Gericht spricht historisches Urteil: In Koblenz endet der weltweit erste Prozess wegen syrischer Staatsfolter
Nach Überzeugung des Staatsschutzsenats ist der ehemalige Vernehmungschef eines Geheimdienstgefängnisses in der syrischen Hauptstadt Damaskus als Mittäter verantwortlich für die Folter von mindestens 4000 Menschen und den Tod von mindestens 27 Gefangenen. Nach 108 Verhandlungstagen endet damit ein international beachteter Prozess, der bereits im April 2020 begonnen hat.
Grüner Parka, weiße Corona-Maske, schwarzer Kopfhörer: Den Blick scheinbar in die Ferne gerichtet nimmt der 58-jährige einstige syrische Geheimagent Anwar R. sein Urteil äußerlich gefasst auf. Zwei Dolmetscher übersetzen in einer Glaskabine abwechselnd die fast ganztägige Urteilsbegründung ins Arabische. Das hilft gut ein Jahrzehnt nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges auch zahlreichen geflohenen Folteropfern, die als Nebenkläger im Saal sitzen.
Hintergrund ist das Handeln von Syriens Präsidenten Baschar al-Assad – er soll für eine grausame Foltermaschinerie verantwortlich sein. Der Staatsschutzsenat spricht von einem systematischen Angriff gegen die syrische Zivilbevölkerung. Anwar R. ist dabei laut der Vorsitzenden Richterin Anne Kerber „kein kleines Rädchen“, sondern ein Karrierist gewesen, der einen von ihm so bezeichneten „Abschaum“ habe bekämpfen wollen: friedliche Demonstranten im Arabischen Frühling.
Zahlreiche Opferzeugen haben vor Gericht von grausamer und vielfältiger Folter 2011 und 2012 im überfüllten Gefängnis des damaligen Geheimagenten Anwar R. berichtet: Schläge und Tritte, Stromschläge, Aufhängen an den Handgelenken mit den Zehenspitzen auf dem Boden, sexuelle Gewalt, der sogenannte Deutsche Stuhl mit der Überstreckung nach hinten und vieles mehr. Laut Richterin Kerber haben dies geflohene Zeugen teils in Angst um ihre Familie ausgesagt: „Dafür gilt ihnen mein ganzer Respekt.“ Etliche litten in Europa heute noch physisch und psychisch unter der damaligen Folter.
Der Karrierejurist Anwar R. ist nach Kerbers Worten ein „zuverlässiger, intelligenter und leistungsbereiter Technokrat“ gewesen. Er habe das Assad-Regime und damit seine Position mit ihren Privilegien erhalten wollen. Selbst Hand angelegt habe er nicht – aber Mord und Folter direkt verantwortet.
Die Verteidigung hat auf Freispruch plädiert und nun Revision angekündigt. Die Bundesanwaltschaft hat zusätzlich zu lebenslanger Haft noch die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert, was eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu ausschlösse. Der Staatsschutzsenat hält Anwar R. allerdings unter anderem zugute, dass er nicht selbst gefoltert und getötet habe und seit seinen Taten vor einem Jahrzehnt wohl straflos geblieben sei.
Anwar R. ist eine schillernde Figur: Er war schließlich desertiert und nach Deutschland geflohen und hat nach eigenen Worten die syrische Opposition unterstützt – auch mit der Teilnahme an der zweiten Syrien-Friedenskonferenz 2014. In Berlin hat er sich an die Polizei gewandt: Er fühle sich von Syrern verfolgt. In Vernehmungen und nach Aussagen von Opferzeugen sind seine Taten aufgeflogen.
Der Prozess hatte mit zwei Angeklagten begonnen. Im Februar 2021 ist in Koblenz bereits der Syrer Eyad A. zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte nach Überzeugung der Richter 2011 dazu beigetragen, 30 Demonstranten ins Foltergefängnis von Anwar R. zu bringen. Über die Revision von Eyad A. gegen sein Urteil ist noch nicht entschieden. Auch er war nach Deutschland geflohen und hier festgenommen worden.
Am späten Donnerstagnachmittag geben die Prozessbeteiligten nach dem Urteil noch auf einer Wiese am Rhein den deutschen und auffallend vielen ausländischen Medien Statements. Nebenklägeranwalt René Bahns spricht vom „Abschluss eines langen Leidenswegs“. Oberstaatsanwalt Jasper Klinge sagt: „Das Urteil ist ein wichtiges Signal für die Opfer.“ In Syrien ist noch kein Frieden eingekehrt.