Kreis Ahrweiler

Zaudern, zögern, schweigen: Krisenforscher Roselieb zerpflückt die Strategie des Ahrweiler Landrats Pföhler

Von Dirk Eberz
Warum wurde in der Flutkatastrophe erst so spät Katastrophenalarm ausgelöst? Das Einsatztagebuch könnte Klarheit schaffen. Der Kreis Ahrweiler verweist aber auf laufende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Koblenz.
Warum wurde in der Flutkatastrophe erst so spät Katastrophenalarm ausgelöst? Das Einsatztagebuch könnte Klarheit schaffen. Der Kreis Ahrweiler verweist aber auf laufende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Koblenz. Foto: dpa

Der Landrat des Kreises Ahrweiler hätte dem Kieler Krisenforscher Frank Roselieb zufolge am 14. Juli schon um 17.17 Uhr genug Gründe gehabt, um den Katastrophenalarm auszulösen. Zu diesem Zeitpunkt rief das Landesamt für Umwelt in Mainz die höchste Warnstufe Lila aus. Da war die Ahr bereits von 90 Zentimetern auf 2,78 Meter angeschwollen. Gleichzeitig warnte die Behörde bereits vor einer Flutwelle von bis zu fünf Metern. „Das ist Lila mal zwei“, betont Roselieb gegenüber unserer Zeitung.

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Um 17.40 Uhr trat laut Lagebericht der Krisenstab zusammen. Roselieb: „Es ist nicht zu begründen, warum die Frage nach dem Katastrophenalarm da nicht ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt worden ist.“ Aber wann darf ein Landrat überhaupt die höchste Eskalationsstufe ausrufen? Die Kriterien sind im Rahmen-, Alarm- und Einsatzplan (RAEG) Hochwasser des Landes Rheinland-Pfalz von 2020 geregelt, den laut Roselieb jeder Landrat auf dem Schreibtisch haben muss. „Alarmstufe fünf ist auszulösen, wenn feststeht oder zu vermuten ist, dass die Gefahrenlage das Tätigwerden eines Führungsstabes Katastrophenschutz Landkreis/kreisfreie Stadt erfordert“, heißt es dort in etwas schwammigem Beamtendeutsch. Die Entscheidung trifft der Landrat oder der Oberbürgermeister einer Stadt. „Die haben dann durchaus Spielraum“, betont Roselieb.

Der Schritt hätte weitreichende Folgen gehabt. Etwa die Evakuierung von Teilen der Bevölkerung. Davor schreckte Jürgen Pföhler offenbar am späten Nachmittag noch zurück. Hätten ihm denn Konsequenzen gedroht, wenn sich die prognostizierte Flut am Ende doch als normales Hochwasser herausgestellt hätte? Nein, sagt Krisenforscher Roselieb. „Ich kenne keinen Landrat, der verurteilt worden ist, weil er zu früh ausgelöst hätte.“ Es hätte dann auch rechtzeitig Warnungen im Radio gegeben. „Das wäre dann so wie die Meldung vor einem Geisterfahrer: unüberhörbar und in Dauerschleife“, erklärt Roselieb. Und zwar mit eindeutigen Hinweisen auf die Gefahren des Hochwassers mit klaren Handlungsanweisungen.

Im Exklusiv-Interview mit unserer Zeitung vor mehr als einer Woche hatte Landrat Pföhler sein langes Zögern damit begründet, dass es eine zwischenzeitliche Entwarnung des Deutschen Wetterdienstes gegeben habe. Demnach sei mit einem Sinken des Pegelstands Altenahr von fünf auf vier Meter zu rechnen gewesen. Das hat der DWD tatsächlich bestätigt, aber schnell wieder korrigiert, wie wir recherchiert haben. „Die Begründung des Landrats ist lächerlich“, sagt Roselieb. Alle Daten hätten nur wenig später auf ein deutliches Ansteigen der Ahr gedeutet. Tatsache ist: Schon um 20.15 Uhr wusste man im Ahrweiler Krisenstab, dass der Pegelstand in Altenahr bei 5,09 Metern lag, wie aus dem Lagebericht hervorgeht. Versehen mit dem Vermerk: „steigend“.

Roselieb zerpflückt auch Pföhlers Aussage gegenüber dem Bonner „General-Anzeiger“ vom Sonntag, dass zurzeit „niemand im Bund, im Land oder im Kreis seriös die Fragen nach Verantwortlichkeiten beantworten“ könne. Das stimme so nicht. Denn bei jedem Hochwasser von Alarmstufe zwei von fünf müsse ein Einsatztagebuch geführt werden, in dem alle Entscheidungen minutiös protokolliert würden. „Das ist quasi wie der Flugschreiber, der Auskunft über den Hergang des Absturzes gibt. Damit hätte der Landrat Vorwürfe gegen sich widerlegen können“, sagt Roselieb. Oder auch nicht. „Dass er das Einsatztagebuch auch nach mehr als zwei Wochen immer noch nicht veröffentlicht hat, gibt zu denken.“ Für den Krisenexperten ist auch nicht nachvollziehbar, warum Landrat Pföhler nicht endlich öffentlich Rede und Antwort steht. „Es gibt keinen Grund, sich nicht mal zwei Stunden vor die Presse zu stellen.“

So bleiben viele Fragen offen. Ab welchem Pegelstand sollte laut Plan eigentlich evakuiert werden? Gab es überhaupt einen Plan? Und warum befanden sich laut Lagebericht des Kreises Ahrweiler am frühen Abend trotz Warnstufe vier immer noch Menschen auf der Campinganlage Stahlhütte in der Ortslage Dorsel und in „weiteren Anlagen an der Ahr“, die von Strömungsrettern der DLRG Andernach und der Tauchergruppe Lahnstein/Koblenz von den Dächern ihrer Campingwagen gerettet werden mussten? Dabei sieht das Handbuch RAEG Hochwasser doch schon bei Warnstufe zwei eine „Mithilfe bei der Räumung von Campingplätzen“ vor.

Und wie kann es sein, dass zwölf hilfsbedürftige Menschen der Lebenshilfe Sinzig in der Nacht qualvoll ertranken, obwohl schon Warnstufe drei, die am 14. Juli angesichts der dramatischen Lage übersprungen worden ist, die „Unterstützung hilfsbedürftiger Personen bei der Räumung von gefährdeten Wohnungen“ vorschreibt?

Ein Blick ins Einsatztagebuch könnte Erklärungen liefern. Auf eine Anfrage unserer Zeitung verweist die Kreisverwaltung Ahrweiler auf die inzwischen laufenden Prüfungen der Staatsanwaltschaft Koblenz: Derzeit könne man keine Stellungnahme abgeben. „Das Ergebnis dieser Prüfungen bleibt abzuwarten.“

Damit lässt sich auch nicht mehr rekonstruieren, was sich im Krisenstab abspielte, bevor um 23.09 Uhr der Katastrophenfall ausgerufen wurde und ein Streifen von 50 Metern rechts und links der Ahr evakuiert werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt war es dazu bekanntlich viel zu spät. Rettungskräfte konnten nicht mehr in die Todeszone vordringen. Zumal die Wassermassen in der Zwischenzeit auch alles zermalmt hatten, was sich ihnen 200 Meter vom Flussbett entfernt in den Weg stellte. Viele Anwohner wurden im Schlaf von der Flutwelle überrascht. Mindestens 138 Menschen haben diese Horrornacht nicht überlebt.

Roselieb ist überzeugt, dass viele Opfer hätten verhindert werden können. Warum ließ der Krisenstab kostbare Stunden verstreichen? Warum wurde nicht spätestens um 20.45 Uhr die höchste Alarmstufe ausgerufen, als der Pegelstand bei Altenahr schon fast bei sechs Metern lag und ein Anstieg auf sieben Meter prognostiziert wurde? Noch war es hell. Und die Menschen lagen noch nicht in ihren Betten. Auch Krisenforscher Roselieb hat dafür keinerlei Erklärung. Antworten könnte nur das Einsatztagebuch liefern. Oder die Mitglieder des Krisenstabs um Landrat Pföhler. Aber die schweigen seit mehr als zwei Wochen. Dirk Eberz

Chronologie einer Katastrophe: Wie das Wasser in der Ahr stieg und stieg – und wie der Krisenstab reagierte

Was geschah am 14. Juli im Krisenstab des Kreises Ahrweiler? Er tritt am frühen Abend zusammen, Wetterinformationen sowie warnende E-Mails treffen in hoher Taktung ein – und dennoch gibt es eine verhängnisvolle zeitliche Lücke von 20.56 bis 23.09 Uhr, von der man nicht weiß, was geschah. Eine Chronologie auf der Basis unserer Recherchen:

Dienstag, 13. Juli, 13.49 Uhr: Die Hochwasservorhersagezentrale gibt für das Ahrgebiet die Warnklasse zwei (Gelb) aus.

Mittwoch, 14. Juli, 11.17 Uhr: Die Hochwasservorhersagezentrale löst aufgrund steigender Pegel und einer Prognose von bis zu 200 Litern pro Quadratmeter die Warnklasse vier (Rot, zweithöchste Warnstufe) aus. Die Warnstufe drei (Orange) wird übersprungen.

15.26 Uhr: Die Kreisverwaltung Ahrweiler wird vom Landesamt für Umwelt ab diesem Zeitpunkt im Drei-Stunden-Rhythmus mit einer automatisierten E-Mail über die aktuelle Hochwasserlage und vorhergesagte Höchststände informiert.

17.17 Uhr: Die Ahr steigt weiter massiv an – auf 2,78 Meter. Tendenz: steigend. Das Hochwasservorhersagezentrale aktiviert die höchste Warnstufe fünf (Lila). Auf dieser Basis könnte der Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler, ebenfalls sofort den Katastrophenalarm auslösen.

17.40 Uhr: Der Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Zimmermann übernimmt die überörtliche Einsatzleitung. Die technische Einsatzleitung (Feuerwehr, THW, DRK, Polizei und Verwaltungskräfte der Kreisverwaltung) unterstützen ihn dabei. Es wird aber noch nicht die Warnstufe fünf, sondern die Alarmstufe vier ausgelöst. Die Prognose für den Pegel Altenahr: rund fünf Meter.

Gegen 18 Uhr: Nach einer neuen Prognose des Deutschen Wetterdienstes (DWD) scheint sich das Regengebiet nach Nordrhein-Westfalen zu verlagern. Die automatisierten Modellrechnungen des Hochwassermeldedienstes senken die Prognose auf vier Meter. Im Krisenstab Ahrweiler macht sich Erleichterung breit.

18.26 Uhr: Die zweite automatisierte E-Mail zur Hochwasserlage erreicht die Kreisverwaltung.

Gegen 19.30 Uhr: Innenminister Roger Lewentz (SPD) verlässt den Krisenstab in Ahrweiler, wo er sich ein Bild der Lage gemacht hat. Er hat den Krisenstab als „konzentriert und ruhig“ arbeitend erlebt, wie er unserer Zeitung später in einem Gespräch sagte.

19.35 Uhr: Das Tief hat sich wieder in Richtung Ahrtal verschoben. Die Prognose für die Ahr wird wieder nach oben korrigiert. Auch der Krisenstab Ahrweiler geht wieder von fünf Metern am Pegel Altenahr aus, wie eine von ihm verbreitete Meldung über Katwarn zeigt.

19.36 Uhr: Der Pegel Altenahr steigt auf 4,29 Meter, die Vorhersage wird auf fünf Meter erhöht. Dies steht um 19.45 Uhr auf der Seite des Hochwassermeldedienstes.

20.15 Uhr: Der Pegel steigt weiter – auf nunmehr 5,09 Meter. Das sind bereits 1,35 Meter mehr als beim katastrophalen Hochwasser im Juni 2016, das schwere Schäden verursacht hat. Das Wasser der Ahr steigt in dieser Zeit um 30 bis 40 Zentimeter pro Stunde.

20.36 Uhr: Der Pegel Altenahr steigt auf unfassbare 5,75 Meter. Der Hochwassermeldedienst verkündet dies um 20.45 Uhr auf seiner Internetseite und sagt sogar 6,90 Meter voraus. Es ist die letzte Meldung, danach wird der Pegel Altenahr von der Flut mitgerissen.

20.56 Uhr: Der Krisenstab des Kreises Ahrweiler verbreitet per Twitter einen Lagebericht, der für Altenahr noch den Wasserstand von 5,09 Metern meldet. Betroffen seien aktuell insbesondere die Verbandsgemeinden Adenau und Altenahr. Erste Personen müssen auf Campingplätzen aus den Fluten gerettet werden, schreibt der Krisenstab. Das alles ist zu dieser Zeit aber längst überholt, denn die Ahr steigt rasant weiter. Zum Zeitpunkt des Lageberichts dürfte der Fluss in Altenahr bereits auf sechs Meter angeschwollen sein.

21.06 Uhr: Der Hochwassermeldedienst des Landesamts für Umwelt verbreitet auf der Basis der Messung von 20.45 Uhr ein entsprechendes Diagramm, dass in gestrichelter Linie weiter steigende Pegel in Altenahr voraussagt – bis auf geschätzte fast sieben Meter. Wie hoch das Wasser wirklich wird, weiß niemand mehr.

21.26 Uhr: Die Kreisverwaltung Ahrweiler erhält noch einmal eine automatisierte E-Mail des Landesamts für Umwelt, in dem ebenfalls eine Vorhersage von 6,90 Metern am Pegel Altenahr getroffen wird.

23.09 Uhr: Der Krisenstab des Kreises löst die Alarmstufe fünf aus und ordnet für Bad Neuenahr-Ahrweiler, Bad Bodendorf und Sinzig an, die Häuser 50 Meter links und rechts der Ahr zu evakuieren. Es wird sich herausstellen, dass dies viel zu wenig ist.

23.15 Uhr: In einem Lagebericht erläutert Landrat Pföhler die katastrophale Situation an der Ahr. In den Verbandsgemeinden Adenau und Altenahr seien Häuser von den Wassermassen zerstört und größere Trümmerteile von der Ahr mitgerissen worden. Er schreibt: „Die Lage ist sehr ernst. Es besteht Lebensgefahr!“ Für viele Menschen dürfte diese Warnung viel zu spät kommen. Manfred Ruch

Flutkatastrophe im Ahrtal
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