Rheinland-Pfalz

Wie gelingt der Klimaruck? Die Flut im Ahrtal hat gezeigt: Die Naturkatastrophen rücken näher

Von dpa/ck
Bilder, die wir bislang nur aus fernen Ländern kannten: Viele Menschen erinnert die Szenerie im Ahrtal wie hier in Marienthal an Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg. Experten sind überzeugt, dass die Ursache auch der menschengemachte Klimawandel ist.  Foto: Imago
Bilder, die wir bislang nur aus fernen Ländern kannten: Viele Menschen erinnert die Szenerie im Ahrtal wie hier in Marienthal an Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg. Experten sind überzeugt, dass die Ursache auch der menschengemachte Klimawandel ist. Foto: Imago

Es ist ein Albtraum, der Tausende Menschen innerhalb weniger Stunden aus ihrem Alltag gerissen hat. Die Starkregenereignisse in Rheinland-Pfalz, NRW, Bayern und Sachsen sind ungewöhnlich heftig, die Zahl der Toten hat längst die der Jahrhundertflut aus dem Jahr 2002 überschritten. Für viele Deutsche ist das ein Schock, den NRW-Innenminister Herbert Reul so beschreibt: „Ich glaube, die Befindlichkeit bei uns ist: Wir leben in einer heilen Industriewelt, einer Superwelt – und uns kann nichts passieren. Katastrophen finden irgendwo anders statt. Die gucken wir uns im Fernsehen an.“

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Dass die Extremwetterphänomene eng mit dem Klimawandel zusammenhängen, bestreitet kaum noch jemand. „Bei einer Erwärmung von 2 Grad oder gar mehr müssen wir mit noch viel heftigeren Extremwetterereignissen rechnen“, sagt der Chef des Umweltbundesamts (UBA), Dirk Messner. Schon jetzt hat sich die Erde um rund 1,2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit erhitzt. Laut UBA würde ein ungebremster Klimawandel erhebliche Schäden für Natur, Infrastruktur und das Wirtschaftssystem in Deutschland mit sich bringen. Und die jetzigen Starkregenereignisse haben laut Messner gezeigt: Ohne ambitionierten Klimaschutz wird sich die Lage verschlimmern. Ohne Anpassung an die neuen Herausforderungen allerdings auch. Denn: Wenn Länder und Kommunen keine Maßnahmen treffen, um gegen sintflutartige Regenergüsse oder Hitzewellen wie jüngst in Kanada gewappnet zu sein, sind viele Menschenleben gefährdet.

Keine Hitzeschutzpläne für Kliniken

Der Vorsitzende des Vereins Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit, Martin Herrmann, geht davon aus, dass auch die Gesundheitsversorgung derzeit nicht optimal auf Extremwetter eingestellt ist. „Die meisten Krankenhäuser haben zwar vorbereitete Pläne, wie sie mit dem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten umgehen. Aber ob sie bei extremen Wetterereignissen strukturell und personell die eigene Leistungsfähigkeit aufrechterhalten können, ist völlig unklar“, sagt Herrmann. Er kritisiert, dass es flächendeckend auch keine Hitzeschutzpläne für Kliniken oder Praxen gebe.

Bund und Länder müssen gemeinsam neue Wege zur Anpassung an den Klimawandel finden, meint Bundesumweltministerin Svenja Schulze. Zu diesem Zweck schlägt die SPD-Politikerin sogar vor, das Grundgesetz zu ändern. Nur so könnte der Bund dauerhaft Mittel für die Klimavorsorge bereitstellen. Bislang sind ihm die Hände gebunden. „Wir müssen jetzt diese nationale Katastrophe national beantworten.“ Erst Anfang Juli war das erste bundesweite Beratungszentrum zur Klimaanpassung in Kommunen an den Start gegangen. Es hilft und berät etwa in Pflege- oder Obdachlosenheimen, damit Bewohner bei Höchsttemperaturen im Schatten sitzen können.

Umweltverbände fordern indes Sofortmaßnahmen, um die Klimaanpassung in Deutschland voranzubringen. Der Chef des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Olaf Bandt, regt an, „den bisher vernachlässigten Hochwasserschutz in den Mittelpunkt der Politik zu stellen“. So müssten neben größeren Flüssen auch kleinere Fließgewässer künftig eine wichtige Rolle spielen.

Keine ideologische Frage

Längst bestimmt die Flutkatastrophe auch den Bundestagswahlkampf. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mahnte einen „Klimaruck“ an. Starkregenereignisse ließen sich nicht vorhersehen und führten zu dramatischen Entwicklungen, „dass in Sekundenbruchteilen ein Geröll-, Schlamm- und Muren-Tsunami in eine kleine Ortschaft kommen kann“. Klimaanpassung und Klimaschutz seien keine ideologische Frage, sondern „eine Frage der Vernunft“. Söder verlangte einen „gemeinsamen Geist“ beim Klima- und Hochwasserschutz. „Weil es ist tatsächlich so: Es passiert etwas, eine Katastrophe – alle sind bereit, alle wollen mitmachen. Und je länger die Katastrophe wieder zurückliegt, desto weniger Bereitschaft ist da.“ Man dürfe „nicht immer alles endlos zerreden“.

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock fordert: Warnketten müssten verbessert werden. Städte müssten umgebaut werden, Flüssen müsse mehr Raum gegeben werden. „Das ist kein Entweder-oder zwischen Klimavorsorge, Klimaanpassung und Klimaschutz, sondern ein Dreiklang, der eigentlich in den ganzen Klimaschutzverträgen weltweit auch genauso beschlossen ist.“ Von der CDU forderte die Grünen-Chefin, den Widerstand gegen ein striktes Bauverbot in Hochwasserrisikogebieten aufzugeben.

Ob so schwere Unglücke abzuwenden sind, ist unklar. Statistisch gesicherte Aussagen über die Starkniederschläge der Zukunft lassen sich laut Umweltbundesamt bislang nicht treffen. Klar ist nur: Der Klimawandel ist längst in Deutschland angekommen – und wird nicht wie ein vorübergehendes Wettertief wieder abziehen.

Fatima Abbas/ck

Christian Kunst zu den Folgen der Flutkatastrophe im Ahrtal: Ein Fukushima-Moment, der die Welt verändern könnte

Es sieht aus wie im Krieg. Diesen Satz hört man in diesen Tagen nicht nur von über 80-Jährigen, die noch Zeugen der größten menschengemachten Katastrophe des 20. Jahrhunderts waren. Man hört die Worte auch von Jüngeren, wenn sie die Bilder der Flutkatastrophe im Ahrtal sehen und sprachlos werden. Es ist beileibe nicht die erste Überschwemmung dieses Ausmaßes in Deutschland, und es wird nicht die letzte sein. Doch der Schrecken des 15. Juli 2021 im Ahrtal und im benachbarten NRW hat eine solche Wucht, dass er einen Fukushima-Moment schaffen könnte – eine politische Wende, die unser Denken über den Umgang mit der Natur und damit unser ganzes Leben revolutionieren könnte, nein: muss. Wie vor zehn Jahren, als eine Tsunami-Welle den japanischen Atommeiler unter sich begrub und zumindest in Deutschland ein radikales Umdenken mit Blick auf die Atomenergie initiierte, könnte die Flutkatastrophe im Ahrtal ein Fanal für eine Klimawende sein.

Dies zu sagen, bedeutet nicht, das Leid der Menschen im Ahrtal kleinzureden oder gar für einen höheren Zweck politisch zu instrumentalisieren. Im Gegenteil: Die riesige Solidarität und das Mitgefühl vieler in Deutschland und der Welt mit den Opfern zeigen, dass vielen spätestens jetzt bewusst wird, wie der Klimawandel jeden von uns treffen kann und unsere Existenz bedroht. Die Welt blickt auch deshalb auf das Ahrtal und das südliche NRW, weil die vom Klimawandel forcierten Wetterextreme jetzt eine der Herzkammern des Westens getroffen haben. Es wäre der richtige Moment, dass Deutschland wie nach Fukushima vorangeht. Da tut es nichts zur Sache, wie groß der Anteil des Klimawandels an dieser Flutkatastrophe war. Fest steht, dass uns wegen der bereits vorhandenen Erderwärmung extreme Starkregen und Hitzewellen in den nächsten Jahrzehnten immer öfter ereilen werden, selbst wenn wir von heute auf morgen klimaneutral werden würden. Deshalb bedeutet eine Klimawende zweierlei: Erstens müssen wir so schnell wie möglich die Erderwärmung und den Raubbau an der Natur global stoppen. Ob dieser gewaltigen Menschheitsaufgabe dürfen wir zweitens aber nicht aus dem Blick verlieren, dass wir unser Leben dringend für den bereits im Gang befindlichen Klimawandel wappnen müssen.

Den Menschen im Ahrtal helfen Sonntagsreden oder globale Klimaschutzforderungen herzlich wenig. Wer jetzt Soforthilfe verspricht, der muss auch eine schnelle, aber durchdachte Antwort auf die unangenehme Frage geben, wie künftig ein Leben in so bedrohten Regionen noch möglich sein kann. Da geht es um einen effektiveren Hochwasserschutz, eine bessere Katastrophenprävention oder um Frühwarnsysteme wie die gute alte Sirene. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass der Klimawandel anderswo in der Welt längst dazu geführt hat, dass ganze Landstriche unbewohnbar geworden sind. Diese unangenehmen Wahrheiten gehören zu einer ehrlichen Klimapolitik. Die Dörfer und Städte im Ahrtal also einfach wieder aufzubauen, wäre fahrlässig. Wer den Menschen ein „Weiter so“ vorgaukelt und sie in Sicherheit wiegt, riskiert, dass der Tod sie immer wieder im Schlaf heimsucht. Die Antwort auf den Krieg war ein „Nie wieder“. Das muss jetzt auch die Richtschnur der Politik nach der Flutkatastrophe im Ahrtal sein.

E-Mail: christian.kunst@rhein-zeitung.net

Flutkatastrophe im Ahrtal
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