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Rheinland-Pfalz/Berlin

Rechnungshof erhebt schwere Vorwürfe gegen Kliniken: Land hat keine Hinweise auf Verdachtsfälle

Von Ursula Samary, Christian Kunst
Der Rechnungshof spricht in dem Bericht von „unerwünschten Mitnahmeeffekten“. Über den Verbleib des Geldes gibt es demnach ein „hohes Aufklärungsinteresse“.
Der Rechnungshof spricht in dem Bericht von „unerwünschten Mitnahmeeffekten“. Über den Verbleib des Geldes gibt es demnach ein „hohes Aufklärungsinteresse“. Foto: dpa/Fabian Strauch

Haben sich Krankenhäuser in der Corona-Krise gesundgestoßen, indem sie zu Unrecht Corona-Prämien für Intensivkapazitäten kassiert haben? Und fehlt den Lockdowns damit die Basis, weil diese mit überlasteten Intensivstationen begründet wurden, die es gar nicht gab? Der Bundesrechnungshof wirft den Kliniken jedenfalls in einem noch nicht veröffentlichten Bericht vor, ihre Kapazitäten knapper dargestellt zu haben, als sie waren, um in der Corona-Pandemie Freihalteprämien für Intensivbetten zu kassieren.

Lesezeit: 3 Minuten
Konkret geht es um 686 Millionen Euro, die der Aufbau der Intensivkapazitäten gekostet hat. Der Rechnungshof spricht in dem Bericht von „unerwünschten Mitnahmeeffekten“. Über den Verbleib des Geldes gibt es demnach ein „hohes Aufklärungsinteresse“. Wie mehrere Medien unter Berufung auf das Papier berichten, hat das Robert Koch-Institut (RKI) bereits am 11. ...
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„Die Warnungen waren nicht übertrieben“: Leiter des Covid-19-Registers in RLP antwortet auf die wachsende Kritik an der Intensivmedizin

Es geht in dieser Pandemie oft um Zahlen. Sie sind die Basis für Lockdowns. Zugleich fehlt es an verlässlichen Daten. Besonders die Intensivmedizin geriet in die Kritik: Die Warnungen vor überlasteten Intensivstationen seien übertrieben, Kliniken hätten bei der Angabe freier Intensivkapazitäten geschummelt, um Prämien abzukassieren.

In Rheinland-Pfalz ist Dr. Anselm Gitt, Oberarzt am Herzzentrum Ludwigshafen, verantwortlich für das Covid-19-Register des Landes, das bereits seit dem Frühjahr 2020 die Behandlung von Covid-19-Patienten in den rheinland-pfälzischen Kliniken dokumentiert und zugleich als Frühwarnsystem fungiert. Gitt sagt im Interview mit unserer Zeitung: „Es hat zu keiner Zeit das Problem bestanden, dass es zu Kapazitätsengpässen bei Intensivbetten gekommen wäre.“ Zugleich betont er: „Die Warnungen der Intensivmediziner waren nicht übertrieben.“

Es gab während der dritten Welle Kritik an übertriebenen Warnungen der Mediziner vor einer Überlastung der Intensivstationen. Was sagen Sie dazu? Immerhin wurden damit Lockdowns mit erheblichen Folgen für die Bevölkerung begründet.

Wir können eine Prognose nur anhand der Zahl der Neuinfektionen treffen – das korreliert dann in gewisser Hinsicht mit der Zahl der Patienten, die später ins Krankenhaus kommen. Doch ein Vergleich von zweiter und dritter Welle zeigt, wie unsicher das ist: In der zweiten Welle befanden sich in den rheinland-pfälzischen Krankenhäusern in der Spitze Ende Dezember 1151 Covid-19-Patienten, darunter 227 auf den Intensivstationen, also 19,7 Prozent. Während der dritten Welle gab es deutlich weniger Covid-19-Patienten im Krankenhaus, in der Spitze Ende April waren es 696 Patienten, darunter 183 auf Intensivstationen, also 25,9 Prozent der Patienten. Es gab also in der dritten Welle verglichen mit der zweiten Welle einen höheren relativen Anteil an Intensivpatienten.

Wie erklären Sie sich das?

Das lässt sich noch nicht abschließend erklären. Ein möglicher Grund ist die britische Variante, die in der dritten Welle vorherrschte. Sie galt als ansteckender und sollte zu schwereren Verläufen führen. In der dritten Welle waren die Intensivpatienten jünger und mussten oft sehr lange behandelt werden. Dadurch kann es rein rechnerisch gesehen sein, dass die Zahl der Intensivpatienten wuchs, weil bei hohen Inzidenzwerten sehr schnell immer neue Patienten hinzukamen, während andere dort noch behandelt wurden. Für abschließende Aussagen müssen wir abwarten, bis personenbezogene Daten aus dem Krankheitsregister vorliegen.

Das heißt?

Unser Register besteht aus zwei Elementen: Jeden Tag melden die Krankenhäuser in einem Kapazitätsregister, wie viele Covid-19-Patienten sie aktuell stationär behandeln. Und es gibt das Krankheitsregister, in das jeder Covid-19-Patient mit seinen Daten aufgenommen wird. Aber diese Daten werden von den Kliniken nicht tagesaktuell erfasst, sodass wir die Daten mit einer zeitlichen Verzögerung erwarten.

Was wissen Sie denn über die Verweildauer der Intensivpatienten?

Dazu haben wir noch keine vergleichenden Daten für die verschiedenen Pandemiewellen. Die bisherigen Daten zeigten für das Gesamtregister eine durchschnittliche Verweildauer auf der Intensivstation von 21 Tagen, die durchschnittliche Beatmungsdauer lag bei 16 Tagen.

Viele Experten berichten, dass Jüngere länger auf den Intensivstationen liegen. Was sind Ihre Erfahrungen in Ludwigshafen?

Es gab auch bei uns einen Trend zu mehr jüngeren Intensivpatienten. Sie waren in der dritten Welle im Schnitt 10 bis 15 Jahre jünger als in der zweiten Welle. Das könnte womöglich eine Folge der britischen Variante gewesen sein. Sicherlich hat es auch damit zu tun, dass viele Ältere schon geimpft waren oder die Infektion bereits durchgemacht hatten. Jüngere Patienten haben wegen ihres Alters und der meist fehlenden Begleiterkrankungen eine höhere Chance, selbst bei schwerer Erkrankung die Infektion zu überleben. Was die längere Behandlungsdauer angeht: Bei jüngeren Patienten werden alle zur Verfügung stehenden Mittel ergriffen, um ihr Leben zu retten.

Das bedeutet: bei Älteren nicht?

Es wurde in Deutschland immer wieder darüber spekuliert, ob wir bei Covid-19-Patienten eine Triage einsetzen, also aufgrund fehlender Ressourcen gegebenenfalls Intensivbehandlungen vorenthalten müssten. Das war nicht notwendig. Unabhängig von der besonderen Situation der Pandemie müssen Intensivmediziner aber nahezu täglich Entscheidungen treffen, wie weit in Abhängigkeit von der Heilungsaussicht, des Alters und der Begleiterkrankungen der Patienten intensivmedizinische Maßnahmen ergriffen werden sollten. Immer stehen das Patientenwohl und der geäußerte Patientenwille im Vordergrund. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren ist das Maximum an Intensivbehandlung nicht immer sinnvoll und in vielen Fällen auch von den Patienten nicht gewünscht. So kann sich bei einem deutlich vorerkrankten 85-Jährigen die Frage stellen, ob eine Beatmung sinnvoll ist, wenn keine Aussicht darauf besteht, dass er jemals wieder ohne künstliche Beatmung auskommt. Bei jüngeren und zuvor gesunden Patienten werden die intensivmedizinischen Möglichkeiten in der Hoffnung auf eine vollständige Heilung hingegen voll ausgeschöpft. Das würde auch die längere Liegezeit der jüngeren Covid-19-Intensivpatienten in der dritten Welle erklären.

Was macht die lange Zeit auf der Intensivstation mit Patienten?

Eine lange intensivmedizinische Behandlung und Beatmung hinterlässt bei jedem einzelnen Patienten deutliche Spuren. Für ältere Patienten und solche mit Vorerkrankungen ist die Belastung noch deutlich höher. Wenn sie nach einer langen Beatmung entwöhnt werden müssen und wieder auf die Beine kommen sollen, ist das ein sehr langer Prozess.

Bestand denn in Rheinland-Pfalz jemals die Gefahr, dass die Intensivstationen überlastet werden?

Nein. Es hat zu keiner Zeit das Problem bestanden, dass es zu Kapazitätsengpässen bei Intensivbetten gekommen wäre. Allerdings geht es nicht nur darum, ob es ausreichend Intensivbetten gibt, sondern auch darum, wie viele eine Klinik personell betreiben kann. Die Personalkapazitäten der Kliniken haben wir regelmäßig abgefragt. Es haben viele Kliniken in der Spitze der zweiten und dritten Welle angegeben, dass sie mit einem Mangel an qualifiziertem Personal – auch wegen teils selbst infizierten oder in Quarantäne befindlichen Mitarbeitern – zu kämpfen hatten. Außerdem gab es wegen der langen Verweildauer der Patienten auf den Intensivstationen das Phänomen, dass zwar die Infektionszahlen Mitte Mai zurückgingen, die Pandemie also abzuflauen schien, wir aber auf den Intensivstationen noch so viele Patienten wie in der Spitze der ersten Welle im April 2020 hatten. Es dauert also, bis sich eine abflauende Infektionswelle auch auf den Intensivstationen zeigt. Deshalb waren die Warnungen der Intensivmediziner nicht übertrieben.

Der Chef der Techniker Krankenkasse in Rheinland-Pfalz, Jörn Simon, sagt: 70 Prozent der Corona-Patienten wurden in 25 Prozent der Kliniken behandelt. Diese Zahlen seien ein Beleg dafür, dass die Kliniken stärker zentralisiert werden müssen. Ähnlich hat sich auch RKI-Chef Lothar Wieler geäußert. Wie ist die Lage in Rheinland-Pfalz?

Mit Blick auf die rheinland-pfälzischen Krankenhäuser kann ich diese These nicht bestätigen. Auf der Spitze der dritten Welle am 27. April 2021 hatten wir beispielsweise 696 Covid-19-Patienten in rheinland-pfälzischen Kliniken in Behandlung, davon 513 auf Normalstationen und 183 auf Intensivstationen. 55 Prozent der Patienten wurden in Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung behandelt, 56 Prozent der Normal- und 47 Prozent der Intensivpatienten. Ähnlich war die Lage auch auf der Spitze der ersten und zweiten Welle. Und unsere Analysen zeigen, dass sich die große Mehrheit der Krankenhäuser in allen Pandemiewellen gleichermaßen an der Versorgung der Patienten beteiligt hat. Die angebliche Dominanz der großen Kliniken bei der Versorgung der stationären Sars-CoV-2-Patienten trifft für das Flächenland Rheinland-Pfalz also nicht zu.

Ihre Analysen zeigen aber auch, dass mehr als 50 Prozent der Intensivpatienten zum Höhepunkt von zweiter und dritter Welle in den 17 großen rheinland-pfälzischen Kliniken behandelt wurden.

Ja. Das liegt aber daran, dass diese Kliniken auch die größten Kapazitäten haben. Das ändert nichts daran, dass alle Kliniken nach ihren Möglichkeiten an der Bewältigung des Patientenansturms beteiligt waren. Und: Die Patienten auf Normalstationen wurden in allen drei Wellen zu mehr als 50 Prozent in kleineren Krankenhäusern versorgt. Das ist für einen Maximalversorger wie uns eine große Entlastung. Wir wissen in Ludwigshafen, wie aufwendig die Behandlung dieser Patienten auf der Normalstation ist. Für kleine Kliniken ist das eine riesige Herausforderung. Wenn wir die vielen Normalpatienten auch noch hätten mit versorgen müssen, wäre bei uns Land unter gewesen. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass die Verteilung der Patienten in einem Flächenland wie Rheinland-Pfalz so gut funktioniert hat. Wir haben den Ansturm der Patienten durch eine gute Koordination und Vernetzung der Kliniken in allen Pandemiewellen bewältigt. Das Covid-19-Register war eine große Hilfe.

Ist das eine Blaupause für eine trägerübergreifende Kooperation von Kliniken nach der Krise?

Wir können aus dieser Krise für den Alltag lernen, sollten uns aber vor der Idee einer zentralistischen Patientensteuerung hüten. Dennoch ist es sinnvoll, bei bestimmten Erkrankungen wie kardiologischen Notfällen oder bei komplexen Krebsbehandlungen Netzwerke zwischen Kliniken zu schaffen, um Patienten optimal zu versorgen.

Bei der Corona-Bekämpfung setzen wir auf Impfungen. Gibt es denn auch Fortschritte bei der Behandlung von Intensivpatienten?

Von den Medikamenten hat sich allein die Kortisontherapie mit Dexamethason durchgesetzt. Das ist eine Hilfestellung, aber wir sind auch heute noch weit entfernt von einer spezifischen Therapie der Covid-19-Infektion. Keines der Medikamente hat den großen Durchbruch gebracht. Allerdings ist auch Dexamethason kein Mittel für eine heilende Therapie. Damit können wir Krankheitsverläufe etwas mildern und die Behandlungsdauer leicht verkürzen. Da geht es um ein bis zwei Tage. Aber auch dafür sind wir dankbar.

Einige Ihrer Kollegen nennen das Kortison einen Gamechanger.

Wenn Intensivmediziner einer Krankheit weitgehend hilflos gegenüberstehen, ist jede Therapieform, die eine Linderung bringt, eine große Hilfe. Laut einer Studie kann der Einsatz eines Kortisonsprays bei einer milden Erkrankung helfen, schwere, intensivpflichtige Verläufe zu verhindern. Das sind aber keine wirklichen Gamechanger. Das ist die Impfung. Doch wenn ein Patient erkrankt ist, fehlt uns eine spezifische Therapie wie etwa bei einer bakteriell verursachten Lungenentzündung, die wir sehr wirksam und gezielt mit Antibiotika behandeln können. Wir bräuchten also ein antivirales Medikament. Zudem mussten wir bereits mehrfach erfahren, dass sich das Virus immer wieder verändert, was zu schwereren Verläufen führen kann und die Behandlung oft noch komplizierter macht.

Was haben Sie bei der Behandlung der Intensivpatienten dazugelernt?

Wir haben gelernt, wie wir Patienten schonender beatmen können. Dazu gehört auch die Bauchlage bei der Beatmung. Das ist keine Neuentdeckung, aber eine wichtige Routine bei der Behandlung.Wenn die Lunge ohnehin schon schwer erkrankt und deutlich verändert ist, führt eine zu aggressive Beatmung zu einer weiteren Traumatisierung des Organs.

Das Gespräch führte Christian Kunst

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