Achtsamkeitscoach Dirk Gemein lebt und hilft im Ahrtal: „Dem Leid mit Liebe entgegentreten“
Wie direkt sind Sie selbst betroffen?
Ich lebe im Prinzip in drei Welten: Ich wohne in Sinzig-Bad Bodendorf am Berg. Meine Straße sieht aus wie immer. Gehe ich eine Straße tiefer, sind die Keller geflutet, gehe ich noch eine Straße tiefer, ist alles kaputt. Alles, was ich kannte, ist einfach nicht mehr da. Und dann fahre ich zum Kurs nach Koblenz – diese Normalität ist völlig surreal. Ich wohne quasi in der Nebenstraße zwischen Katastrophe und Normalität. (Ping) Und Sinzig ist noch nicht mal so stark betroffen wie andere Orte an der Ahr.
Sie sagen: Glück ist lernbar. Macht denn das Geld, das Sie über Ihre Spendensammlung verteilen, die Menschen auch ein bisschen glücklich?
Nein, es verändert nur die Emotion. Glück ist die Abwesenheit von Leid. Ich postuliere seit Jahren, dass wir uns um das kümmern müssen, was uns vom Glücklichsein abhält. Geld dreht die Emotionen nur etwas ins Positive. Mit meiner Spendenaktion verteile ich mal 1000 Euro, mal 2500 Euro. Das klingt auf den ersten Blick viel, aber wenn man bedenkt, dass viele Menschen nicht mal mehr ihre eigene Unterwäsche anhaben, sondern nur in gespendeter Kleidung rumlaufen, ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Da stehen Frauen vor mir, die sagen: „Ich fühle mich eklig, ich habe den Slip und den BH von irgendwem an.“
Wie groß ist das Trauma bei den Menschen?
Das Schlimmste ist das Zittern, finde ich. Ich habe in den letzten Tagen so viele traumatisierte Menschen im Arm gehalten. Und das Zittern überträgt sich auf mich, ich habe es mit nach Hause genommen. Das ist eine Erschütterung für die gesamte Region. Und es ist ja nicht vorbei, wenn der Schutt weg ist. Ich finde es schlimm, dass der Schutt weg ist. Wissen Sie, warum?
Weil die Katastrophe dann nicht mehr sichtbar ist?
Genau, die Menschen werden nicht mehr gesehen. Und das ist genau der Grund, warum ich die traumatisierten Menschen filme. Das fühlt sich vollkommen falsch an, aber ich muss dieser Katastrophe ein Gesicht geben, sonst denken alle, wir hätten Hochwasser, aber es ist ein Tsunami. Wir müssen über die Menschen hier sprechen, denn übers Fernsehen können die uns nicht fühlen. Ich fasse es mal so zusammen: Die Menschen sind traumatisiert am Materiellen, am Körper, an der Seele, an der Heimat – und dann haben wir noch Corona. Eine Volltraumatisierung mitten in einer Jahrhundertpandemie. Und deswegen weinen alle. Auch gestandene, männliche Männer kommen von ihrem Hilfseinsatz zurück und weinen.
Corona scheint im Ahrtal momentan einfach (Ping) nicht zu existieren. Die Menschen haben andere Prioritäten, da ist eine Umarmung eines Fremden einfach wichtig, Abstandhalten einfach nicht möglich.
Genau so fing es bei mir an: Ich bin in die Nachbarschaft gegangen, um beim Ausräumen des gefluteten Kellers zu helfen, da saß an der Ecke eine alte Frau und schaute mich an. Und ich bin einfach zu ihr hingegangen und hab sie in den Arm genommen. Oma Marga, so heißt sie für mich jetzt, und ich kamen ins Gespräch. Danach habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um für sie eine Wohnung zu finden, was unmöglich war. Und so habe ich um Hilfe gebeten in meinen Netzwerken. Dadurch kamen die ersten Spendenangebote – und so fing das an.
Und mittlerweile sind Sie bei welcher Summe?
Ich schaue mal nach: 73.000 Euro sind es jetzt. Und es kommt ja immer mehr dazu.
Wie finden Sie die Menschen, an die Sie die Spenden verteilen?
Am Anfang bin ich einfach mit Umschlägen durch die Straßen gelaufen und habe die Leute angesprochen. Das geht mittlerweile einfach nicht mehr. Daher habe ich ein Formular auf meiner Internetseite gebaut, über das sich Betroffene melden können. Ich wähle völlig subjektiv aus: Viele Kinder sind das wichtigste Kriterium. Zwei Elternteile mit einem Kind kommen leichter durch die Krise als eine Großfamilie oder eine alleinerziehende Mutter. Am Freitag veranstalte ich eine Sammelübergabe an mehr als 25 Familien. Oft werde ich gefragt: „Warum überweist du das Geld nicht einfach?“ Daran sieht man aber die unterschiedlichen Lebenswelten: Diese Menschen haben keine Bankkarte, die haben keinen Laptop, die haben kein Auto, keine Straße und keine Brücke mehr, um zum Geldautomaten zu kommen, die haben keine Bankfiliale mehr. Das Verständnis für die Situation hier ist genau das, was ich verbreiten will.
Wie kommt man als Mensch, als Gesellschaft durch so eine Krise?
Ich habe zwei Möglichkeiten: Ich kann zusammenbrechen und ein Opfer sein. Dann bin ich erfüllt von allen Emotionen, die ein Opfer hat: Angst, Ohnmacht, Verzweiflung, Wut, Tauer, Antriebslosigkeit. Oder ich mache genau das Gegenteil: Mitgefühl. Das bedeutet, dem Leiden mit Liebe entgegenzutreten. Wenn Sie ein kleines Herz haben, das durch die Flutkatastrophe leidet, bricht es. Wenn Sie ein großes Herz haben, kann es andere umarmen.
Das tun ja gerade sehr viele Menschen.
Das sieht man gerade überall. In der Soziologie sagt man: Wenn Menschen in so einer enormen Krise sind, das heißt, sie ist unausweichlich, sie ist ungewollt – das ist die soziologische Definition von Krise –, rücken sie zusammen. Eigentlich geht man davon aus, dass wenn jeder betroffen ist, ist sich jeder erst mal selbst der Nächste. Das gilt aber erst, wenn es an die absolute Existenz geht. (Ping) Wenn es keine Lebensmittel mehr gibt, wie im Zweiten Weltkrieg etwa. Wenn nichts mehr da ist, was man teilen kann. In Fällen wie jetzt, das hat man in der Soziologie immer beobachtet, handeln die Menschen solidarisch.
Und die Solidarität ist das, was die Betroffenen jetzt aufrichtet?
Am ersten Tag nach der Flut stand ich vor Menschen, deren Häuser komplett abgesoffen sind. Die waren nicht in der Lage, auch nur eine Schraube aus diesem Haus zu tragen, so tief saß und sitzt das Trauma. Sie hatten einfach die Kraft nicht dazu. Daher ist die Solidarität so wichtig: Da kommen Leute zum Helfen, die selbst nicht betroffen sind. Wir waren bestimmt in 30 Häusern, in die wir einfach reinspaziert sind, haben gefragt: „Wo ist der Keller? Setzen Sie sich einfach hin, wir machen das.“ Und dabei wurde gelacht, mit Wildfremden haben wir stundenlang Schlamm geschippt, es entwickelte sich eine echte Gruppendynamik – ich habe gerade schon wieder Gänsehaut. Das gibt den Menschen Kraft, denn allein wäre nicht die Manpower da, und der psychische Ballast würde sie lähmen. Wir haben in jedem Haus gefragt: „Was wollen Sie aufheben?“ Da wurde nur abgewunken. Der Ballast war zu groß.
Die Helfer sehen nun ja auch Dinge, von denen sie nicht gedacht hätten, dass sie das jemals sehen würden.
Deshalb sind die Helfer von weiter weg so wichtig. Der Betroffenheitsradius nimmt mit größerer geografischer Entfernung ab. Auf je mehr Schultern sich das verteilt, desto besser. Und jeder kann helfen, auch wenn er nicht zum Buddeln an die Ahr kommen kann. Gelebte Nächstenliebe bedeutet auch, in seinem Netzwerk Spenden zu sammeln, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ich nenne das Liebemachen im Internet. (schmunzelt)
Die Solidarität zeigt sich ja auch in anderen Aktionen. Essen wird verteilt, (Ping) Winzer aus anderen Regionen verkaufen Weinpakete für die Ahrwinzer ...
Ich habe in den vergangenen zwölf Tagen hier keinen Cent für Essen ausgegeben – und ich war 18 Stunden jeden Tag unterwegs. Es ist hier völlig normal, dass Sie an einen Stand an der Straße gehen und dort etwas zu essen bekommen und dann weitergehen. Das ist eine komplett andere Realität, in der wir hier leben. Und ich möchte nicht, dass das vergessen wird, wenn die Schuttberge alle abtransportiert sind. Ich will nicht, dass das Tal vergessen wird.
Was haben die vergangenen Tage mit Ihnen gemacht? Was hat sich verändert?
Das Buddeln am Anfang war toll. Man hatte abends das gute Gefühl, dass man richtig was geschafft hat, wenn man einen leer geräumten Keller gesehen hat. Da wurde auch gelacht und gescherzt, zum Abschluss hat man ein Bier getrunken. Das hat sich geändert, als ich angefangen habe, die Spendengelder zu verteilen. Mir werden in wenigen Minuten die schlimmsten Dinge erzählt, die die Menschen jemals erlebt haben. Ich höre Geschichten von Leuten, die Stunden auf dem Dach ausgeharrt und gesehen haben, wie das Haus der Nachbarn mit den Nachbarn darin vorbeitrieb. Oder vom Mann, der sich noch ein paar Minuten in der reißenden Strömung irgendwo festhalten konnte, bis die Kraft nachließ und er weggetrieben wurde.
Was brauchen die Menschen jetzt?
Wir brauchen eine zweite Welle, die jetzt rollt: eine Welle von Mitgefühl und Nächstenliebe. Dafür, dass diese Welle nicht abebbt, brauchen wir Reichweite. (Ihm kommen die Tränen) Ich selbst kann nicht mehr, daher brauche ich jetzt jedes große Herz da draußen, um den Menschen hier zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden. (Wir weinen beide)
Das gemeinsame Weinen ist so wichtig.
Ja, vielen Dank, dass ich das mal loswerden konnte. Es ist das nasseste Interview, das ich je gegeben habe.
Das Gespräch führte Kathrin Hohberger