Rheinland-Pfalz
Bernd Riexinger: „Ich bin enttäuscht von Martin Schulz“

Bernd Riexinger, Co-Chef der Linken, wünscht sich von SPD und Grünen mehr Mut zu sozialer Gerechtigkeit und beklagt Lethargie im Wahlkampf.  Seiner Meinung nach hilft das vor allem der AfD.

Sascha Ditscher

Bernd Riexinger ist erkältet, als er mittags am Hauptbahnhof in Koblenz ankommt. Der Co-Chef der Linken hat trotzdem gute Laune. Man nimmt es ihm ab: Es läuft nicht schlecht für seine Partei, zuletzt lag sie in Umfragen bei 10 Prozent. Die Macht wäre zum Greifen nahe, wenn die SPD nicht abgesackt wäre – und die Linke im Innern einig. Der Wille zum Mitregieren strömt Riexinger aus jeder Pore. Für das Interview mit unserer Zeitung haben auch Leser Fragen eingereicht. Der 61 Jahre alte Gewerkschafter ist Kontroversen gewohnt. Bernd Riexinger über Machtoptionen, den Sozialstaat und Enttäuschungen im Wahlkampf:

Steigende Renten, höherer Mindestlohn, umfangreiche Investitionen, 1050 Euro Mindestsicherung ... Man fragt sich, wie realistisch solche Forderungen sind.

Vieles, was wir fordern, waren früher einmal Selbstverständlichkeiten in unserem Land. Zum Beispiel, dass es möglich sein soll, von seiner Arbeit auch leben zu können.

Machen wir es konkret: Die Linke will ein Rentenniveau von 53 Prozent. Wie wollen Sie das bezahlen?

Die 53 Prozent sind gar nicht so schwer finanzierbar. Die hatten wir auch schon mal, als Helmut Kohl noch Kanzler war.

Das ist lange her, der demografische Wandel schreitet voran. Immer weniger Junge müssen für immer mehr Alte die Rente zahlen. Wie wollen Sie das in den Griff bekommen?

Der demografische Wandel ist ein Irrtum, dem man nicht aufsitzen darf. Wir hatten in der Vergangenheit weit größere demografische Sprünge als heute. Ein Beschäftigter produziert heute ungefähr doppelt so viel wie vor 30 Jahren. Damit könnte er auch doppelt so viele Rentner finanzieren, wenn diese Wirtschaftsleistung gleichmäßig verteilt wird. Das ist in Deutschland aber nicht passiert. Wir als Linke haben ein Finanzierungskonzept für unsere Rentenforderung: Die Beiträge können leicht steigen, aber sie müssen endlich wieder von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu gleichen Teilen getragen werden. Wenn Sie riestern, müssen Sie 4 Prozent zuzahlen, das muss Ihr Arbeitgeber nicht. Bei uns braucht niemand zu riestern, um eine vernünftige Alterssicherung zu haben.

Sie wollen eine Mindestsicherung von 1050 Euro pro Monat einführen. Allein das würde doch Milliarden Mehrausgaben bedeuten.

Nach unseren Berechnungen liegen wir bei Mehrausgaben von 30 Milliarden Euro für Mindestsicherung, verbesserte Mütterrente, Ausgleich von Niedriglohnphasen und Rentenangleichung.

Woher wollen Sie die nehmen?

Wir wollen das mit Steuern finanzieren. Mit unseren Forderungen im Wahlprogramm kommen wir alles in allem auf Mehrausgaben von ungefähr 177 Milliarden Euro. Mit unserer Steuerpolitik würden wir aber unterm Strich 180 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen. Unser Programm ist wirklich durchfinanziert. Dafür muss man aber eine Vermögensteuer erheben und Reiche stärker belasten. Unser Konzept sieht vor: Ab der zweiten Million soll man 5 Prozent zahlen. Bedeutet: Wer 2 Millionen Euro Vermögen hat, muss 50.000 Euro zur Finanzierung des Gemeinwohls beitragen. Das finde ich nicht übertrieben. In der Gesamtsumme würde allein diese Steuer 80 Milliarden Euro mehr in die öffentlichen Kassen spülen. Wir haben aber auch noch ein Konzept für die Transaktionsteuer, weil es mehr als recht und billig ist, den Handel mit Wertpapieren und Spekulationen zu besteuern.

Sie wollen 12 Euro Mindestlohn, 14,50 Euro für Pflegeberufe. Branchenlöhne werden üblicherweise von den Tarifparteien verhandelt. Warum wollen Sie derart tief in die Tarifautonomie eingreifen, die im Grundgesetz verankert ist?

Durch die Deregulierungsmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt ist heute nur noch die Hälfte der Bevölkerung in Tarifverträgen. Die Tarifautonomie funktioniert also für die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland nicht mehr. Wir haben ausrechnen lassen, wie viel man verdienen muss, um bei der Rente über die Grundsicherung von derzeit 788 Euro pro Monat zu kommen – wenn man 45 Jahre am Stück in Vollzeit arbeitet. Die Aussage der Bundesregierung war: 11,84 Euro. Das bedeutet: Wer weniger als 12 Euro pro Stunde verdient, steht trotz lebenslanger Arbeit vor der Altersarmut. Viele europäische Länder haben übrigens einen höheren Mindestlohn als Deutschland.

Aber kein einziges EU-Land hat einen Mindestlohn von 12 Euro, wie Sie es fordern.

Luxemburg ist da schon nah dran.

Dieser Vergleich hinkt.

Frankreich hat immerhin mehr als 10 Euro.

In Frankreich ist das Lohnniveau höher als in Deutschland.

Es ist höher, das muss uns doch zu denken geben. Die Franzosen haben nicht den Fehler gemacht, aus der Tarifbindung auszusteigen.

Ist Ihre Forderung, dass sich der Staat um Branchenlöhne kümmert, nicht in Wahrheit der Sargnagel für die Tarifautonomie?

Es geht um die Mindestlöhne, und es würde die Gewerkschaften stärken, wenn sie nicht mehr um das Minimum kämpfen müssten. Sie könnten sich ganz auf den Bereich über dem Mindestlohn konzentrieren. Das Kräftegleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften ist längst vorbei. Die Gewerkschaften sind im strukturellen Nachteil. Deshalb muss der Gesetzgeber regulierend eingreifen.

Noch nicht einmal die Gewerkschaften fordern 12 Euro. Findet Ihre Partei kein Maß?

Maßlos finde ich, dass Deutschland den größten Niedriglohnsektor in Europa hat und wir immer noch Zehntausende Beschäftigte haben, die trotz Vollzeitarbeit mit Hartz IV aufstocken müssen. Verraten Sie mir mal, wie man in Koblenz als Alleinerziehende eine Wohnung bezahlen und halbwegs über die Runden kommen soll, wenn man weniger als 12 Euro verdient! Das geht schlichtweg nicht.

Mit Ihren Forderungen werden Sie es schwer haben, einen Koalitionspartner zu finden. Wollen Sie überhaupt mitregieren?

Ja, natürlich. Aber es müsste sich dann auch grundlegend etwas ändern. Mit uns wird es nicht so laufen, dass man kleine Korrekturen an einer völlig verfehlten Politik der vergangenen Jahre macht. Wenn wir regieren, müssen Renten und Löhne steigen, die Renten müssen armutsfest werden. Und wir brauchen eine Agenda gegen prekäre Arbeit. Es kann nicht sein, dass junge Leute ihre Zukunft nicht mehr planen können, weil sie von einem befristeten Vertrag in den nächsten gehen.

Sie hatten schon vor der Bundestagswahl 2013 für Rot-Rot-Grün geworben. Wie ist die Linke in dieser Frage vorangekommen?

Wir hatten einen kurzen Frühling mit dem Schulz-Hype. Damals dachten die Menschen, die SPD würde plötzlich wieder sozialdemokratisch. Nach den verlorenen Landtagswahlen hat Martin Schulz dann plötzlich mit der FDP geliebäugelt, und damit hat er die ganze Glaubwürdigkeit wieder verloren. Das ärgert mich, weil es die Aussicht gab, Merkel wirklich herauszufordern.

Sind Sie enttäuscht von Martin Schulz?

Ja, ich bin enttäuscht von ihm, weil er mit dem Thema Soziale Gerechtigkeit hätte Wahlen gewinnen können. Ich würde mich freuen, wenn er das jetzt die letzten 14 Tage noch probiert. Aber beim TV-Duell hat man gesehen, dass er sich nicht als echte Alternative zu Merkel präsentiert hat, sondern als Variante von Merkel. Als Variante von Merkel gewinnen Sie aber keine Wahl. Momentan herrscht bei der SPD eine gewisse Jammerigkeit, alle sagen: Merkel hat schon gewonnen. Ich finde das schrecklich. Und am Ende hilft es der AfD. Wir haben uns mit unserem Programm richtig Mühe gegeben und präzise definiert, was wir wollen und wie wir es finanzieren können. Das ist gleichzeitig ein Angebot an SPD und Grüne für eine andere Politik.

Der eigentliche Knackpunkt ist doch, dass die Linke Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt. Das ist mit SPD und Grünen nicht zu machen. Gibt es in dieser Frage noch Verhandlungsspielraum?

Wir tragen keine Auslandseinsätze der Bundeswehr. Das ist unsere harte Linie, und die ist nicht verhandelbar. Das weiß die SPD. Ich bin Gewerkschafter. In Tarifverhandlungen geht man mit seinen Forderungen in Verhandlungen rein und kommt mit Kompromissen wieder raus. So machen wir das auch. Man geht ja nicht mit dem Kompromiss in Verhandlungen!

Wenn Sie in der Regierung gewesen wären, als im September 2015 Tausende Flüchtlinge auf der Balkanroute feststeckten, hätten Sie da so entschieden wie Angela Merkel?

Was die Aufnahme der Flüchtlinge angeht, hätten wir uns genauso entschieden. Aber wir hätten vorher einen Fehler nicht gemacht: Bevor die Flüchtlinge nach Deutschland kamen, hatten Italien und Griechenland eine europäische Lösung gefordert. Damals hatte Merkel dies abgelehnt, wir hätten das nicht getan. Merkel hat diese Länder mit den Flüchtlingen alleingelassen. Als dann später auch Deutschland mit steigenden Flüchtlingszahlen konfrontiert wurde, lehnten die anderen Länder eine europäische Lösung ab. Das war ihre Retourkutsche.

Ihre Kollegin Sahra Wagenknecht hat Merkel für ihre Entscheidung 2015 kritisiert. In Ihrem Parteiprogramm lehnen Sie Einschränkungen des Asylrechts ab und warnen vor Abschottung. Was denn nun?

Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen. Dazu gehört es, die Kriege in Syrien, Irak und Afghanistan zu beenden. Wir dürfen aber auch nicht der Illusion erliegen, dass in Zeiten von Internet und Smartphone die Menschen nicht sehen, wie wir hier in Europa leben. Die Menschen in armen Ländern werden alles dafür tun, hierher zu kommen, wenn sich ihr Leben in ihrer Heimat nicht verbessert. Deshalb müssen wir dort wirtschaftliche Entwicklung fördern.

Wie erklären Sie Ihr asylfreundliches Programm ihren Wählern im Osten, wo dem Thema viele skeptisch gegenüberstehen?

Wir haben einen Standpunkt und versuchen, diesen zu vermitteln. Mein Eindruck ist, dass das auch zunehmend gelingt. Wir zeigen auf, dass die eigentlichen Sorgen und Nöte der Menschen nichts mit den Flüchtlingen, sondern mit der Regierungspolitik der letzten 20 Jahre zu tun haben.

Die Linke hat aber Wähler an die AfD verloren – gerade im Osten.

Das mag stimmen. Diese Entwicklung ist aber erst einmal gebremst. Die Gefahr, die von der AfD ausgeht, ist aber nicht gebannt.

Nach jüngsten Umfragen, kommt die Linke auf 10 Prozent. Wo würde sie stehen, wenn es die AfD nicht gäbe?

Das wäre für das ganze Land besser. Der zunehmende Rechtspopulismus auf der Welt löst aber auch eine Politisierung nach links aus. Wir haben als Reaktion auf die AfD und auf Donald Trump viele Wähler gewonnen. Als Trump US-Präsident wurde, sind innerhalb weniger Tage 400 Menschen Mitglied der Linken geworden.

Warum gräbt Ihnen ausgerechnet die AfD Wähler ab?

Wenn Sie mehrmals Linke gewählt haben und immer noch von Hartz IV leben müssen, kann das Ihren Frust in eine andere Richtung lenken. Es ist für eine Oppositionspartei nicht einfach, deutlich zu machen, wie sie die Politik beeinflusst, dass es ohne Die Linke wahrscheinlich immer noch keinen Mindestlohn gäbe. Sicherlich gibt es auch Wähler, die glauben, der Politik einen Denkzettel verpassen zu müssen, indem sie eine Partei wählen, mit der sie provozieren können.

Wie will die Linke darauf reagieren?

Indem wir deutlicher machen, dass die AfD gegen hohe Mieten, Armutsrenten, fehlende öffentliche Investitionen, prekäre Beschäftigung und Niedriglohn überhaupt nichts anzubieten hat, sondern in hohem Maße eine neoliberale Partei ist, die übrigens viele Übereinstimmungen mit der FDP hat. Die AfD will die Steuern für Reiche senken und zum Beispiel die Mieten dem freien Markt überlassen. Ich glaube, dass viele Menschen die AfD wählen, weil es keine klare Machtoption für eine Alternative zu Merkels Politik gibt. Das können wir ändern.

Die Linke hat aber entscheidenden Anteil daran, dass es diese Machtoption nicht gibt: Es war völlig klar, dass SPD und Grüne Ihre Forderung, Auslandseinsätze der Bundeswehr zu beenden, nicht mittragen.

Für einen Politikwechsel braucht man politischen Willen und nicht die Vorbedingung, dass die Partner in einer Koalition erst einmal so werden müssen, wie man selbst ist. Wir würden doch auch niemals von der SPD verlangen, den Austritt aus der Nato zu fordern, um Koalitionsverhandlungen möglich zu machen. Jede Partei hat eine Identität. Die muss man unter Partnern respektieren. Das hat die SPD bislang nicht verstanden, und es hat dazu geführt, dass es nun schon insgesamt acht Jahre eine rot-rot-grüne Mehrheit gab, die man nicht in Politik umgesetzt hat. Das ist schade.

Das Gespräch führten Regiochef Markus Kuhlen und Politikredakteur Stefan Hantzschmann

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