Ahrtal

Warum wurde im Ahrtal nicht früher evakuiert? Innenminister Lewentz sagt: Nur der Kreis hätte die Entscheidung treffen können

Von de/ck/mr/ank
Vor der einstigen Metzgerei Damian klafft in Mayschoß ein riesiges Loch. Auch in diesem Weinort ist das Entsetzen über das, was die Flut angerichtet hat, groß. Die Infrastruktur ist komplett zerstört. Zumindest in dem der Ahr zugewandten Teil von Mayschoß gibt es fast nur noch Häuserruinen. Die Hoffnung auf Tourismus hat man für die nächsten Jahre erst einmal begraben.
Vor der einstigen Metzgerei Damian klafft in Mayschoß ein riesiges Loch. Auch in diesem Weinort ist das Entsetzen über das, was die Flut angerichtet hat, groß. Die Infrastruktur ist komplett zerstört. Zumindest in dem der Ahr zugewandten Teil von Mayschoß gibt es fast nur noch Häuserruinen. Die Hoffnung auf Tourismus hat man für die nächsten Jahre erst einmal begraben. Foto: Jochen Tarrach

Die Flutwelle, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli über das Ahrtal hereingebrochen ist, stellt alle Unwetter in den Schatten, die Experten jemals gemessen haben. „Es gibt sicher keinen lebenden Hydrologen in Deutschland, der so etwas schon einmal erlebt hat“, erklärte Norbert Demuth vom Landesamt für Umwelt gegenüber unserer Zeitung. Niederschlagsmesser sind demnach übergelaufen, weil sie auf derart gewaltige Mengen an Wasser nicht eingestellt waren. Viele Pegel wurden einfach weggerissen. Demuth sagt: „Das war mehr als eine Jahrhundertflut.“

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Mit welcher Wucht das Unwetter den Norden von Rheinland-Pfalz heimgesucht hat, lässt sich am Pegel von Altenahr ablesen. Am Mittwochmorgen dümpelt er noch bei 90 Zentimetern herum. Um 11 Uhr steigt er auf 1,14 Meter. „Da wurde die Warnstufe Rot ausgerufen“, sagt Demuth. Die zweithöchste. Denn der Deutsche Wetterdienst, von dem das Landesamt seine Daten bezieht, hat vor Starkregen und Überflutungen gewarnt.

„Nur der Landrat und der zuständige Brand- und Katastrophenschutzinspekteur hätten das aus der Erfahrung von 2016 wissen können.“ – Innenminister Roger Lewentz (SPD) war am Abend, als die Katastrophe eintrat, im Kreis Ahrweiler. Eine Entscheidung über Evakuierungen werde nicht vom Land getroffen.
Foto: dpa

Und tatsächlich steigt der Pegelstand immer weiter. Um 17.17 Uhr werden schon 2,78 Meter erreicht. Lila. Das ist die höchste Alarmstufe überhaupt. Das Landesamt für Umwelt gibt die bedrohlichen Daten an alle Kreise und Kommunen im Land weiter. Das löst große Verunsicherung aus. Jetzt gehen beim Mainzer Landesamt praktisch im Minutentakt Anrufe ein. „Viele wollten wissen, ob das wirklich stimmt“, erinnert sich der Hydrologe Demuth. Auch beim Kreis Ahrweiler muss die Nachricht eingeschlagen haben wie eine Bombe. Um 17.40 Uhr trifft die technische Einsatzleitung aus Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Rotem Kreuz, Polizei und Verwaltung zusammen, wie im Lagebericht der Kreisverwaltung Ahrweiler vom 14. Juli im Internet nachzulesen ist. „Aktuell sind mehrere Hundert aktive Kräfte im Einsatz“, heißt es weiter. Alarmstufe vier wird ausgerufen. Warum nicht fünf, so wie das Landesamt für Umwelt?

Zumal im Lagebericht genau vermerkt ist, dass die Hochwassergefahr an der Ahr und seinen Zuflüssen „sehr groß“ ist. Aus den umliegenden Kreisen werden Hilfskräfte angefordert, die in der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und zivile Verteidigung zusammengezogen werden. Schon gegen 18 Uhr etwa sind Katastrophenschützer aus dem Rhein-Hunsrück-Kreis an der Ahr.

In der Zwischenzeit ist auch Innenminister Roger Lewentz (SPD) dort eingetroffen, um ein Gefühl von der Lage zu bekommen. „Ich habe einen ruhig und konzentriert arbeitenden Stab erlebt“, erklärt Lewentz dazu am Freitagabend auf Anfrage unserer Zeitung. „Man sagte mir, dass alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen worden sind.“ Alle verfügbaren Einsatzkräfte seien im Einsatz gewesen. Von Panik offenbar keine Spur.

Aber an diesem Abend brennt es nicht nur an der Ahr. „Ich habe mich dann zurückgezogen, um erreichbar zu bleiben“, erinnert sich der Innenminister an den Abend des 14. Juli. Denn die Kommunikation im Kreis ist zu diesem Zeitpunkt längst zusammengebrochen. „Ich bin dann so gegen 19.30 Uhr weg“, sagt Lewentz.

Während der Innenminister im Lagezentrum ist, steigt das Wasser immer weiter. Laut dem Mainzer Landesamt wird gegen 19 Uhr am Pegel Altenahr die Marke von vier Metern überschritten. Gegen 19.15 Uhr wird der Pegel selbst von der ungeheuren Wucht der Flut komplett abgerissen. „Danach konnten wir den Wasserstand nur noch anhand von Computermodellen extrapolieren“, erklärt Hydrologe Demuth. Und die Ahr schwillt immer weiter an. Um 19.36 Uhr, kurz nachdem Lewentz abgereist ist, werden mehr als fünf Meter erreicht. Das sind schon fast 1,5 Meter mehr als beim Hochwasser aus dem Jahr 2016, das im Ahrtal bereits verheerende Schäden angerichtet hat.

Die letzten Daten ermittelt das Landesamt um 20.36 Uhr: unfassbare 6,90 Meter. Doch eine Evakuierung des Ahrtals bleibt weiter aus. Bis sich die Fluten schließlich auf acht Meter türmen. Erst kurz nach 23 Uhr, genauer: um 23.09 Uhr, geht die Meldung raus, dass ein 50 Meter breiter Streifen rechts und links des Flusses geräumt werden soll. Aber da ist es schon zu spät. Selbst Rettungskräfte kommen nicht mehr gegen die starke Strömung an. Autos werden von der Naturgewalt wie Spielzeug umhergeworfen, Häuser unterspült und weggerissen. Menschen ertrinken in ihren Kellern. Die erschreckende Bilanz nach der Flut: 132 Todesopfer wurden bislang gezählt, für weitere rund 150 Vermisste gibt es kaum Hoffnung.

Hätte man die Katastrophe verhindern können? „Glauben sie mir, wie oft ich darüber nachdenke“, betont Lewentz. Natürlich hätte man evakuieren können. Aber das sei nicht seine Entscheidung gewesen, sondern die des Kreises. „Nur der Landrat und der zuständige Brand- und Katastrophenschutzinspekteur hätten das aus der Erfahrung von 2016 wissen können“, betont Lewentz. „Ich kann diese Lücke nicht füllen.“ Wir haben mehrfach angefragt: Doch Landrat Jürgen Pföhler ist seit Tagen abgetaucht und nicht für die Presse zu sprechen.

Unterdessen bereitet sich das Ahrtal auf die für heute und morgen angekündigten Gewitter vor. Andreas Kirschartz von der Berufsfeuerwehr Trier hat die Pläne mit entwickelt. Stand Freitagabend rechnete er nicht damit, dass es noch einmal so schlimm werden könnte wie in der vergangenen Woche. Prognostiziert sind etwa 30 Liter Regen pro Quadratmeter.

In der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler ist auch bereits ein Teil der Kanalisation wieder insoweit hergestellt, dass er diese Regenmengen aufnehmen kann. „Trotzdem kann es sein, dass das Wasser in Teilen der Stadt zehn Zentimeter auf der Straße steht“, sagt Kirschartz. Für Menschen, die nicht in ihren Häusern bleiben möchten, wird deshalb ein Buspendelverkehr eingerichtet. Er fährt ab Samstag, 10 Uhr, alle halbe Stunde nach Leimersdorf. Dort entsteht ein Zeltlager, die Menschen können dort übernachten. Aus den stärker betroffenen Dörfern an der Mittelahr soll es ebenfalls Busshuttle geben. Sie fahren etwa alle zwei Stunden.

Die Menschen müssen ihre Häuser nicht verlassen. Die Shuttles sind ein Angebot. Es gibt allerdings auch einen Plan B: Sollten die Wetterprognosen nicht halten, wovon im Moment niemand ausgeht, kann das gesamte Tal evakuiert werden. Vorwarnzeit in diesem Fall: sechs Stunden. Ein zweites Fiasko möchte im Ahrtal niemand erleben.

Derweil droht dem Ahrtal neues Ungemach. Neben weiterem angekündigten Starkregen wächst auch die Gefahr von Krankheiten. Oberstleutnant Matthias Frank, Sprecher im Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, sagte unserer Zeitung, es gebe zwar „im Moment keinen Grund zur Besorgnis“, aber ein „Hygieneproblem, aus dem eine latente Seuchengefahr entstehen kann, speziell was Durchfallerkrankungen wie Cholera, Diphterie und Hepatitis A angeht“. Das resultiere aus den vielen Tierkadavern im Überflutungsgebiet, aber auch aus teilweise durch das Wasser eröffneten Gräbern. Hitze und Abwassersystem sorgen dafür, dass sich diese Durchfallerkrankungen schneller ausbreiten können. „Wenn jetzt wieder starker Regen dazukommt, dann verteilen sich die Keime und Giftstoffe noch stärker im Wasser“, sagte Frank. Insbesondere Tierkadaver und andere Gefahren für das Wasser müssten beseitigt werden. „Außerdem empfehlen unsere Hygieniker dringend eine Impfung der Bevölkerung, insbesondere der Helfer im Ahrtal, gegen Cholera, Diphterie, Hepatitis A und wegen der vielen Wundverletzungen auch gegen Tetanus.“ de/ck/mr/ank