Rheinland-Pfalz
Befangenheitsantrag gegen Ahrflut-Gutachter: Rechtsanwalt legt nach
Ahrtal nach der Katastrophe
Die Ruine eines bei der Flutkatastrophe im Sommer 2021 zerstörten Hauses steht am Ortseingang an der Ahr. Auch in der Psyche der Menschen hat das Ereignis bis heute tiefe Spuren hinterlassen.
Boris Roessler. picture alliance/dpa/Boris Roess

Der Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken hatte bereits Ende des vergangenen Jahres einen Befangenheitsantrag gegen den Berliner Gutachter Dominic Gißler eingereicht, der im November im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe ausgesagt hatte. Jetzt teilt Hecken mit, seinen Antrag noch erweitert zu haben.

Mit seinem Gutachten zur Flutkatastrophe im Ahrtal hat der Berliner Professor und Katastrophenschutzexperte Dominic Gißler polarisiert. In der mehr als 200-seitigen, Ende November im Untersuchungsausschuss zur Flut vorgestellten Beurteilung über die gesamte Verfasstheit des Katastrophenschutzes in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 mit mehr als 130 Toten hatte Gißler gravierende Mängel festgestellt und erklärt, dass man wahrscheinlich mit einem funktionierenden, systemischen Schutz wesentlich mehr Menschen hätte retten können. Eine konkrete Zahl nannte Gißler nicht.

Kommt es zur Anklage oder nicht?

Kaum vorgestellt, kam allerdings Kritik sowohl an so mancher Methodik als auch an der Aussagekraft des gesamten Gutachtens auf, das die ermittelnde Koblenzer Staatsanwaltschaft bei Gißler in Auftrag gegeben hatte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung gegen den ehemaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), sowie ein Mitglied der Technischen Einsatzleitung. Das Ergebnis der Ermittlung steht noch aus: Ob die Staatsanwaltschaft gegen Jürgen Pföhler und den Ehrenamtler Anklage erheben wird, soll sich in den kommenden vier bis sechs Wochen entscheiden, hatte der WDR Anfang dieser Woche berichtet.

Sitzung Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal
Der Sachverständige Dominic Gißler von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften
Boris Roessler. picture alliance/dpa/Boris Roess

Antrag erweitert

Doch zurück zum Gißler-Gutachten: Der als Vertreter von Geschädigten auftretende Koblenzer Rechtsanwalt Christian Hecken reichte nach der Vorstellung des Gutachtens einen Befangenheitsantrag gegen Gißler ein (wir berichteten). Er führte mehrere fehlerhafte Angaben im Gutachten als Grund dafür an, an der Unvoreingenommenheit des Gutachters zu zweifeln. Das Gißler-Papier sei in „zentralen Teilen nicht nachvollziehbar und widersprüchlich“, hatte er gegenüber unserer Zeitung begründet. Jetzt teilte Hecken aktuell mit, dass er diesen Befangenheitsantrag noch erweitern wolle.

Krisenforscher Frank Roselieb
Der Krisenforscher Frank Roselieb
Carsten Rehder. picture alliance/dpa/Carsten Reh

Hierfür nimmt er Bezug auf die Aussage eines anderen Gutachters: Frank Roselieb, Krisenforscher aus Kiel, der Mitte Februar in der 46. und letzten Sitzung des U-Ausschusses zum zweiten Mal vor dem Gremium aussagte und das Gißler-Gutachten inhaltlich regelrecht auseinandernahm. Seine Begründung in Kürze: Er bemängelte unter anderem fehlende entscheidende Daten und etliche methodische Fehler. Roselieb sprach außerdem davon, dass in der Flutnacht der Katastrophenschutz nicht als gesamtes System ein Problem dargestellt habe, sondern in erster Linie der damalige Landrat Jürgen Pföhler (CDU) verantwortlich sei. Der Sachverständige bezeichnete Pföhler als “Systemsprenger„.

“Gravierendere Fehler als befürchtet„

Dass Roselieb vor dem U-Ausschuss aussagte und zum Gißler-Gutachten Stellung nahm, geht wiederum auf die Einlassung des Rechtsanwalts Hecken zurück. Dieser hatte zusätzlich zum gestellten Befangenheitsantrag gefordert, einen zweiten Gutachter zum Thema zu hören. Roseliebs Ausführungen waren nun Anlass für Hecken, den Befangenheitsantrag zu erweitern, weil er im Gißler-Gutachten noch “gravierendere Fehler als befürchtet„ ausmacht, wie er der Staatsanwaltschaft Koblenz in einem Schreiben mitteilt, das unserer Zeitung vorliegt. Hecken bemängelt etwa einen “ergebnisorientierten" Auftrag für das Gutachten, an den sich Gißler offenbar gebunden gefühlt habe, oder dass er wichtige Daten in seiner Beurteilung nicht bedacht habe. Die Summe der aus seiner Sicht als Fehler zu wertenden Punkte führen Hecken zu dem Resümee, dass das Gißler-Gutachten mangelhaft sei und nicht verwendet werden könne, um zu beurteilen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Menschen hätten gerettet werden können.

Stimme aus dem Tal

Etwas anders sieht dies übrigens Andy Neumann, prominentes Gesicht des Ahrtals, Buchautor und selbst Flutbetroffener. Nachdem der Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen Gißler publik wurde, hatte sich Neumann gegenüber unserer Zeitung geäußert. Heckens Antrag bezeichnete er als wenig substanziell. Gißler habe vielmehr klar dargelegt, dass wesentlich mehr Menschen hätten gerettet werden können, wenn der Katastrophenschutz professionell gehandhabt worden wäre – und wenn es Unterstützung von höheren Stellen gegeben hätte. Zudem forderte Neumann, dass es auf jeden Fall zu einer Klage gegen Pföhler kommen sollte. Ein Richter müsse die Schuldfrage stellen und darüber urteilen. Dies dürfe nicht davon abhängen, wie das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft verläuft.

Was der Anwalt im Einzelnen kritisiert

Diese sechs Punkte führt Rechtsanwalt Hecken als fehlerhaft im Gißler-Gutachten an.

  • Eine nicht hinreichende Berufserfahrung Gißlers, die laut Roselieb und Hecken zwei Jahre umfasst.
  • Keine Einholung notwendiger Daten: Roselieb hatte unter anderem bemängelt, dass Gißler aussagekräftige Daten für sein Gutachten nicht beachtet habe.
  • Gißler sah sich an objektiv unrichtigen Gutsachterauftrag gebunden, widersprach aber nicht: Roselieb hatte – kurz gesagt – ausgesagt, dass der Auftrag an Gißler ergebnisorientiert formuliert gewesen sei. Es geht hier konkret um Details zu einer Wahrscheinlichkeitsprognose für Schadenereignisse bei der Flut und die Frage nach ihrer Außergewöhnlichkeit.
  • Unvermögen der Bestimmung von Wahrscheinlichkeit von Überlebens- und Rettungschancen.
  • Falscher methodischer Ansatz.
  • Keine vollständige Lektüre der Ermittlungsakten sowie unzureichende Ermittlungsarbeit des Gutachters: Hier wird vor allem der Faktor Zeit bemängelt: Gißler habe lediglich vier Monate Zeit gehabt, um mehr als 20.000 Seiten Ermittlungsakten zu lesen und auszuwerten.
  • Widersprüchliche Feststellungen im Gutachten. ame

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