Kein Zweifel: Mit ihrem neuen Führungsduo Walter-Borjans/Esken ist die deutsche Sozialdemokratie dem Ausstieg aus der missliebigen Großen Koalition ein großes Stück näher gerückt. Und das ist – auf längere Sicht – für alle Beteiligten das Beste. Vor allem aber für Deutschland! Bliebe aber eine entscheidende Frage offen: zu welchem Zeitpunkt? Nach der ersten Machtprobe im Koalitionsausschuss, gestärkt durch den Rückhalt von 53 Prozent der Hälfte der Genossen? Oder am Ende einer Legislaturperiode, die mit Hängen und Würgen über die Ziellinie gebracht wird?!
„Sollen sie doch gehen – ich bleibe!“, wird die Kanzlerin aus einer vertraulichen Unionsrunde vor wenigen Tagen zitiert. Will heißen: Merkel selbst hat noch längst nicht fertig, denkt keinesfalls ans Hinschmeißen, will auch nicht die Vertrauensfrage stellen. Sie setzt offenkundig vielmehr notfalls auf eine Minderheitsregierung – toleriert von ihrem ehemaligem Partner SPD. Dabei kalkuliert die Kanzlerin ganz kühl: Die SPD in ihrem heutigen Zustand kann wahrlich kein wirkliches Interesse an vorgezogenen Neuwahlen haben – mit einem möglicherweise einstelligen Ergebnis als Todesstoß …
Dabei lässt die gewiefte Taktikerin aber außer Acht, dass der neuen SPD-Führung das persönliche Schicksal der SPD-Kabinettsmitglieder und der alten Führungsriege der Partei herzlich egal sein wird. Im Gegenteil: Beim Bruch der GroKo wäre Großreinemachen angesagt – am Kabinettstisch und im Willy-Brandt-Haus. In beiden Fällen könnten die Neuen dabei ihre Hände in Unschuld waschen – und einen brutalstmöglichen Neuanfang wagen. Bleiben die Sozialdemokraten aber bis zum Ende bei der Stange, hätte die Partei unter neuer Ägide genügend Zeit, sich zu regenerieren und mit neuem (linkeren) Profil für den Herbst 2021 neu aufzustellen.
Genau das ist es nämlich, was zumindest der größere Teil der Basis von ihr erwartet: weg von der vermaledeiten Mitte, wo sich die Genossen (mit Unterbrechung durch das Kabinett Merkel II) seit nunmehr 14 Jahren mit der Union zusammen auf den Füßen stehen. Kein Wunder, dass Jusos, der linke Parteiflügel und Teile des mächtigen NRW-Landesverbands, aus dem „NoWaBo“ stammt, Morgenluft wittern. Ähnliches gilt auf der anderen Seite für die Junge Union, den Wirtschaftsflügel und die Werte-Union. Allesamt fordern sie: klare Profile, klare Kante und damit neue Chancen für die eigentlichen Grundwerte beider Parteien. Und das ist alles andere als ein Bekenntnis à la AKK, die sich beim Leipziger Parteitag nach allen Seiten offen zeigte: sozial, konservativ und liberal: Das Maß der Mitte.
Tragischer Held im letzten Akt der monatelangen Suche nach einem neuen SPD-Führungsteam ist Olaf Scholz: Ausgerechnet er, der Parteisoldat, dem die Sozialdemokraten bisher (fast) jede Rolle anvertrauen konnten: Innensenator in Hamburg, Generalsekretär, Bundesarbeitsminister, Erster Bürgermeister von Hamburg, Bundesfinanzminister und Vizekanzler. An der Parteispitze trauten die Genossen dem fleißigen, aber wenig mitreißenden Nordlicht indes nur den kommissarischen Vorsitz zu. Weil er, wie kaum ein anderer, für das System stand: eine Koalition der Mitte – und für viele damit der Mittelmäßigkeit.
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