Mayschoß

Die Stunde Null: So geht es dem Ahr-Ort Mayschoß nach der Flut

Von Birgit Pielen
In Mayschoß ist von den Häusern entlang der Ahr oft nur noch ein Gerippe übrig.
In Mayschoß ist von den Häusern entlang der Ahr oft nur noch ein Gerippe übrig. Foto: Birgit Pielen

Hubertus Kunz ist ein Mann, den nichts so schnell umhaut. Aber das hier? Der 70-Jährige ist Ortsbürgermeister von Mayschoß im Ahrtal. Mayschoß – allein der Name klingt schon wie ein Versprechen. Ein Versprechen nach Geborgenheit, nach Wohlfühlen, nach Heimat. Genau das war Mayschoß bis zum verhängnisvollen 14. Juli.

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911 Einwohner, fast 60 Weinbaubetriebe, Hauptrebsorte Spätburgunder. Berühmt ist der Ort, weil es hier die älteste, noch bestehende Winzergenossenschaft der Welt gibt, die heute mehr als 400 Mitglieder hat – aus Mayschoß, Altenahr und Walporzheim. Für Großstädter aus Köln, Bonn, Düsseldorf und Leverkusen war diese idyllische Region bisher das Naherholungsgebiet. Doch jetzt ist nichts mehr, wie es war. Für die Menschen im Ahrtal hat eine neue Zeitrechnung begonnen – die Zeit nach der Stunde Null.

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Zuerst glaubte Hubertus Kunz an jenem verhängnisvollen Julitag noch an ein normales Hochwasser. So eines, wie es alle zwei, drei Jahre der Fall ist. Einen Tag kommt die Ahr, am nächsten geht sie schon wieder. Im Juni 2016 gab es allerdings schon einmal ein Hochwasser, das mit 3,71 Meter deutlich höher war als alle anderen. Deshalb ließ die Gemeinde vorausschauend ein Gutachten erstellen: „Starkregen und Hochwasserschutz“. Das Szenario ging von einem Höchststand von 4,20 Meter aus. Dementsprechend wurden in Mayschoß Vorkehrungen getroffen.

Pegel von mehr als fünf Metern

Doch dann kam alles anders. Am 14. Juli wurde plötzlich ein Pegelstand von mehr als fünf Metern vorhergesagt. „Da dachte ich, die spinnen“, sagt Kunz. Er lebt mit seiner Frau und der 83-jährigen Schwiegermutter nicht weit von dem an sich beschaulichen Flüsschen entfernt. Doch die Wassermassen wurden größer und größer – und das rasend schnell. Kunz flüchtete mit den beiden Frauen zunächst in den ersten Stock, später aufs Dach. „Ich hatte Todesangst und mit dem Leben schon abgeschlossen“, sagte er dem „Spiegel“. Erst um Mitternacht stabilisierte sich der Pegel, das Wasser stieg nicht weiter.

In der Kirche erhalten die Bewohner alles Lebensnotwendige.
In der Kirche erhalten die Bewohner alles Lebensnotwendige.
Foto: dpa

Jetzt, zwei Wochen später, empfängt Hubertus Kunz (CDU) die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in Mayschoß und zeigt ihr das, was von dem Ort geblieben ist: Häuser ohne Fassaden, Menschen ohne Zuhause. „Betroffen sind alle hier“, sagt Kunz, „also fast 1000 Menschen. Geschätzt bis zu 400 Menschen sind traumatisiert. Aus den anderen haben wir einen Krisenstab gebildet“. Im Gemeindehaus ist die Einsatzleitung, die katholische Kirche, die dem heiligen Nikolaus und dem heiligen Rochus geweiht wurde, ist kurzfristig zum Lager umgewidmet worden. In den Kirchenbänken stapeln sich Nahrungsmittel und Kleidung, Hygieneartikel, Arzneimittel und Gummistiefel. Mit einem Rest an Humor haben die Ehrenamtler ein Pappschild in die Mitte gehängt: Rochus-Shopping-Mall. „Hier soll sich die Bevölkerung bedienen“, sagt Kornelia Heischmann-Schreiner, eine Einheimische. „Alles wurde gespendet. Teilweise fuhren die Menschen mehr als 100 Kilometer, um uns zu helfen.“

Eine andere Helferin sagt, es breche ihr immer wieder das Herz, wenn Einwohner vorbeikommen, die in der Flutnacht alles verloren haben. „Was uns alle am Leben hält: Wir haben eine super Dorfgemeinschaft. Jeder hilft jedem.“ Denn: „Wenn man auch nicht das Haus verloren hat, wir haben alle unsere Heimat verloren.“

Ministerpräsidentin zu Besuch

Malu Dreyer nimmt sich viel Zeit für die Mayschoßer, hört ihnen zu, führt vertrauliche Gespräche. „Es ist eigentlich paradiesisch hier“, sagt sie. „Natürlich kannte man Hochwasser, aber dass man irgendwann mit solch einer Situation umgehen muss, sprengt jegliche Vorstellungskraft. Das wird uns nachhaltig begleiten, über viele Monate und Jahre.“ Deshalb wolle sie den Menschen zeigen, dass das Land langfristig an ihrer Seite stehe und sie tatkräftig unterstützen wolle. Am Freitag tagt die Ministerrunde in Mainz, dabei wird es auch um Wiederaufbau gehen – und wie man mit der Bundesregierung in der Frage vorankommt. Spätestens im August sollen die Eckdaten für einen Wiederaufbaufonds stehen.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat sich von Ortsbürgermeister Hubertus Kunz das Ausmaß der Zerstörung zeigen lassen.
Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat sich von Ortsbürgermeister Hubertus Kunz das Ausmaß der Zerstörung zeigen lassen.
Foto: Birgit Pielen

Unzählige Helfer aus ganz Deutschland sind in Mayschoß aktiv – THW, Katastrophenschutz, DRK und andere. Mit schwerem Gerät werden Trümmer von den Straßen geräumt. Zwei Drittel des Dorfes sind noch intakt, laut Schätzungen sind rund 50 Häuser geflutet und die Hauptverkehrsstraße entlang der Ahr zerstört worden. Zwei Waldwege gab es noch aus dem Ort heraus, aber nur für geländegängige Fahrzeuge, erzählt Wehrleiter Berthold Ulrich. Auch hier hatte jemand aus dem Ort eine Lösung: Ein Bauunternehmer baute innerhalb einer knappen Woche eine Teerstraße durch den Wald. „Wenn man mal überlegt, wie lange man normalerweise in Rheinland-Pfalz braucht, bis zwei Quadratmeter Pflaster irgendwo liegen, genehmigungstechnisch, und wie das jetzt funktioniert hat. Aber das ist jetzt auch die Lebensader von Mayschoß gewesen“, sagt er. Der Geist im Dorf sei auch vorher schon gut gewesen. „Aber das Ganze hat das Dorf noch einmal mehr zusammengeschweißt.“

Der Katastrophenschutz ist in diesen Tagen auf eine harte Probe gestellt worden. Das weiß auch die Ministerpräsidentin. „Wir erleben jeden Tag, was gut funktioniert hat, aber auch, was verbesserungsbedürftig ist“, sagt sie. „ Nach solch einer Katastrophe müssen wir die Strukturen hinterfragen.“

Hinter vorgehaltener Hand spricht ein Behördenmitarbeiter gegenüber unserer Zeitung von „Tagen des Kontrollverlustes“. Nichts funktionierte mehr. Eine DRK-Ärztin aus Neustadt/Weinstraße, die mit ihrem Team schon seit Tag zwei der Flutkatastrophe im Einsatz ist, schimpft über die Kommunikationsprobleme und das Organisationschaos, das vor allem am Anfang „viel Kraft gekostet und viel Frust verursacht hat“. Dreyer hört aufmerksam zu. Sie ahnt, dass es da einiges aufzuarbeiten gilt. Doch im Moment steht die Hilfe für die Opfer im Mittelpunkt. Bis zu 40.000 Menschen sind in Rheinland-Pfalz auf unterschiedliche Weise betroffen. Es gibt viele Tote. So ganz genau will es Hubertus Kunz nicht wissen, jetzt noch nicht. Das würde er nicht ertragen. „Ich lasse nur das an mich heran, was ich heute brauche, um die Probleme von morgen zu lösen“, sagt er. Dann hält er kurz inne. „Was gestern war? Ich werde vor einem großen Loch stehen, wenn mir das bewusst wird. Dann werde ich Hilfe brauchen.“

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Schon jetzt sind Notfallnachsorger da, nehmen in den Arm, trösten, machen Mut. „Das Sprechen über das Erlebte erleichtert viele“, sagen sie. Auch Malu Dreyer ist bewusst, dass neben materiellen Nöten die Seele leidet. „Noch ist kaum Platz und Raum dafür, um sich bewusst zu machen, was da eigentlich passiert ist“, sagt sie. „Menschen haben Freunde, Nachbarn, Familie verloren und schreckliche Dinge gesehen. Viele, die nach der Pandemie gehofft haben, dass es wieder losgeht, haben ihre Existenz verloren. Das ist ein traumatisierendes Erlebnis für alle – und damit auch für unser Land.“

Hubertus Kunz formuliert es so: „Wir sind noch nicht in der Jetztzeit angekommen. Wir arbeiten uns mühsam aus dem Mittelalter zurück in das Heute.“ Doch er sagt auch: „Ich bin Rheinländer und damit Daueroptimist.“ Und er weiß, dass sich Entscheidendes ändern muss. „Die Ahr hat uns gezeigt, wie weit wir schon gekommen sind. Sie hat uns eine klare Grenze aufgezeigt. Wenn wir so weitermachen, dann wird es noch schlimmer.“ Man werde also daraus lernen müssen, sagt er. Was genau, lässt er offen. Noch.

Was er aber schon genau weiß, ist, dass der unglaubliche Zusammenhalt des Dorfes eine neue Zukunft bringen wird. „Jeder bringt sich ein und weiß, dass die anderen mitziehen. Wir bekommen das Dorf wieder hin. Wir werden Mayschoß und das Ahrtal wieder aufbauen, schöner als zuvor.“

Eine Woche vor der Flutkatastrophe war eine Delegation des Innenministeriums in Mayschoß. Es ging um das Dorferneuerungsprogramm, mit dessen Hilfe der historische Ortskern bis zum denkmalgeschützten Ensemble von Pfarrkirche, Pfarrhaus und alter Dorfschule aufgewertet werden sollte. Das Vorhaben klingt wie aus der Zeit gefallen. Noch.

Von der Nordsee bis an die Alpen: Die Zeitungsleser der Republik spenden für die Flutopfer

Es zeichnete sich bereits unmittelbar nach der Katastrophe ab: Nicht nur die Rhein-Zeitung und ihre Hilfsorganisation HELFT UNS LEBEN begann, Spenden für die Flutopfer zu sammeln. Vielmehr reagierten Zeitungen überall in Deutschland ähnlich. Manche in den neuen Ländern, wo man zu früheren Zeiten bei Hochwasser an Oder und Elbe Hilfe aus dem Westen der Republik erhalten hatte und sich nun revanchieren möchte. Aber auch an der Nordsee oder am Alpenrand ließ die Solidarität der regionalen Tageszeitungen untereinander nicht lange auf sich warten.

Mit beeindruckenden Zwischenergebnissen: Die „Märkische Oderzeitung“ aus Frankfurt (Oder) hat mit ihrem Spendenaufruf an ihre Leserinnen und Leser bereits rund 538.000 Euro für die Flutopfer in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gesammelt. Doch damit nicht genug: Die Zeitung aus Brandenburg hat ein Benefizkonzert mit dem Brandenburgischen Staatsorchester am 20. August organisiert, bei dem weitere Gelder gesammelt werden sollen.

Bei der „Sächsischen Zeitung“ in Dresden sind bereits 650.000 Euro zusammengekommen. Auch diese Summe soll Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zugutekommen. Wie bei der „Märkischen Oderzeitung“ sollen dazu Teile der Spenden über HELFT UNS LEBEN an die Betroffenen weitergeleitet werden. Über die genauen Beträge und ihre Aufschlüsselung werden wir weiter berichten.

Die „Nordwest-Zeitung“ (Oldenburg) hat HELFT UNS LEBEN bereits 262.000 Euro zukommen lassen, die „Allgäuer Zeitung“ 71.000 Euro. Andere wie die Tageszeitungen der VRM (unter anderem „Allgemeine Zeitung“ Mainz und „Darmstädter Echo“) unterstützen betroffene Gemeinden direkt mit einer Summe von aktuell 505.000 Euro.

Auch am Mittelrhein will man da nicht abseits stehen. Die Sparkasse Koblenz, die bereits den gesamten Zahlungsverkehr für HELFT UNS LEBEN abwickelt, hat zusätzlich noch einen eigenen Spendenaufruf gestartet, über den bis zum Mittwoch bereits weitere 103.000 Euro gesammelt werden konnten. Mit dieser Summe beträgt der aktuelle Gesamtstand bei HELFT UNS LEBEN knapp 2,2 Millionen Euro. Die Organisation wird ab der kommenden Woche beraten, wie man genau mit der Verteilung der Gelder verfahren möchte. Das Spendenkonto ist weiter geöffnet.

Flutkatastrophe im Ahrtal
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