„Einzelne jetzt zu bevorzugen, auch wenn sie ihre Situation zu Recht als sehr belastend einschätzen, ist in der momentanen Situation absoluter Knappheit ethisch nicht zu begründen“, schreibt Paul – und zerstört damit die Hoffnungen der Familie aus dem Kreis Neuwied. „Herr Paul hat uns sehr früh per E-Mail zu verstehen gegeben, dass wir beruhigt sein könnten, da sich die Verantwortlichen für Fälle wie Benni eine Lösung einfallen lassen würden. Genau daran haben wir uns geklammert.“ Familie Over fühlt sich wie andere in vergleichbarer Lage im Regen stehen gelassen.
Benni Over ist 30 Jahre alt, leidet unter schleichendem Muskelschwund (Muskeldystrophie Duchenne). Er sitzt seit 20 Jahren im Rollstuhl, kann nur noch seine Finger bewegen und wird seit vier Jahren zusätzlich beatmet. Eine Corona-Infektion würde er kaum überleben. Gepflegt wird er zu Hause. Seit Februar ist die Familie deshalb in häuslicher Quarantäne.
Familie Over hat bittere Klarheit: Es soll also ethisch absolut okay sein, dass ihr schwerstkranker, 30 Jahre alter Sohn als Hochrisikopatient den ersehnten Corona-Impfstoff nicht früher bekommt. Punkt.Kommentar zur Stellungnahme des Ethikbeirats im Fall Benni Over: Fühlt sich so Ethik an?
Von unserer Zeitung nach seiner Meinung zur Stellungnahme Pauls befragt, sagt Klaus Over: „Herr Paul macht zweierlei Dinge: Zum einen versucht er, Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler aus der Schusslinie zu nehmen. Zum anderen leitet er professionell her, warum es für Fälle wie Benni keine Ausnahme geben könne.“ Dabei setze Paul aber einen falschen Bezug: „Er nennt alle 154.000 Personen, die in Rheinland-Pfalz zu Hause gepflegt werden, und setzt sie in Konkurrenz zu Fällen wie Benni. Das ist nicht korrekt.“ Die Gruppe der Patienten, die Bennis Schicksal teilen, müsse man definieren: „100 Prozent Behinderung, Pflegegrad 5, Rollstuhl und Beatmung“.
Paul suggeriere mit seiner Argumentation, dass es da eine Familie gebe, die sich vordrängeln wolle. „Das ist aber nicht der Fall, und es beschreibt das Problem nicht, in welcher zeitlichen Klammer wir uns im Hinblick auf die lebensbedrohlich werdende Situation für Benni befinden. Es geht uns vielmehr darum, dass die sicher viel kleinere Gruppe ,Fälle wie Benni‘ mit in die erste Impfgruppe eingeordnet wird“, betont Klaus Over.
Es ist ein Einzelschicksal, aber die Geschichte des schwerstkranken Benni Over aus Niederbreitbach im Kreis Neuwied, der an einer unheilbaren Muskeldystrophie leidet und als Hochrisikopatient gilt, steht stellvertretend für viele Familien im Land.Frühere Impfung für Hochrisikopatient?: Regierung bleibt im Fall Benni Over hart – Ethikrat verteidigt Impfstrategie
Für Familie Over ist klar: „Wir sind nur ein unbedeutender Teil in dieser politischen Debatte, und wir drohen nach den Themen Masken und Testungen auch beim Thema Impfen hinten herunterzufallen.“ Umso mehr freue es die Familie, dass sich jetzt vermehrt Verbände und Institutionen melden, die Fällen wie dem Bennis Dringlichkeit verleihen wollen. „Die müssten aus unserer Sicht auch das Mandat übernehmen“, sagt Klaus Over.
So hat unter anderem die Deutsche Stiftung Patientenschutz kürzlich gefordert, auch intensivbeatmete schwer kranke Patienten, die zu Hause versorgt werden, sollten die höchste Impfpriorität erhalten. Es wäre unverantwortlich, sie erst im Sommer zu impfen, sagte Vorstand Eugen Brysch. Außerdem müssten pflegende Angehörige auf dieselbe Prioritätsstufe gesetzt werden wie Pflegebedürftige selbst.
Klaus Over kündigt derweil an, dass die Familie Schreiben an alle Bundestagsabgeordneten und alle Landtagsabgeordnete in allen Landtagen rausschicken will. „Darin ist sachlich und kurz erklärt, was das Problem bei der Gruppe ,Fälle wie Benni‘ ist. Wir beschreiben schlicht die Notlage von Patienten mit Muskeldystrophie, ALS und anderen schweren Erkrankungen.“
Und die Overs weisen auf einen Gesetzentwurf der FDP im Bundestag hin, der die Gruppe der schwerstkranken und ambulant gepflegten Patienten – anders als die Verordnung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) – weit oben priorisiert. Auch wenn ihr Kampf zermürbend ist: „Wir wollen einfach nicht, dass Fälle wie Benni durchs Raster fallen“, sagt Klaus Over. Ralf Grün/ Angela Kauer-Schöneich