab 1951 wurden dort Kinder zur angeblichen Erholung untergebracht. Der katholische Frauenorden der Marienschwestern erwarb das Anwesen und baute es weiter aus. 2002 gaben die Marienschwestern das Anwesen auf. Ende 2004 erwarb die private Immobiliengesellschaft BonnVisio das Areal mit allen Gebäuden. Das Marienhöh-Hotel wurde am 1. Mai 2009 eröffnet.