Gastbeitrag von Hendrik Hering
80 Jahre Kriegsende in RLP: Mehr Erinnerung wagen
Weite Teile der Koblenzer Innenstadt wurden im Zuge des Feuersturms vernichtet. Der Schwerpunkt des britischen Luftangriffs lag im Bereich zwischen der Südseite des Plans und dem Friedrich-Ebert-Ring. Auch die alte Bausubstanz am Rheinufer wurde vernichtet.
Stadtarchiv Koblenz

Vor 80 Jahren endete der Krieg, auch in Rheinland-Pfalz. In seinem Gastbeitrag schildert Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD), was geschah, als die Amerikaner kamen. Als Besieger? Befreier? Die Stunde Null war auch die Geburtsstunde der Demokratie.

Der 8. Mai: In unserem kollektiven Gedächtnis ist dieser Tag verankert als der Tag, an dem die nationalsozialistische Terrorherrschaft in Deutschland endete und das Land von den alliierten Streitkräften befreit wurde. Für Ewiggestrige ist der 8. Mai der Tag der Kapitulation Deutschlands. Am 8. Mai 2025 jährt sich dieser Tag zum 80. Mal. Was bedeutet dieser Tag für die Demokratie? Was bedeutet dieser Tag für Rheinland-Pfalz?

Wenig bekannt ist, dass der Zweite Weltkrieg auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz bereits früher endete. Die amerikanischen Streitkräfte eroberten im heutigen Rheinland-Pfalz als Erstes am 25. Januar 1945 Großlangenfeld bei Prüm und als Letztes am 2. April 1945 Katzenwinkel (Sieg). Weit weniger sind es diese historischen Ereignisse, die in unserem heutigen Erinnern eine Rolle spielen. Viel mehr sollten wir uns jedoch auch diese Ereignisse, die sich bei uns vor unserer eigenen Haustüre abspielten, in unser heutiges Gedächtnis rufen. Denn sie geben Antworten auf zwei zentrale Fragen unserer Zeit: Warum gilt die Prämisse „Nie wieder Krieg!“? Warum ist Demokratie die Antwort?

Tragische Todesfälle, aber auch mutige Taten

Das Beispiel von Lahnstein zeigt anschaulich, wie schwierig die Situation der Bevölkerung in Rheinland-Pfalz am Kriegsende war. Auf der einen Seite die vorrückenden und militärisch überlegenen amerikanischen Truppen, Beschuss, Zerstörung und einbrechende Versorgung. Auf der anderen Seite die deutschen Befehlshaber, die nicht zulassen wollten, dass sich Deutschland kampflos ergibt, und die Verteidigung bis zum Letzten befahlen. In dieser unklaren Lage kam es zu tragischen Todesfällen, aber auch zu mutigen Taten, die eine ganze Stadt und viele Menschenleben retten konnten.

Nachdem Lahnstein am 11. März 1945 von vereinzelten Granaten getroffen wurde, setzte in der Nacht vom 12. und am 13. März ein massiver Artilleriebeschuss ein. Die amerikanischen Truppen schossen von den Lahnstein gegenüberliegenden Orten Kapellen und Stolzenfels. Auf dem Lichterkopf, Aspich und der Lahnhöll hatten hingegen Reste der über den Rhein geflohenen deutschen Truppen neue Stellung bezogen, um den amerikanischen Vormarsch aufzuhalten. Damit geriet das Stadtgebiet von Ober- und Niederlahnstein in die Schusslinie der Geschütze beider Seiten. Die Gefechte zogen sich über Tage hin.

Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD)
Andreas Arnold. picture alliance/dpa

Am 18. März 1945 erhielten die Bürgermeister von Ober- und Niederlahnstein einen Evakuierungsbefehl. Die Städte sollten sofort restlos von der Zivilbevölkerung geräumt und Lahnstein bis zum Letzten verteidigt werden. Da das Befolgen dieses Befehls viele Menschenleben gekostet hätte, wurde er von beiden Bürgermeistern nicht ausgeführt. Der für die Bevölkerung gefährliche Beschuss dauerte an. Die Lebensbedingungen in der Stadt wurden immer prekärer.

Am Nachmittag des 20. März ertönte nachmittags vom amerikanisch kontrollierten Rheinufer die Lautsprecheransage: „Bürger von Ober- und Niederlahnstein, kommt heraus aus euren Häusern. Unsere Artillerie ist nicht auf euch gerichtet. Setzt zum Zeichen, dass ihr die Stadt übergeben wollt, weiße Flaggen. Tut ihr das nicht, kommt ein schwerer Bombenangriff auf die Stadt.“ Während daraufhin zunächst viele Einwohner weiße Fahnen an ihren Häusern anbrachten, befahlen die deutschen Ortskommandanten beider Städte unter Androhung härtester Sanktionen das Entfernen der Fahnen.

In dieser unklaren Situation kam es zu einem folgenschweren Zwischenfall. Zunächst hisste ein anderer Mann auf dem Dach des Bäckermeisters Josef Rätz eine weiße Fahne. Als dann der gegenteilige Befehl bekannt wurde, wollte Bäcker Rätz die Fahne selbst wieder entfernen, wurde dabei aber von einer Kugel getroffen und getötet. Die genauen Tatumstände und der Täter sind bis heute nicht bekannt.

Auch Lahnstein wurde im Zweiten Weltkrieg massiv bombardiert. Im Bild hier zerstörte Häuser in der Sandgasse.
Sammlung Stadtarchiv Lahnstein/privat

Das Eingreifen dreier Männer sorgte dafür, dass Lahnstein trotz des Einholens der weißen Fahnen nicht von den Amerikanern zerstört wurde. Während einige Frauen die Aufmerksamkeit der wachhabenden Soldaten durch ein Glas Wein ablenkten, setzten Peter Hilger, Jakob Kuhn und Paul Sesterhenn in den frühen Morgenstunden des 21. März heimlich und unter Lebensgefahr in einem Nachen – einem flachen Holzkahn – nach Kapellen zu den Amerikanern über, um ihnen die Kapitulation der Stadt anzubieten.

Dadurch retteten sie Ober- und Niederlahnstein zwar vor weiterem Artilleriebeschuss, der deutsche Ortskommandant lehnte die Übergabe Lahnsteins aber kategorisch ab und folgte seinem Auftrag der Verteidigung der Stadt um jeden Preis. Die drei Männer kehrten erst sechs Wochen nach der Übergabe der Stadt aus amerikanischer Gefangenschaft nach Oberlahnstein zurück. Sie wurden im Jahr 1965 gemeinsam mit der Witwe des Bäckermeisters Rätz vom Bürgermeister und vom Stadtrat von Oberlahnstein empfangen, um ihrer Tat zu gedenken.

Schulen wurden geschlossen, ebenso Radio- und Fernsehsender

In der Nacht zum 25. März 1945 erreichten die amerikanischen Truppen erstmals das andere Rheinufer in Lahnstein. Nach einigen Kämpfen in den nächsten Tagen wurden Ober- und Niederlahnstein schließlich am 27. März 1945 von den Amerikanern besetzt.

Nachdem amerikanische Truppen einen Ort erobert hatten beziehungsweise sich dieser ergeben hatte, wurden in der Regel zunächst alle Häuser durchsucht und geräumt, die Menschen wurden währenddessen oft an einer zentralen Stelle festgehalten. Nach Abschluss der Durchsuchung wurden die Menschen gezählt und registriert. Wenn man sich von ihnen Informationen erhoffte, wurden sie verhört. Schulen wurden geschlossen, ebenso Radio- und Fernsehsender.

Symbol für das Kriegsende 1945: die Brücke von Remagen. Auf dem undatierten Archivfoto blickt ein amerikanischer Soldat auf die Brücke. Für US-Amerikaner zählt die Ruine der Rhein-Brücke zwischen Bonn und Koblenz zu den Sehenswürdigkeiten in Deutschland. Denn hier geschah vor 60 Jahren kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges etwas, womit keiner gerechnet hatte. Alliierte Truppen konnten erstmals den Rhein in Richtung Osten über eine noch stehende Brücke überqueren. Einige Historiker glauben, dass dadurch der Zweite Weltkrieg verkürzt wurde. Die Wehrmacht hatte vergeblich versucht, das Bauwerk zu zerstören. Heute erinnert ein Museum in den linksrheinischen Brückentürmen an die dramatischen Stunden.
DB dpa. picture-alliance/ dpa/dpaweb

Das politische Leben kam zum Stillstand. Waffen und andere Dinge wie Funkgeräte wurden konfisziert. Es wurde eine strenge Ausgangssperre verhängt. Die Amerikaner bemühten sich schnell darum, neue Strukturen zu etablieren, um den Wiederaufbau der Infrastruktur, die Nahrungsmittelversorgung und vieles andere mehr zu organisieren. Dafür waren sie auf die Mithilfe und Kooperationsbereitschaft der deutschen Bevölkerung angewiesen.

Die deutsche Bevölkerung wurde durch amerikanisches Besatzungspersonal meistens als „passiv oder kooperativ“, an mehreren Orten aber auch als „übertrieben dienstbeflissen“, „missmutig-verschlossen, unkooperativ, arrogant oder sogar feindselig“ beschrieben. Viele Besatzungsbeamte und Beobachter nahmen eine generelle Passivität und Apathie unter den Deutschen war, die Petra Goedde, Professorin für amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts und Geschichte („GIs and Germans“), nicht nur als Zeichen von Resignation gegenüber den Nachkriegsbedingungen, sondern auch als Schutzschild gegen den Vorwurf der Kollektivschuld der Alliierten deutet. Einige Deutsche sahen die Amerikaner scheinbar relativ schnell nicht mehr als Eroberer, sondern als ihre Beschützer.

Ein Augenzeuge aus Stromberg berichtet über amerikanische Reaktionen auf Plünderungen durch ehemalige Gefangene des Lagers in Rheinböllen: „Es muss bei dieser Gelegenheit festgestellt werden, dass das Verhalten der Offiziere diesen Plünderungen gegenüber unterschiedlich war. Während einige den Plünderern keinen Einhalt geboten mit dem Hinweis ‚die Deutschen haben es nicht besser gemacht‘, waren andere amerikanische Offiziere, die menschlich und nicht voller Hass gegen alles Deutsche waren, ganz energisch gegen die Plünderer vorgegangen und hatten dadurch größeres Unheil verhütet.“

Das Bürgerhospital in Koblenz sah noch 1960 so aus. Erst 1956 hatte Koblenz wieder die Einwohnerzahl erreicht, die die Stadt vor Beginn der Luftangriffe hatte.
Stadtarchiv Koblenz

Wie das obige Beispiel zeigt, waren auch die Reaktionen der amerikanischen Besatzer auf das Kriegsende und die Deutschen unterschiedlich. Einige trafen mit Hass und offen dargestellter Feindseligkeit auf die deutsche Bevölkerung. Kriegsreporterin Lee Miller beschreibt die Deutschen im Juni 1945 als „repugnant in their servility, amiability, hypocrisy“ (auf Deutsch: „widerwärtig in ihrer Unterwürfigkeit, Liebenswürdigkeit, Heuchelei“).

Die Rolle der Befreiten, in der sich viele Deutsche schnell sahen, sprach sie den Besetzten ab: „From what kind of escape zones in the unventilated alleys of their brains are they able to conjure up the idea that they are a liberated, not a conquered people?“ („Aus welchen Fluchtzonen in den unbelüfteten Gassen ihrer Gehirne können sie die Idee hervorzaubern, dass sie ein befreites und nicht ein erobertes Volk sind?“).

Eine weitere amerikanische Kriegsreporterin, Martha Gellhorn, berichtete im April 1945 über die im besetzten Deutschland oft zu vernehmenden Beteuerungen der Deutschen, niemand sei ein Nazi gewesen, und niemand habe von den deutschen Verbrechen gewusst. Die Reaktion vieler Amerikaner auf dieses Verhalten beschreibt sie in deutlichen Worten: „Wir stehen mit fassungslosen und verächtlichen Gesichtern da und hören uns diese Geschichten ohne Wohlwollen an und ganz gewiss ohne Achtung. Ein ganzes Volk, das sich vor der Verantwortung drückt, ist kein erbaulicher Anblick.“

Ein Augenzeuge berichtet aus Mayen: „Im Januar und Februar 1945 vegetierte die verbliebene Restbevölkerung (…) so dahin. Die Stadt war leer und kaum passierbar. Flüchtlingskolonnen, Verwundete und rückgeführte französische und polnische Kriegsgefangene zogen in Richtung Rhein. Luftangriffe auf Einzelziele (…) forderten weitere Menschenleben. Die öffentliche Ordnung war gestört. (…) Mit dem Ende des Winters warteten die Menschen auf den Einmarsch der Amerikaner, er wurde von den meisten als Erlösung herbeigesehnt.“

„Die Ereignisse zeigen, was passiert, wenn die Demokratie weg ist. Wenn wir zulassen, dass Autoritarismus und Diktatur herrschen. Wenn Krieg ist. Wenn der Staat und die öffentliche Ordnung nicht mehr funktionieren. Wie das Leben für jeden Einzelnen von heute auf morgen ein anderes ist.“
Landtagspräsident Hendrik Hering über das Kriegsende 1945 in Rheinland-Pfalz

Beispiele wie Lahnstein, Stromberg und Mayen gibt es in Rheinland-Pfalz noch unzählige mehr. In jedem Ort und in jeder Familie spielten sich damals dramatische Ereignisse ab. Hierbei geht es mir keinesfalls um eine Täter-Opfer-Umkehr. Im Gegenteil. Die Ereignisse zeigen, was passiert, wenn die Demokratie weg ist. Wenn wir zulassen, dass Autoritarismus und Diktatur herrschen. Wenn Krieg ist. Wenn der Staat und die öffentliche Ordnung nicht mehr funktionieren. Wie das Leben für jeden Einzelnen von heute auf morgen ein anderes ist.

Anhand der ausgewählten Beispiele wird jedoch deutlich, weshalb eine lebendige, regional bezogene und emotional erfahrbare Erinnerungs- und Gedenkkultur so wichtig für uns und unsere Demokratie ist. Nicht erstarrt in Ritualen, sondern erlebbar am Schicksal des eigenen Ortes und in der eigenen Familiengeschichte. Noch viel mehr müssen wir diese Geschichten ausgraben und erzählen. Noch viel mehr müssen wir Erinnerung wagen. Das kann persönlich schmerzhaft sein, aber der Gewinn für unsere demokratische Zukunft ist ungleich größer.

Die Stegemannstraße in der Koblenzer Innenstadt 1945.
Stadtarchiv Koblenz

Insbesondere für Schulen kann dies eine spannende und wertvolle Aufgabe sein und nicht nur für historische Seminare an den Universitäten. Es ist unsere historische und demokratische Verpflichtung, endlich, nach 80 Jahren Kriegsende, allen historischen Wahrheiten ins Auge zu blicken, nichts zu beschönigen, zu vertuschen oder zu verschweigen. Dies sind wir den unzähligen Opfern dieser Zeit schuldig. Dies sind wir auch unseren Kindern schuldig. Dies sind wir vor allem auch unserer Demokratie schuldig. Hieraus erwächst die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft unseres Landes und für ein geeintes, starkes und modernes Europa.

Unser Gastautor Hendrik Hering

Hendrik Hering ist seit dem 18. Mai 2016 Präsident des rheinland-pfälzischen Landtags. Davor bekleidete er zahlreiche politische Ämter in Rheinland-Pfalz, so als SPD-Landtagsabgeordneter, als Staatssekretär des Ministeriums für Umwelt und Forsten und des Ministeriums des Innern und für Sport, als Minister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau und als Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion. In Hachenburg (Westerwaldkreis) war Hendrik Hering von 1989 bis 2001 Stadtbürgermeister. Hering wurde am 13. April 1964 als eines von sechs Geschwistern in Hachenburg geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und einen Sohn. Hering ist auch Vorsitzender der Kommission für die Geschichte des Landes. red

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