Kiel

Krisenexperte Roselieb mit drastischer Aussage: „Viele Opfer hätten verhindert werden können“

Von Dirk Eberz
Frank Roselieb
Frank Roselieb Foto: picture alliance/dpa

Der Krisenstab in Ahrweiler hat in der Nacht der Flutkatastrophe vom 14. auf den 15. Juli offenbar viel zu spät reagiert. Das haben Recherchen unserer Zeitung ergeben. Aber wer trägt die Verantwortung? Für den Kieler Krisenexperten Frank Roselieb ist der Fall ganz klar: Landrat Jürgen Pföhler (CDU).

Lesezeit: 7 Minuten
Anzeige

Katastrophenschutzmanagement sei eine Kernfunktion jedes Kreischefs und jedes Oberbürgermeisters. Dazu würden sie frühzeitig geschult. „Keine Bundeskanzlerin, kein Ministerpräsident ist so gut darauf vorbereitet, eine solche Krise zu bewältigen“, betont Roselieb im Interview mit unserer Zeitung. Selbst Innenminister Roger Lewentz (SPD), der selbst kurz im Lagezentrum war, hätte den Landrat demnach theoretisch nicht überstimmen können, wenn er es versucht hätte. Auch das gewaltige Ausmaß der Flut lässt der Krisenexperte nicht als Entschuldigung durchgehen: „Niemand kann sagen, dass es solche Flutwellen im Ahrtal noch nicht gegeben hat“, betont er. „Beim Hochwasser vor 200 Jahren waren die Dimensionen etwa noch gewaltiger.“ Vor 100 Jahren sei es ähnlich gewesen. Zudem sei man frühzeitig gewarnt worden. Für Roselieb gibt es deshalb keinen Grund, an diesem Abend nicht vorbereitet gewesen zu sein.

Schon Tage vor der Flutwelle im Ahrtal hat es jede Menge Warnungen gegeben. Würden Sie von einer Katastrophe mit Ansage sprechen?

Nein, eine Katastrophe mit Ansage war es nicht. Das geht sicher ein bisschen zu weit. Aber eine Katastrophe, auf die man gut vorbereitet war, ist es schon. Denn es gibt kein Szenario, das so oft durchgespielt wird wie ein Hochwasser. Das ist ja der Klassiker im Portfolio des Katastrophenschutzes. Dazu wird jeder Landrat und jeder Oberbürgermeister in Deutschland am Anfang seiner Amtszeit mal zur Akademie des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe nach Bad Neuenahr-Ahrweiler geschickt, um einen Crashkurs in Katastrophenmanagement zu bekommen. Denn das ist ja die Kernfunktion eines jeden Landrats. Keine Bundeskanzlerin, kein Ministerpräsident ist so gut darauf vorbereitet, eine solche Krise zu bewältigen.

Und trotzdem ruft der Landrat den Katastrophenfall erst mitten in der Nacht aus. Hätte das nicht viele Stunden früher geschehen müssen?

Den Katastrophenalarm auszulösen, machen sie nicht einfach so. Da muss schon ein heftiger Grund vorliegen. Was ich aber nicht verstehe, ist, dass meines Wissens nach kein Voralarm ausgelöst worden ist. Das hätte man für meine Begriffe schon am frühen Abend machen können, um Notmaßnahmen einleiten zu können. Das ist etwa möglich, wenn die Pegelstände steigen und steigen, ohne dass schon was Schlimmeres passiert ist. Das Instrument nutzen Landräte im sturmfluterprobten Schleswig-Holstein seit Jahrzehnten. Das ist quasi dann schon der Katastrophenalarm im Kopf. Der heißt nur aus rechtlichen Gründen anders.

Aber die Dimensionen waren schon gewaltig. Konnte die Einsatzleitung wirklich mit sieben Meter hohen Flutwellen rechnen, die wie ein Tsunami durchs Ahrtal rauschen?

Niemand kann sagen, dass es solche Flutwellen im Ahrtal noch nicht gegeben hat. Wir haben uns mal die Zahlen angeschaut, die von der Technischen Universität Karlsruhe veröffentlicht worden sind. Beim Hochwasser vor 200 Jahren waren die Dimensionen etwa noch gewaltiger. Ähnlich sah es vor 100 Jahren aus. Wir hatten es also nicht mit dem berühmten „Schwarzen Schwan“ zu tun. Normalerweise hätte man also erwarten sollen, dass ein paar Tage vor dem frühzeitig vorhergesagten Unwetter schon mal die Pläne rausholt werden, um sich zu fragen: Was machen wir denn, wenn wir eine drei, fünf oder sechs Meter hohe Flutwelle bekommen? Es gab für mich keine Gründe, an diesem Abend nicht vorbereitet gewesen zu sein. Und auch wenn man die Daten anzweifelt, kann man ja immer bei den Behörden nachfragen, die sie übermittelt haben. Warum das offenbar nicht geschehen ist, kann ich mir nicht erklären.

Würden Sie also sagen, dass das Krisenmanagement im Ahrtal in den letzten Stunden vor der Katastrophe versagt hat?

Es war zumindest nicht die Entscheidungsfreude da, die man sich in der Situation gewünscht hätte. Ich weiß ja nicht im Detail, was die Einsatzleitung dann gemacht hat. Normalerweise haben wir nur sehr wenige Fälle, in denen der Krisenstab schon da ist, bevor die eigentliche Katastrophe eintritt. Und noch seltener ist es, dass er dann im Ergebnis nichts macht, um die Katastrophe zumindest einzudämmen. Das habe ich so noch nie erlebt. Außer bei der Love Parade in Duisburg. Da hatten wir ein ähnlich desaströses Ergebnis.

Hätten denn bei einem entschlosseneren Handeln Schäden vermieden werden können?

Nehmen wir mal das Hochwasser 2013 in Meißen. Das lässt sich durchaus mit dem im Ahrtal vergleichen. Da haben sie natürlich auch dramatische Schäden gehabt. Aber eben nicht diese Zahl an Toten und Verletzten. Die Schäden konnten sie nicht vermeiden. In der Geschwindigkeit können Sie die Gebäude nicht mehr abstützen. Aber viele menschliche Opfer hätten verhindert werden können. Sie werden immer irgendwelche Leute nicht erreichen. Sie werden immer jemanden haben, der sagt: Ich gehe hier nicht raus. Aber in der Größenordnung hätte man bei einer rechtzeitigen Warnung schon etwas bewirken können.

Ist die Verantwortung bei Naturkatastrophen dieser Tragweite nicht viel zu groß, um sie Ehrenamtlichen oder einem Landrat zu überlassen?

Dem ehrenamtlichen Ortsbürgermeister würde ich diese Verantwortung nicht überlassen. Beim Landrat sieht das ganz anders aus. Der macht den Job hauptamtlich. Der ist ja, überspitzt formuliert, nur für das Thema Katastrophe installiert. All die anderen Sachen, die er sonst so macht, sind eher Nebentätigkeiten. In der Stellenbeschreibung eines Landrats oder einer Oberbürgermeisterin zählt das Krisenmanagement zu den wenigen Tätigkeiten, die nicht wirklich delegiert werden können. Deshalb hängen Feuerwehr und Rettungszentralen immer beim Landkreis oder bei den Städten. Dafür muss der Landrat 24/7 erreichbar sein. Und darin ist er geschult. Keiner kann mir sagen, dass er das nicht gewusst hat.

Nehmen wir mal an, es würde nachgewiesen, dass bei einer früheren Entscheidung zu evakuieren, Menschenleben hätten gerettet werden können. Drohen dem Landrat in diesem Fall strafrechtliche Konsequenzen?

Das ist schwierig. Als Angehöriger eines Flutopfers können Sie natürlich eine Anzeige gegen unbekannt oder vielleicht sogar gegen den Landrat selbst wegen einer falschen Entscheidung erstatten. Vor Gericht streiten sich die Juristen dann etwa um Begriffe wie „Amtspflichtverletzung“ und „Amtshaftungsanspruch“. Es geht also sehr schnell nicht mehr um den Landrat als natürlicher Person sondern eher um eine Art Organisationsverschulden. Das nachzuweisen und bis in die letzte Instanz zu begründen, ist nicht einfach. Mir ist aktuell kein Fall bekannt, wo ein Landrat oder ein Oberbürgermeister wegen einer falschen Entscheidung im Katastrophenmanagement als Person verurteilt worden ist. Im Normalfall treten Landräte dann irgendwann zurück.

Angenommen, Sie wären der Kommunikationsberater des Ahrweilerer Landrats. Nach all dem, was sie jetzt wissen: Würden Sie ihm zum Rücktritt raten?

Bei Rücktritten bin ich immer vorsichtig. Im Krisenmanagement gilt eigentlich der Grundsatz, dass der Kapitän im Sturm nicht ausgetauscht wird. Der kennt den Landkreis so gut, dass man sagt: Fahre das Schiff erst mal in den sicheren Hafen. Und dann überprüfen wir noch mal, ob nur der Sturm zu stark war oder ob du Fehlentscheidungen getroffen hast. Also jetzt zurückzutreten, halte ich nicht für richtig. Aber wenn das aufgearbeitet wird und Fehler entdeckt werden, sollte er über Konsequenzen nachdenken.

War es klug vom Landrat, so lange zu seiner Rolle am Abend der Flutkatastrophe gegenüber der Presse zu schweigen?

Nein. Normalerweise müssen sie da spätestens am nächsten Tag eine Pressekonferenz machen. Das haben sie aktuell auch im Chemiepark Leverkusen gesehen: Kurz vor 10 Uhr hat sich die Explosion ereignet, und um 14 Uhr trat der Oberbürgermeister mit dem Chemieparkleiter und dem Feuerwehrkommandanten vor die Presse. So soll es sein.

Jetzt war am Abend der Flutkatastrophe auch noch Innenminister Roger Lewentz im Lagezentrum. Hätte er die Einsatzleitung theoretisch an sich reißen können, wenn er gemerkt hätte, dass der Landrat überfordert ist?

Das funktioniert so ohne Weiteres nicht. Das ist so wie der Kapitän auf dem Schiff, den sie nicht von der Brücke kriegen. Wenn der sich für fit hält, ist das Entmachten sehr, sehr schwierig. Und ich würde auch bezweifeln, dass ein Innenminister so was machen sollte. Denn dann hätte er die ganze Verantwortung über ein Katastrophenmanagement, das er operativ gar nicht steuern kann, weil ihm vor Ort die Kontakte fehlen. Zudem hat er nicht die fachlichen Fähigkeiten, um die Lage vor Ort im Detail einzuschätzen. Sich jetzt gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben, macht man nicht. Da wird niemand gewinnen.

Kommen wir mal zur Rolle des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, das seinen Sitz in Bonn hat. Also direkt vor der Haustür des Kreises Ahrweiler. Wofür braucht man eine solche Behörde mit 400 Mitarbeitern, wenn sie im Ernstfall wenig ausrichten kann?

In dieser Größenordnung braucht man dieses Amt eigentlich nicht. Es hat in erster Linie die Funktion, die zentrale Ausbildung durchzuführen. Wir haben rund 400 Landräte und Oberbürgermeister in Deutschland, die man da zwei Wochen nach der Wahl hinschicken kann. Dafür brauche ich die. Ein bisschen auch für das zweite Augenpaar, das den Kräften in Krisen über die Schulter schaut und notfalls berät. Aber alles andere ist nur Krise verwalten, statt Krise zu managen. Ich wäre deshalb dafür, dass man das Amt auf einen harten Kern zurückstuft. Dazu würden 150 Mitarbeiter reichen. 400 brauchen wir meiner Meinung nach nicht.

Kritik üben Sie auch an der App Nina, die die Bonner Behörde entwickelt hat. Warum?

Nina ist eine extrem akkufressende App. Wenn sie die bei sich installiert haben, müssen sie ihr Handy ein- oder zweimal am Tag laden. Die ist technisch eine Katastrophe und wird oft deaktiviert. Und nach unseren Infos hat sie im Ahrtal auch nicht gewarnt. Diese Kette ist also nicht geschlossen. Es gibt ja auch Katwarn. Die App ist nach meiner Einschätzung wesentlich besser. Und sie hat funktioniert. Wir haben da eine unsinnige Konkurrenz. Ich habe nie verstanden, warum wir Nina brauchen, obwohl wir doch schon Katwarn haben.

Denken Sie, dass die Meldeketten überdacht werden müssen?

Also, die Meldeketten haben funktioniert. Es waren ausreichend Informationen da, auf deren Grundlage der Krisenstab hätte entscheiden können. Das Problem war die letzte Meile. Entweder hat der Bürger die Meldung nicht erhalten, oder es wurde die falsche Entscheidung getroffen.

Das Interview führte Dirk Eberz

Frank Roselieb ist einer der profiliertesten Krisenforscher in Deutschland

Frank Roselieb ist geschäftsführender Direktor und Sprecher des Krisennavigator am Institut für Krisenforschung, einem Ableger der Christian-Albrechts-Universität Kiel. In mehr als 500 Vorträgen, Veröffentlichungen, Forschungs- und Beratungsprojekten hat sich der Wirtschaftswissenschaftler seit 1998 mit Krisenkommunikation im Internet, Krisenmanagement bei Lebensmittelskandalen und Risikokommunikation beim Branchen-GAU beschäftigt. Zu seinen Spezialthemen gehören auch Katastrophenmanagement bei Terroranschlägen sowie Banken- und Restrukturierungsmanagement im Mittelstand.

Als Leiter der angegliederten Krisennavigator Unternehmensberatung mit Sitz in Kiel und einer Niederlassung in Hamburg hat Frank Roselieb außerdem mehr als 3000 Spitzen- und Führungskräfte in Krisenübungen und Medientrainings, Fortbildungsveranstaltungen und Workshops geschult sowie mehr als 500 Unternehmen, öffentliche Einrichtungen, Kommunen und Verbände in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein bei der Krisenprävention und Krisenbewältigung beraten und unterstützt, auditiert und zertifiziert. Im Ehrenamt ist Frank Roselieb seit 2003 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement (DGfKM), dem Berufsverband der Krisenmanager, Krisenberater und Krisenforscher in den vier deutschsprachigen Ländern Europas mit Sitz in Hamburg. Roselieb ist auch Herausgeber der Brancheninformationsdienste Krisennavigator und Crisisnavigator sowie der Fachzeitschriften „Krisenmagazin“ und „Restrukturierungsmagazin“.

Flutkatastrophe im Ahrtal
Meistgelesene Artikel