Koblenz

Gericht spricht historisches Urteil: In Koblenz endet der weltweit erste Prozess wegen syrischer Staatsfolter

Von Jens Albes
Späte Genugtuung für viele Opfer schwerer Folter: Ein Jahrzehnt nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges fällt das Oberlandesgericht Koblenz ein weltweit beachtetes Urteil. Der Angeklagt muss lebenslang in Haft.
Späte Genugtuung für viele Opfer schwerer Folter: Ein Jahrzehnt nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges fällt das Oberlandesgericht Koblenz ein weltweit beachtetes Urteil. Der Angeklagt muss lebenslang in Haft. Foto: dpa

Draußen scheint die Sonne auf den beschaulichen Rhein, während nur einen Steinwurf weiter ein Gericht ein historisches Urteil wegen Morden und tausendfacher Misshandlungen verkündet. Im laut Bundesanwaltschaft weltweit ersten Strafprozess um syrische Staatsfolter verurteilt das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz am Donnerstag den Angeklagten zu lebenslanger Haft.

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Nach Überzeugung des Staatsschutzsenats ist der ehemalige Vernehmungschef eines Geheimdienstgefängnisses in der syrischen Hauptstadt Damaskus als Mittäter verantwortlich für die Folter von mindestens 4000 Menschen und den Tod von mindestens 27 Gefangenen. Nach 108 Verhandlungstagen endet damit ein international beachteter Prozess, der bereits im April 2020 begonnen hat.

Grüner Parka, weiße Corona-Maske, schwarzer Kopfhörer: Den Blick scheinbar in die Ferne gerichtet nimmt der 58-jährige einstige syrische Geheimagent Anwar R. sein Urteil äußerlich gefasst auf. Zwei Dolmetscher übersetzen in einer Glaskabine abwechselnd die fast ganztägige Urteilsbegründung ins Arabische. Das hilft gut ein Jahrzehnt nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges auch zahlreichen geflohenen Folteropfern, die als Nebenkläger im Saal sitzen.

Hintergrund ist das Handeln von Syriens Präsidenten Baschar al-Assad – er soll für eine grausame Foltermaschinerie verantwortlich sein. Der Staatsschutzsenat spricht von einem systematischen Angriff gegen die syrische Zivilbevölkerung. Anwar R. ist dabei laut der Vorsitzenden Richterin Anne Kerber „kein kleines Rädchen“, sondern ein Karrierist gewesen, der einen von ihm so bezeichneten „Abschaum“ habe bekämpfen wollen: friedliche Demonstranten im Arabischen Frühling.

Zahlreiche Opferzeugen haben vor Gericht von grausamer und vielfältiger Folter 2011 und 2012 im überfüllten Gefängnis des damaligen Geheimagenten Anwar R. berichtet: Schläge und Tritte, Stromschläge, Aufhängen an den Handgelenken mit den Zehenspitzen auf dem Boden, sexuelle Gewalt, der sogenannte Deutsche Stuhl mit der Überstreckung nach hinten und vieles mehr. Laut Richterin Kerber haben dies geflohene Zeugen teils in Angst um ihre Familie ausgesagt: „Dafür gilt ihnen mein ganzer Respekt.“ Etliche litten in Europa heute noch physisch und psychisch unter der damaligen Folter.

Der Karrierejurist Anwar R. ist nach Kerbers Worten ein „zuverlässiger, intelligenter und leistungsbereiter Technokrat“ gewesen. Er habe das Assad-Regime und damit seine Position mit ihren Privilegien erhalten wollen. Selbst Hand angelegt habe er nicht – aber Mord und Folter direkt verantwortet.

Die Verteidigung hat auf Freispruch plädiert und nun Revision angekündigt. Die Bundesanwaltschaft hat zusätzlich zu lebenslanger Haft noch die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert, was eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu ausschlösse. Der Staatsschutzsenat hält Anwar R. allerdings unter anderem zugute, dass er nicht selbst gefoltert und getötet habe und seit seinen Taten vor einem Jahrzehnt wohl straflos geblieben sei.

Anwar R. ist eine schillernde Figur: Er war schließlich desertiert und nach Deutschland geflohen und hat nach eigenen Worten die syrische Opposition unterstützt – auch mit der Teilnahme an der zweiten Syrien-Friedenskonferenz 2014. In Berlin hat er sich an die Polizei gewandt: Er fühle sich von Syrern verfolgt. In Vernehmungen und nach Aussagen von Opferzeugen sind seine Taten aufgeflogen.

Der Prozess hatte mit zwei Angeklagten begonnen. Im Februar 2021 ist in Koblenz bereits der Syrer Eyad A. zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte nach Überzeugung der Richter 2011 dazu beigetragen, 30 Demonstranten ins Foltergefängnis von Anwar R. zu bringen. Über die Revision von Eyad A. gegen sein Urteil ist noch nicht entschieden. Auch er war nach Deutschland geflohen und hier festgenommen worden.

Am späten Donnerstagnachmittag geben die Prozessbeteiligten nach dem Urteil noch auf einer Wiese am Rhein den deutschen und auffallend vielen ausländischen Medien Statements. Nebenklägeranwalt René Bahns spricht vom „Abschluss eines langen Leidenswegs“. Oberstaatsanwalt Jasper Klinge sagt: „Das Urteil ist ein wichtiges Signal für die Opfer.“ In Syrien ist noch kein Frieden eingekehrt.

Von Jens Albes

„Hoffen auf Dominoeffekt“

Menschenrechtler bewerten den weltweit ersten Prozess um Staatsfolter in Syrien als Durchbruch für die Verfolgung der Verbrechen des Regimes von Staatschef Baschar al-Assad. „Wir hoffen, dass der Koblenzer Prozess einen Dominoeffekt auslöst“, erklärt der Generalsekretär der Berliner Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Wolfgang Kaleck. Die Verurteilung eines syrischen Geheimdienstmitarbeiters wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Oberlandesgericht Koblenz könne ein Modell für weitere Prozesse in Deutschland und Europa sein.

Auch die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet begrüßte das Urteil. Es werfe ein Schlaglicht auf die Folter und die unmenschliche Behandlung, denen zahllose Syrerinnen und Syrer in Haftlagern ausgesetzt gewesen seien, sagte Bachelet in Genf. Das Urteil sei ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung.

Der Prozess sei ein Meilenstein, erklärt Patrick Kroker, der in dem Verfahren neun Nebenkläger vertrat. „Erstmals wird gerichtlich festgestellt, dass das, was in Syrien seit spätestens April 2011 passiert, ein Menschheitsverbrechen ist.“ Die Verurteilung von Anwar R. zu lebenslanger Haft habe für syrische Flüchtlinge in Deutschland eine große Bedeutung, erklärten Betroffene und Opferanwälte vor der Urteilsverkündung. Die syrische Menschenrechtsaktivistin Joumana Seif betonte: „Dieser Prozess ist etwas Besonderes.“ Sie hoffe, dass er die Grundlage für viele weitere Bemühungen biete, gegen hochrangige syrische Beamte vorzugehen, die für Verbrechen verantwortlich seien.

Der Prozess gegen Anwar R. und Eyad A. in Deutschland war durch das sogenannte Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht möglich. Das deutsche Recht erkennt die universelle Gerichtsbarkeit einiger der schwersten Verbrechen nach dem Völkerrecht an. Dadurch können entsprechende Taten in Deutschland verfolgt werden, auch wenn sie von Menschen anderer Nationalität im Ausland begangen wurden.

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