Berlin/Bad Neuenahr-Ahrweiler

Hohe Infektionsgefahr im Katastrophengebiet: Sämtliche Kläranlagen sind beschädigt

Unwetter in Rheinland-Pfalz
Bagger beseitigen nach dem Hochwasser den Schutt auf den Straßen von Dernau. Foto: Thomas Frey/dpa

Eine Woche nach dem verheerenden Hochwasser in Rheinland-Pfalz ist die Lage im Ahrtal immer noch dramatisch. Die Zahl der Menschen, die dort bei der Flutkatastrophe ums Leben gekommen sind, hat sich am Mittwoch von 122 auf 125 erhöht. Unter den Toten ist auch eine Feuerwehrfrau, die bei Rettungsarbeiten starb. 155 Menschen würden noch immer vermisst, sagte Polizeieinsatzleiter Heinz Wolschendorf in Bad Neuenahr-Ahrweiler. In Nordrhein-Westfalen liegt die Zahl der Toten inzwischen bei 47.

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Fast 42.000 Menschen an der Ahr sind von der Katastrophe betroffen. Teile der Region sind noch immer ohne Wasser, Strom und Gas. Für die Bevölkerung und die Einsatzkräfte besteht laut Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion in Trier eine erhöhte Infektionsgefahr mit Blick auf Corona und andere Erkrankungen. Zudem gebe es in dem Gebiet Umweltprobleme infolge des ausgelaufenen Heizöls.

Um die Gesamtlage genauer zu erkunden, hat die Luftwaffe das Ahrtal mit einem Tornado-Aufklärungsflugzeug überflogen. Die hochauflösenden Aufnahmen sollen helfen, Schäden und Hilfsbedarf besser zu erkennen. Um Details zu erfassen, ist für heute ein Tiefflug über das Tal geplant. Die Bewohner sollten sich darauf einstellen.

Pro Tag seien rund 2000 professionelle Helfer im Einsatz und etwa 300 Seelsorger und Psychologen aus der ganzen Bundesrepublik, sagte ADD-Präsident Thomas Linnertz, der inzwischen die Leitung des Krisenstabs übernommen hat. Für die „Unmengen von Schutt“, deren Abtransport eine Mammutaufgabe ist, ist eine Sondermülldeponie im Kreis Mayen-Koblenz mit Sondergenehmigung gefunden worden. Biologische Abfälle werden täglich entsorgt.

Um die Bürger zu versorgen, hat die Einsatzleitung 21 Servicepunkte eingerichtet – mindestens zehn mehr sollten es werden, sagte Linnertz. Dort gibt es Essen, Getränke, sanitäre Einrichtungen, Informationen von Feuerwehr und Polizei sowie zur medizinischen Versorgung und WLAN.

Die Vizepräsidentin des Technischen Hilfswerks (THW), Sabine Lackner, sieht kaum noch Chancen, Überlebende zu finden. Es sei „leider sehr wahrscheinlich, dass man Opfer nur noch bergen kann, nicht mehr retten“. Gleichzeitig warnen die Behörden vor Gefahren im Schlamm: Sämtliche Kläranlagen entlang der Ahr sind beschädigt, alles Abwasser fließt derzeit in den Fluss. Die Rettungskräfte warnen dringend davor, das Wasser zu trinken oder für Reinigungsarbeiten zu benutzen.

Einsatzleiter Wolschendorf kündigte an, die Einsatzstrukturen auszubauen, Ortsbürgermeister mit einzubeziehen und die Kommunikation zu verbessern. Damit reagierte er auf Kritik, der Einsatz der Helfer sei schlecht koordiniert. „Wir sind ein riesengroßer, bunt zusammengewürfelter Haufen von Helfern und Einsatzkräften. Da mag es punktuell so sein, dass Hilfe nicht so ankommt, wie es sein sollte.“

Diskussionen gibt es nach wie vor über die Meldeketten. Wurden die Menschen im betroffenen Gebiet zu spät alarmiert? Der Kreis Ahrweiler habe „frühzeitig vor Hochwasser im Kreisgebiet“ gewarnt, teilte die Verwaltung mit. Wie genau und zu welcher Uhrzeit – dazu gab es keine Angaben. Im Vorfeld des massiven Pegelanstiegs seien zusätzliche Sandsackreserven entsendet, weitere Einheiten der Feuerwehr im Kreisgebiet sowie die technische Einsatzleitung des Landkreises alarmiert worden.

Nach Informationen der Deutschen Presseagentur setzte der Landkreis Ahrweiler am Mittwoch vor einer Woche um 19.35 Uhr, als schon zahlreiche Straßen überschwemmt waren, über den Anbieter Katwarn eine Hochwasserwarnung mit dem Hinweis „Meiden Sie tiefer liegende Gebäudeteile wie Keller oder Tiefgaragen“ ab. Um 17.17 Uhr hatte das Landesamt für Umwelt bereits die Warnstufe Lila ausgegeben. Sollte beides stimmen, brauchte der Kreis also gut zwei Stunden, um zu reagieren. Um 21.05 Uhr kam von der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler ein Hinweis auf Stromausfall, verbunden mit der Aufforderung: „Bitte schalten Sie alle elektrischen Verbraucher ab.“

Um 23.09 Uhr, als viele Menschen schon schliefen, kam dann über die App die Aufforderung an alle Menschen in drei Ortschaften, die 50 Meter rechts und links der Ahr wohnen, ihre Wohnungen zu verlassen. Über die Warn-App Nina kam kein Warnhinweis. Auch über Warnungen auf anderem Wege ist bislang nichts bekannt. Der Kreis Ahrweiler äußerte sich zunächst nicht zu den Schilderungen.

Sirenen zur Alarmierung der Feuerwehreinheiten wurden am Mittwoch nach Angaben der Kreisverwaltung betätigt, nicht aber zur Warnung der Bevölkerung. Dies sei aufgrund der technischen Ausstattung nicht möglich. Aufgrund des prognostizierten Anstiegs der Pegelstände hätten aber „alle zuständigen Behörden unverzüglich“ reagiert und gewarnt: Sowohl der Deutsche Wetterdienst als auch der Hochwassermeldedienst Rheinland-Pfalz über die Warn-App Katwarn.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) stellte in Aussicht, dass Bürger bei Katastrophen wie jetzt in Rheinland-Pfalz künftig per SMS gewarnt werden könnten. Beim sogenannten Cell Broadcasting wird eine Nachricht an Handynutzer verschickt – und zwar an alle Empfänger, die sich zu dem Zeitpunkt in der betreffenden Funkzelle aufhalten. Datenschützer halten diese Technologie, die in vielen anderen Staaten bereits genutzt wird, für relativ unbedenklich. Dies sieht auch der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin (FDP) so. Gleichzeitig hält er aber auch einen guten Mix aus analogen und digitalen Methoden für notwendig, um rechtzeitig vor akuten Gefahren zu warnen.

Die Zufahrt in die Katastrophengebiete ist derweil zum Teil immer noch schwierig: Im Ahrtal kam es vielerorts zu langen Staus. Die Polizei müsse immer wieder kleinere Straßen sperren, weil abgestellte Fahrzeuge den Verkehr behinderten, sagte ein Polizeisprecher in Koblenz. Auch der Transport von schweren Geräten und Gastanks sowie die Begutachtung von Straßen und Brücken führe immer wieder zu Sperrungen – und damit zu Staus. Ein Unternehmen aus Kaiserslautern will nun möglichst schnell Behelfsbrücken an der Ahr errichten. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Christian Baldauf sagte, er stelle dazu gerade den Kontakt zwischen dem Unternehmen General Dynamics European Land Systems und der Landesregierung her. Das Unternehmen habe angeboten, kostenfrei sieben Brücken über die Ahr mit einer Länge von 22 Metern zu errichten.

Auch auf einzelnen Autobahnabschnitten im Rheinland wird es noch lange dauern, bis die Schäden nach der Unwetterkatastrophe repariert sind. Wann mit den Arbeiten etwa an der stark beschädigten Autobahn 61 begonnen werden könne, sei noch nicht abzusehen, erläuterte ein Sprecher der Autobahngesellschaft des Bundes. Die A61 ist zwischen den Kreuzen Meckenheim und Kerpen in beiden Richtungen voll gesperrt. Teilweise sei überhaupt keine Fahrbahn mehr vorhanden. Im Rheinland sind etwa 90 Kilometer Autobahn von Flutschäden betroffen.

Konkret wird unterdessen die finanzielle Hilfe für die Hochwassergebiete: Der Bund hat eine Soforthilfe von zunächst 200 Millionen Euro beschlossen. Mittel in derselben Höhe sollen die betroffenen Länder beisteuern, sodass insgesamt bis zu 400 Millionen Euro bereitstehen. Die rheinland-pfälzische Landesregierung hatte für Betroffene der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz am Dienstag Soforthilfen von bis zu 3500 Euro pro Haushalt beschlossen. Das rheinland-pfälzische Klimaschutzministerium kündigte zudem ein Sonderförderprogramm von 20 Millionen Euro an. Es soll Kommunen dabei helfen, Schäden in der Wasserversorgung und der Abwasserreinigung zu beheben. ua/us/ank/dpa