Rheinland-Pfalz

Malu Dreyer und ihr Leben mit Multiple Sklerose: Chronisch krank und doch stark

"Es geht darum, mit einer Krankheit zu leben. Dann vergisst man irgendwann, dass man krank ist." Ministerpräsidentin Malu Dreyer will sich durch ihre MS-Erkrankung nicht ihre große Liebe für Sport und Natur nehmen lassen. Deshalb hat sie sich Alternativen gesucht, um ihren Leidenschaften nachzugehen - wie dieses Zweirad, auf dem sie am Sonntag mit ihrem Mann Klaus Jensen beim "Rheinradeln" auf der alten B 9 im rheinhessischen Bechtheim unterwegs war. Foto: dpa
"Es geht darum, mit einer Krankheit zu leben. Dann vergisst man irgendwann, dass man krank ist." Ministerpräsidentin Malu Dreyer will sich durch ihre MS-Erkrankung nicht ihre große Liebe für Sport und Natur nehmen lassen. Deshalb hat sie sich Alternativen gesucht, um ihren Leidenschaften nachzugehen - wie dieses Zweirad, auf dem sie am Sonntag mit ihrem Mann Klaus Jensen beim "Rheinradeln" auf der alten B 9 im rheinhessischen Bechtheim unterwegs war. Foto: dpa

Wer die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in der Staatskanzlei besucht, für den ist das Thema Multiple Sklerose (MS) allgegenwärtig und doch unsichtbar: Ihr Rollstuhl bleibt vor der Tür. Selbst beim einstündigen Gespräch über ihren Umgang mit der MS vergisst der Interviewer zeitweise, dass eigentlich eine Betroffene vor ihm sitzt.

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„Weil ich bin, wie ich bin, vergessen viele meine Behinderung. Und das ist etwas, das sich Menschen mit einer chronischen Erkrankung sehr wünschen.“ Im Interview mit unserer Zeitung berichtet die 55-jährige SPD-Politikerin, wie Betroffene es schaffen können, dass MS nicht ihr Leben bestimmt, sondern sie mit ihr leben können:

Sie sind gerade als Ministerpräsidentin wiedergewählt worden. Hätten Sie mit einer so steilen Karriere gerechnet, als ein Arzt bei Ihnen vor mehr als 20 Jahren Multiple Sklerose diagnostizierte?

Damals war das für mich zunächst einmal ein Schock, weil ich nicht einordnen konnte, wie sich die Erkrankung entwickeln würde. Ich habe gedacht, dass das Leben, das ich bis dahin geführt hatte, zu Ende geht. Doch irgendwann habe ich es geschafft, den Schalter umzulegen: Ich habe beschlossen, mich nicht durch die Krankheit behindern zu lassen, sondern meine Träume und Pläne beizubehalten.

Können Sie die Situation beschreiben, als Sie zum Arzt gingen?

Damals hatte ich ein Kribbeln gespürt, das ich nicht normal fand. Ich hatte aber als sportlicher Mensch öfter Probleme mit dem Rücken. Mein Hausarzt hat mich zu einem Neurologen überwiesen, der mich zum CT schickte. Das war eine ziemlich unsensible Situation, an die ich mich noch genau erinnere: Als ich den Arzt fragte, was es sein könnte, sagte er lapidar: „Das sieht mir nicht nach Rücken aus. Das ist eine MS.“ Da bin ich aus allen Wolken gefallen.

MS gilt als die Krankheit der 1000 Gesichter. Wie sieht das Gesicht Ihrer Erkrankung aus?

Das Bild von den 1000 Gesichtern stimmt. Deshalb ist eine Erkrankung auch kaum mit einer anderen vergleichbar. Bei mir drückt sich die MS so aus, dass ich „nur“ in der Mobilität eingeschränkt bin. Früher bin ich Ski gefahren und geklettert. Das geht heute nicht mehr, weil ich keine langen Strecken laufen kann. Ich habe die primär progrediente MS, bei der es zu keinen Schüben kommt. Es gibt dafür aber auch noch keine Medikamente.

Welche Gemeinsamkeiten gibt es mit anderen MS-Patienten?

Der Verlauf der Krankheit ist bei mir insofern ein positiver, als dass ich mit MS sehr gut leben kann, wenn man von den Mobilitätseinschränkungen absieht. Es gibt Menschen, die ungleich stärker von MS betroffen sind. Gleichwohl ist die MS ein schwieriges Krankheitsbild, weil man nach der Diagnose nicht weiß, wie sich die Erkrankung entwickelt. Damit muss man umgehen – emotional, aber auch ganz praktisch. Man muss seinen eigenen Weg finden, mit dieser Erkrankung zu leben.

Welches Bild gab es von MS zum Zeitpunkt Ihrer Diagnose?

Der zweite Satz, den ich hörte, lautete: „MS ist eine unheilbare Krankheit.“ Das ist ein schlimmer Satz. Denn diese Botschaft ist für Betroffene eine sehr schwierige Ausgangssituation. Tatsächlich ist es aber sehr wichtig, dass man innerlich eine Haltung entwickelt, mit der man auch für sich sagen kann: Ich lasse mich von der Krankheit nicht unterkriegen, ich werde mein Leben trotzdem gestalten.

Wie macht man das?

Mein Arzt hat mir einen sehr guten Rat gegeben: Er hat mir empfohlen, die Erkrankung erst einmal für mich zu behalten und darüber nur mit Menschen meines Vertrauens zu sprechen. Das war deshalb sehr gut, weil die Diagnose sehr stark verunsichert. Es ist nach wie vor ein Krankheitsbild, das in der Gesellschaft einen Schock auslöst. Deshalb war es für mich sehr wichtig, mich sortieren zu können und gute Freunde und eine Familie zu haben, die mich unterstützen. Andererseits bin ich von Natur aus Optimistin: Ich sehe auch bei meiner Erkrankung eher das halb volle Glas. Die Diagnose MS bedeutet nicht, dass das Leben vorbei ist.

Wie haben Sie Ihre Angst nach der Diagnose überwunden?

Ich habe viel recherchiert. Kenntnisse über MS sind wichtig. Es war aber auch emotional eine große Herausforderung. Für mich war es damals sehr problematisch, dass es keine öffentliche Person gab, die zeigte, dass man mit MS gut leben kann. Ich habe immer nur die Bilder von den sehr schwer erkrankten MS-Patienten gesehen. Das hat es mir nicht leichter gemacht, mit der Diagnose umzugehen.

Was hat sich seitdem geändert?

MS war vor 20 Jahren ein viel größeres Tabuthema als heute. Es war eine Erkrankung, mit der man auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance hatte. Heute ist der Umgang deutlich tabufreier. Es hat sich herumgesprochen, dass die MS eine Erkrankung ist, die sich unterschiedlich entwickelt. Außerdem hat sich der Umgang mit behinderten Menschen allgemein verbessert. Davon profitieren auch viele MS-Kranke.

Wo sehen Sie Nachholbedarf?

Was die Integration von behinderten Menschen angeht, haben wir noch viel zu tun. Wir sind viel besser bei der Barrierefreiheit geworden, aber noch lange nicht am Ziel angekommen. Ebenso wichtig ist die Integration auf dem Arbeitsmarkt. Man braucht schon sehr aufgeklärte Arbeitgeber, die die Erkrankung eines Mitarbeiters offen annehmen und bereit sind, den Arbeitsplatz umzugestalten. Da bedarf es vieler Appelle und Anreize.

Welche Rolle spielt für Sie das persönliche Umfeld: das Schammatdorf, ein integratives Wohnprojekt in Trier?

Ich bin, auch weil ich lange Sozialministerin war, sehr offen für das Thema des Miteinanderlebens – ob jung oder alt, arm oder reich, gesund oder krank. Es hilft, wenn man solche Wohnformen schon kennt und sieht, dass Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen dort ihr eigenes Leben führen können.

Was aber nicht die Regel ist ...

... Richtig. Es ist auch nicht die Regel, dass Menschen andere Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag kennenlernen. Das wäre aber ein großer Fortschritt.

Fühlen Sie sich manchmal als prominente Betroffene von Selbsthilfeorganisationen auch vereinnahmt?

Gar nicht. Ich bestimme ja selbst, wofür ich mich engagiere. Ich erinnere mich an meine Sehnsucht, einen Menschen zu finden, bei dem ich sehen konnte, dass er MS hat und trotzdem seinen beruflichen Wunsch erfüllt. Mir schreiben viele MS-Kranke, dass es ihnen guttut, mit mir eine solche Person zu erleben. Allerdings möchte ich nicht, dass meine Krankheit im Mittelpunkt steht. Ich möchte, dass ich als Mensch und Politikerin gesehen werde. Das wünschen sich viele MS-Kranke.

Sie waren bei Ihrer Diagnose Stadtbürgermeisterin von Bad Kreuznach. Wie sind Sie mit Ihrer Erkrankung öffentlich umgegangen?

Der erste Politiker, der Bescheid wusste, war Kurt Beck. Ich wusste, dass ich ihm absolut vertrauen konnte, und er ist damit sehr sensibel umgegangen.

2006 haben Sie Ihre Erkrankung öffentlich gemacht. Waren die Symptome nicht mehr zu verheimlichen, oder war es das Ergebnis eines inneren Prozesses?

Man braucht eine innerliche Reife und Robustheit, um mit solch einer Nachricht an die Öffentlichkeit zu gehen. Damals war es ein guter Zeitpunkt. Ich habe mich stark gefühlt.

Wie können Betroffene eine solche Stärke gewinnen und diese gegenüber ihrem Arbeitgeber zeigen?

Wichtig ist, eine innere Klarheit zu bekommen: Was mute und traue ich mir zu? Welche Erwartung habe ich an meinen Arbeitgeber? Oft können Arbeitgeber mit dieser Krankheit wenig anfangen. Nicht jeder weiß, was MS ist und was es für den Job bedeutet. Ich wusste 2006, dass sich durch meine Erkrankung in meinem Job nichts verändert.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass man wegen Ihrer Erkrankung eher Rücksicht auf Sie nimmt?

Das habe ich nie erlebt. Viele gehen sehr gut mit meiner Erkrankung um. Die meisten vergessen sie sogar. Bis heute geben mir Menschen die Hand und wünschen mir gute Besserung, weil sie denken, dass ich mir vielleicht bei einem Skiunfall ein Bein gebrochen habe. Weil ich bin, wie ich bin, vergessen viele meine Behinderung. Und das ist etwas, das sich Menschen mit einer chronischen Erkrankung sehr wünschen.

Aber Sie können doch sicherlich als Politikerin etwas nicht mehr tun?

(lacht) Ich kann bei Gruppenfotos nicht mehr so schnell mit der Menge mithalten. Da muss ich darum bitten, etwas langsamer zu sein. Aber das ist nicht wichtig.

Könnte es die Politik verändern, wenn mehr MS-Kranke oder generell mehr Behinderte wie Sie Führungspositionen übernehmen?

Es hat die Gesellschaft bereits verändert. Wir haben manchmal einen seltsamen Begriff von Normalität. Doch was ist Normalität? Welcher Mensch kann von sich behaupten, dass er nie krank wird? Es bereichert unsere Gesellschaft, wenn Menschen den Mut haben, eine andere, vielleicht verletzliche Seite von sich zu zeigen und trotzdem im Beruf erfolgreich zu sein.

Ich meine aber auch den Stil von Politik, die Schnelllebigkeit ...

Ich sage oft: Die Queen rennt auch nicht. Bundespräsident Joachim Gauck kennt mich da schon ziemlich gut. Ihm sage ich manchmal im Spaß: Und denken Sie daran, nicht zu schnell zu laufen (lacht). Das hat etwas Entschleunigendes. Doch das politische Geschäft wird dadurch nicht langsamer.

Sie nennen MS „meine Lehrerin“. Was hat Sie die Krankheit gelehrt?

Ich hatte immer schon so viel Kraft und Energie, wovon ich bis heute profitiere. Es gab nie etwas, was ich für unmöglich hielt. Die Diagnose hat mich da erst einmal ausgebremst. Ich kann etwa heute nicht mehr stundenlang wandern. Das ist sehr schade, weil ich mich stark mit der Natur verbunden fühle. Da musste ich Alternativen suchen, um das trotzdem genießen zu können. So habe ich eine große Achtsamkeit entwickelt: Ich habe durch die Erkrankung gelernt, was wirklich wichtig für mich ist.

Irgendwann wird die Politik aus Ihrem Leben treten. Haben Sie Angst davor, dass dann die Erkrankung wieder in den Vordergrund tritt?

Nein. Auch nach meiner Diagnose habe ich nie gedacht: Was tue ich, wenn ...? Ich habe einfach überlegt, was ich gern machen möchte und wie ich das umsetzen kann.

Sie könnten also auch ohne die Politik leben?

Ich möchte es so ausdrücken: Ich fühle mich innerlich sehr unabhängig. Ich habe meinen Traumjob, eine große Erfüllung in meinem Beruf. Allerdings hatte ich schon immer das Gefühl, dass mein Leben nicht von der Politik abhängt.

Wenn Sie in 20 Jahren Ihre Memoiren schreiben sollten: Wie werden Sie dann auf Ihre MS-Erkrankung zurückblicken – als etwas, das Ihr Leben bestimmt hat?

MS bestimmt nicht mein Leben. Der Schlüssel ist: Wenn Sie aufhören, eine Erkrankung zu bekämpfen, wird sie ein Bestandteil des Lebens, ohne dass sie ständig ein Thema ist. Sie frisst nicht mehr die ganze Energie. Man muss akzeptieren, dass man krank ist, und aufhören, ständig seine Energie darauf zu verwenden, die Krankheit zu bekämpfen. Es geht darum, mit ihr zu leben. Dann vergisst man irgendwann, dass man krank ist.

Das Gespräch führte Christian Kunst