Ahrtal

Achtsamkeitscoach Dirk Gemein lebt und hilft im Ahrtal: „Dem Leid mit Liebe entgegentreten“

Von Kathrin Hohberger
„Ich bin quasi ein professioneller Umarmer“, sagt Dirk Gemein über sich selbst. Corona hin oder her. Das sei genau das, was die Menschen im Ahrtal jetzt brauchen: Mitgefühl.
„Ich bin quasi ein professioneller Umarmer“, sagt Dirk Gemein über sich selbst. Corona hin oder her. Das sei genau das, was die Menschen im Ahrtal jetzt brauchen: Mitgefühl. Foto: Hohberger

Ping macht es, immer wieder Ping. Jedes Ping bedeutet einen Spendeneingang. Der Koblenzer Achtsamkeitscoach Dirk Gemein lebt in Sinzigs Stadtteil Bad Bodendorf und sammelt Spenden für die Menschen im Ahrtal. Aus einem Spendenziel von 5000 Euro sind zum Zeitpunkt des Interviews 73.000 Euro geworden. Was macht das Leben im zerstörten Tal mit den Menschen? Dirk Gemein erzählt davon in einem sehr emotionalen und tränenreichen Interview und betont: „Wir dürfen die Menschen nicht vergessen, wenn die Schuttberge weg sind.“

Lesezeit: 6 Minuten
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Wie direkt sind Sie selbst betroffen?

Ich lebe im Prinzip in drei Welten: Ich wohne in Sinzig-Bad Bodendorf am Berg. Meine Straße sieht aus wie immer. Gehe ich eine Straße tiefer, sind die Keller geflutet, gehe ich noch eine Straße tiefer, ist alles kaputt. Alles, was ich kannte, ist einfach nicht mehr da. Und dann fahre ich zum Kurs nach Koblenz – diese Normalität ist völlig surreal. Ich wohne quasi in der Nebenstraße zwischen Katastrophe und Normalität. (Ping) Und Sinzig ist noch nicht mal so stark betroffen wie andere Orte an der Ahr.

Sie sagen: Glück ist lernbar. Macht denn das Geld, das Sie über Ihre Spendensammlung verteilen, die Menschen auch ein bisschen glücklich?

Nein, es verändert nur die Emotion. Glück ist die Abwesenheit von Leid. Ich postuliere seit Jahren, dass wir uns um das kümmern müssen, was uns vom Glücklichsein abhält. Geld dreht die Emotionen nur etwas ins Positive. Mit meiner Spendenaktion verteile ich mal 1000 Euro, mal 2500 Euro. Das klingt auf den ersten Blick viel, aber wenn man bedenkt, dass viele Menschen nicht mal mehr ihre eigene Unterwäsche anhaben, sondern nur in gespendeter Kleidung rumlaufen, ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Da stehen Frauen vor mir, die sagen: „Ich fühle mich eklig, ich habe den Slip und den BH von irgendwem an.“

Daher sammelt der Achtsamkeitscoach aus Sinzig Spenden und rührt mit Videos in den sozialen Netzwerken die Werbetrommel.
Daher sammelt der Achtsamkeitscoach aus Sinzig Spenden und rührt mit Videos in den sozialen Netzwerken die Werbetrommel.
Foto: Dirk Gemein

Wie groß ist das Trauma bei den Menschen?

Das Schlimmste ist das Zittern, finde ich. Ich habe in den letzten Tagen so viele traumatisierte Menschen im Arm gehalten. Und das Zittern überträgt sich auf mich, ich habe es mit nach Hause genommen. Das ist eine Erschütterung für die gesamte Region. Und es ist ja nicht vorbei, wenn der Schutt weg ist. Ich finde es schlimm, dass der Schutt weg ist. Wissen Sie, warum?

Weil die Katastrophe dann nicht mehr sichtbar ist?

Genau, die Menschen werden nicht mehr gesehen. Und das ist genau der Grund, warum ich die traumatisierten Menschen filme. Das fühlt sich vollkommen falsch an, aber ich muss dieser Katastrophe ein Gesicht geben, sonst denken alle, wir hätten Hochwasser, aber es ist ein Tsunami. Wir müssen über die Menschen hier sprechen, denn übers Fernsehen können die uns nicht fühlen. Ich fasse es mal so zusammen: Die Menschen sind traumatisiert am Materiellen, am Körper, an der Seele, an der Heimat – und dann haben wir noch Corona. Eine Volltraumatisierung mitten in einer Jahrhundertpandemie. Und deswegen weinen alle. Auch gestandene, männliche Männer kommen von ihrem Hilfseinsatz zurück und weinen.

Sein Aufruf erreicht viele Menschen, die spenden und so an der Ahr helfen wollen.
Sein Aufruf erreicht viele Menschen, die spenden und so an der Ahr helfen wollen.
Foto: Dirk Gemein

Corona scheint im Ahrtal momentan einfach (Ping) nicht zu existieren. Die Menschen haben andere Prioritäten, da ist eine Umarmung eines Fremden einfach wichtig, Abstandhalten einfach nicht möglich.

Genau so fing es bei mir an: Ich bin in die Nachbarschaft gegangen, um beim Ausräumen des gefluteten Kellers zu helfen, da saß an der Ecke eine alte Frau und schaute mich an. Und ich bin einfach zu ihr hingegangen und hab sie in den Arm genommen. Oma Marga, so heißt sie für mich jetzt, und ich kamen ins Gespräch. Danach habe ich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um für sie eine Wohnung zu finden, was unmöglich war. Und so habe ich um Hilfe gebeten in meinen Netzwerken. Dadurch kamen die ersten Spendenangebote – und so fing das an.

Und mittlerweile sind Sie bei welcher Summe?

Ich schaue mal nach: 73.000 Euro sind es jetzt. Und es kommt ja immer mehr dazu.

Die Herzen auf den Umschlägen haben seine Töchter noch ausgemalt. „Papa, das sieht doch so viel schöner aus.“
Die Herzen auf den Umschlägen haben seine Töchter noch ausgemalt. „Papa, das sieht doch so viel schöner aus.“
Foto: Dirk Gemein

Wie finden Sie die Menschen, an die Sie die Spenden verteilen?

Am Anfang bin ich einfach mit Umschlägen durch die Straßen gelaufen und habe die Leute angesprochen. Das geht mittlerweile einfach nicht mehr. Daher habe ich ein Formular auf meiner Internetseite gebaut, über das sich Betroffene melden können. Ich wähle völlig subjektiv aus: Viele Kinder sind das wichtigste Kriterium. Zwei Elternteile mit einem Kind kommen leichter durch die Krise als eine Großfamilie oder eine alleinerziehende Mutter. Am Freitag veranstalte ich eine Sammelübergabe an mehr als 25 Familien. Oft werde ich gefragt: „Warum überweist du das Geld nicht einfach?“ Daran sieht man aber die unterschiedlichen Lebenswelten: Diese Menschen haben keine Bankkarte, die haben keinen Laptop, die haben kein Auto, keine Straße und keine Brücke mehr, um zum Geldautomaten zu kommen, die haben keine Bankfiliale mehr. Das Verständnis für die Situation hier ist genau das, was ich verbreiten will.

Wie kommt man als Mensch, als Gesellschaft durch so eine Krise?

Ich habe zwei Möglichkeiten: Ich kann zusammenbrechen und ein Opfer sein. Dann bin ich erfüllt von allen Emotionen, die ein Opfer hat: Angst, Ohnmacht, Verzweiflung, Wut, Tauer, Antriebslosigkeit. Oder ich mache genau das Gegenteil: Mitgefühl. Das bedeutet, dem Leiden mit Liebe entgegenzutreten. Wenn Sie ein kleines Herz haben, das durch die Flutkatastrophe leidet, bricht es. Wenn Sie ein großes Herz haben, kann es andere umarmen.

Das tun ja gerade sehr viele Menschen.

Das sieht man gerade überall. In der Soziologie sagt man: Wenn Menschen in so einer enormen Krise sind, das heißt, sie ist unausweichlich, sie ist ungewollt – das ist die soziologische Definition von Krise –, rücken sie zusammen. Eigentlich geht man davon aus, dass wenn jeder betroffen ist, ist sich jeder erst mal selbst der Nächste. Das gilt aber erst, wenn es an die absolute Existenz geht. (Ping) Wenn es keine Lebensmittel mehr gibt, wie im Zweiten Weltkrieg etwa. Wenn nichts mehr da ist, was man teilen kann. In Fällen wie jetzt, das hat man in der Soziologie immer beobachtet, handeln die Menschen solidarisch.

Und die Solidarität ist das, was die Betroffenen jetzt aufrichtet?

Am ersten Tag nach der Flut stand ich vor Menschen, deren Häuser komplett abgesoffen sind. Die waren nicht in der Lage, auch nur eine Schraube aus diesem Haus zu tragen, so tief saß und sitzt das Trauma. Sie hatten einfach die Kraft nicht dazu. Daher ist die Solidarität so wichtig: Da kommen Leute zum Helfen, die selbst nicht betroffen sind. Wir waren bestimmt in 30 Häusern, in die wir einfach reinspaziert sind, haben gefragt: „Wo ist der Keller? Setzen Sie sich einfach hin, wir machen das.“ Und dabei wurde gelacht, mit Wildfremden haben wir stundenlang Schlamm geschippt, es entwickelte sich eine echte Gruppendynamik – ich habe gerade schon wieder Gänsehaut. Das gibt den Menschen Kraft, denn allein wäre nicht die Manpower da, und der psychische Ballast würde sie lähmen. Wir haben in jedem Haus gefragt: „Was wollen Sie aufheben?“ Da wurde nur abgewunken. Der Ballast war zu groß.

Die Bilder der Zerstörung.
Die Bilder der Zerstörung.
Foto: Dirk Gemein

Die Helfer sehen nun ja auch Dinge, von denen sie nicht gedacht hätten, dass sie das jemals sehen würden.

Deshalb sind die Helfer von weiter weg so wichtig. Der Betroffenheitsradius nimmt mit größerer geografischer Entfernung ab. Auf je mehr Schultern sich das verteilt, desto besser. Und jeder kann helfen, auch wenn er nicht zum Buddeln an die Ahr kommen kann. Gelebte Nächstenliebe bedeutet auch, in seinem Netzwerk Spenden zu sammeln, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ich nenne das Liebemachen im Internet. (schmunzelt)

Die Solidarität zeigt sich ja auch in anderen Aktionen. Essen wird verteilt, (Ping) Winzer aus anderen Regionen verkaufen Weinpakete für die Ahrwinzer ...

Ich habe in den vergangenen zwölf Tagen hier keinen Cent für Essen ausgegeben – und ich war 18 Stunden jeden Tag unterwegs. Es ist hier völlig normal, dass Sie an einen Stand an der Straße gehen und dort etwas zu essen bekommen und dann weitergehen. Das ist eine komplett andere Realität, in der wir hier leben. Und ich möchte nicht, dass das vergessen wird, wenn die Schuttberge alle abtransportiert sind. Ich will nicht, dass das Tal vergessen wird.

Was haben die vergangenen Tage mit Ihnen gemacht? Was hat sich verändert?

Das Buddeln am Anfang war toll. Man hatte abends das gute Gefühl, dass man richtig was geschafft hat, wenn man einen leer geräumten Keller gesehen hat. Da wurde auch gelacht und gescherzt, zum Abschluss hat man ein Bier getrunken. Das hat sich geändert, als ich angefangen habe, die Spendengelder zu verteilen. Mir werden in wenigen Minuten die schlimmsten Dinge erzählt, die die Menschen jemals erlebt haben. Ich höre Geschichten von Leuten, die Stunden auf dem Dach ausgeharrt und gesehen haben, wie das Haus der Nachbarn mit den Nachbarn darin vorbeitrieb. Oder vom Mann, der sich noch ein paar Minuten in der reißenden Strömung irgendwo festhalten konnte, bis die Kraft nachließ und er weggetrieben wurde.

Was brauchen die Menschen jetzt?

Wir brauchen eine zweite Welle, die jetzt rollt: eine Welle von Mitgefühl und Nächstenliebe. Dafür, dass diese Welle nicht abebbt, brauchen wir Reichweite. (Ihm kommen die Tränen) Ich selbst kann nicht mehr, daher brauche ich jetzt jedes große Herz da draußen, um den Menschen hier zu zeigen, dass sie nicht vergessen werden. (Wir weinen beide)

Das gemeinsame Weinen ist so wichtig.

Ja, vielen Dank, dass ich das mal loswerden konnte. Es ist das nasseste Interview, das ich je gegeben habe.

Das Gespräch führte Kathrin Hohberger

Warum die Spendenaktion mehr ist als eine Geldübergabe

Es gibt viele Umarmungen und noch mehr Tränen. Für die Familien, die am Freitag bei der Spendenübergabe von Dirk Gemein im Sinziger Pfarrhaus einen Umschlag in Empfang nehmen dürfen, ist der Tag ein echtes Geschenk. Denn neben den 1000 oder 2500 Euro Bargeld, die der Umschlag enthält, bekommen sie vor allem eins: Zuwendung, Empathie, das Gefühl, dass sie nicht allein sind.

Das Geld hat Dirk Gemein, der eigentlich in Koblenz Kurse in Achtsamkeit und Glück gibt, in seinem Umfeld gesammelt. Er trommelt laut in den sozialen Netzwerken dafür, dass man die traumatisierten Menschen hinter der Flutkatastrophe nicht vergisst. Er hört zu, weint mit ihnen und schenkt ihnen Umarmungen. „Es hilft, immer wieder darüber zu reden, was wir erlebt haben“, sagt etwa Marcel aus Dernau. Der große, ernsthafte Mann sagt, er mache Probleme sonst eher mit sich selbst aus, aber in diesem Fall reiche das nicht aus. Er beschreibt, wie sich die Familie mit zwei Kindern auf den Dachboden flüchtete und zum Glück mit einem Boot gerettet wurde.

Der dreijährige Sohn, von dem er zunächst gedacht hatte, dass er das Geschehene gar nicht so sehr mitbekommen hat, ist genauso traumatisiert wie die Erwachsenen und der große Bruder: „Er hat nachts schon gerufen: ‚Alle Mann ins Boot!‘“ Geschichten wie diese hört man an diesem sonnigen Freitag in Sinzig zuhauf. Zerstörte Heimat, traumatisierte Menschen, Erschöpfung – aber bei all dem gibt es auch kleine Geschichten der Hoffnung, die schmunzeln lassen: der Olivenbaum vor dem Haus, der die Flutwelle überstanden hat, oder die gesammelten Kinderzähne, die im Schlamm wieder auftauchten. Symbole eines Meilensteins im Leben eines Kindes.

Dass es völlig richtig ist, die Spendenaktion auf Familien mit Kindern auszurichten, zeigen die Gespräche mit den Müttern und Vätern. Patricia aus Walporzheim hat drei Jungs und sagt, für die Kinder sei es besonders schwer. „Die können das gar nicht nachvollziehen.“ Sie ist der Ansicht, dass die Kinder auch nur mit therapeutischer Hilfe das Erlebte verarbeiten können. Die meisten Familien haben ihre Kinder direkt aus dem Katastrophengebiet geschafft, zu Familie und Freunden. „Die sollen das hier nicht mitbekommen“, sagt der dreifache Familienvater Richard. Worüber sich auch alle einig sind, ist die Rolle der vielen freiwilligen Helfer: „Ohne die wäre das so nicht möglich“, sagt Konstantin aus Sinzig, „das gibt Kraft.“

Milessa aus Sinzig sagt auch: „Die Solidarität ist Wahnsinn.“ Wie Solidarität funktioniert, zeigen zwei Stefans aus Kreuzberg. Während bei dem einen die Werkstatt zerstört ist, ist das Haus des anderen wieder ein Rohbau. Und obwohl beide sehr stark betroffen sind, bietet der eine Stefan dem anderen Unterstützung an – mit Material und Muskelkraft. „Das ist das, was die Menschen im Ahrtal auszeichnet: Wir schaffen das nur gemeinsam“, sagt Dirk Gemein, der am Ende des Tages 40.000 Euro und viele Umarmungen an 26 Familien verteilt hat. hoh

Flutkatastrophe im Ahrtal
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