Stadt der Angst: Brüssel erstarrt aus Furcht vor Anschlägen

Es ist eine gespenstische Stille, die über dem Grand Place liegt. Normalerweise tummeln sich an einem Wochenende vor der Kulisse des historischen Brüsseler Rathauses Tausende von Touristen. Nun versperrt ein gepanzertes Militärfahrzeug den Eingang. Schwer bewaffnete Soldaten und Antiterror-Einheiten der belgischen Polizei sind aufmarschiert. In der Rue Neuve, der Einkaufsmeile Brüssels, haben die Geschäfte geschlossen. An den Eingängen zu den 69 Metrostationen flattern rot-weiße Absperrbänder. Eine Millionenstadt in Angst.

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„Wir haben erfahren, dass sich zwei Terroristen auf Brüsseler Gebiet befinden und gefährliche Taten verüben könnten“, sagt Bernard Clerfayt, Bürgermeister der Gemeinde Schaerbeek. Noch genauer weiß man es im Büro von Rudi Vervoort, dem Ministerpräsidenten der Hauptstadtregion, die 19 Gemeinden umfasst. Zwei mutmaßliche Attentäter – unter ihnen der Pariser Salah Abdeslam, der Drahtzieher der Pariser Anschläge – seien in der Stadt. Vor dem Haus in der Gemeinde Molenbeek, in dem der Terrorist gewohnt haben soll, hatten die Ermittler bereits am Freitag ein Fahrzeug mit etlichen Waffen sichergestellt. Nun ist die Rede von einer Bombe.

In der Nacht zum Samstag verhängte das nationale Krisenzentrum deshalb die höchste Terrorwarnstufe 4. Sie bedeutet: Es gibt eine „unmittelbare“ und „sehr ernste Bedrohung“ für die Region Brüssel. Mit drastischen Folgen: Der Betrieb der Metro wird eingestellt. Fußballspiele abgesagt, sogar große Einkaufszentren müssen schließen. Das Konzert des Rocksängers Johnny Hallyday fällt aus. Stargeiger André Rieu muss in Hasselt seine Geige wieder einpacken: Der Auftritt soll im Februar nachgeholt werden. Das Atomium schließt seine Pforten. Busse und Bahnen dürfen zwar weiterfahren – aber die meisten sind leer.

Das Rathaus bittet die Besitzer von Bars und Restaurants, um 18 Uhr ihre Betriebe zu schließen. Nur ein Brautpaar wagt es, sich trotzdem das Jawort zu geben. Als die beiden aus dem Rathaus kommen, gibt es ein Bild vom angeblich schönsten Tag des Lebens – aber dieses Mal stehen zwei Soldaten neben den frischgebackenen Eheleuten. Alain Jérome, der am Hauptbahnhof in der Innenstadt einen Kiosk betreibt, sagt: „Ich halte das alles für übertrieben, aber ehe wirklich etwas passiert, ist es vielleicht besser.“

Meisten bleiben zu Hause

Tatsächlich bleiben die meisten Brüsseler zu Hause oder fahren zu Freunden in die Region, wo „nur“ die Warnstufe 3 gilt. Derweil durchkämmen Sicherheitseinheiten weiter die Innenstadt und vor allem die Randbezirke, in denen die Terroristen vermutet werden. Dabei müssen die Fahnder feststellen, dass sie ausgerechnet Salah Abdeslam offenbar auf der Rückreise von den Anschlägen aus Paris drei Mal kontrollierten, aber weiterfahren ließen, weil kein Haftbefehl vorlag. Es heißt sogar, er habe während der Kontrollen eine Bombenweste getragen, was niemandem auffiel.

Der 26-jährige Belgier hat lange in der Gemeinde Molenbeek gelebt, wo der Polizeiaufmarsch besonders heftig ist. Die Beamten gehen von Haus zu Haus, befragen die Einwohner, wer eigentlich dort lebt. Das belgische Meldewesen ist zwar streng, hat aber eklatante Lücken. Terrorexperte André Jacob vermutet, dass das einer der Gründe für die Anziehungskraft solcher Viertel für radikale Extremisten sein könnte.

Am Sonntag heißt es plötzlich, Abdeslam werde nicht in Molenbeek, sondern in der Gemeinde Laeken vermutet, zu der auch das Königsschloss gehört. „Es ist ein Wahnsinn“, schreibt Jan via Twitter. Während Michael über den Kurznachrichtendienst unkt, „der vermutlich sicherste Ort, um jetzt ein Bier zu trinken“, sei Molenbeek, weil da jeder Hauseingang kontrolliert werde. Doch solcher Galgenhumor bleibt selten an diesem Wochenende. Brüssel, die Hauptstadt des Zehn-Millionen-Einwohner-Landes, der Sitz von EU und Nato, erstarrt vor Angst. „Bitte bleiben Sie am Montag zu Hause und arbeiten dort“, teilten am Sonntag einige Arbeitgeber unter anderem der Banken ihren Angestellten per E-Mail mit. „Riskieren Sie bitte nichts.“ Universitäten und Schulen bleiben geschlossen.

Auch die U-Bahnen sollen bis mindestens Montagmorgen in den Depots bleiben. Nach einer erneuten Lagebewertung der Sicherheitsbehörden am Sonntag hieß es, die Sicherheitsmaßnahmen würden aufrechterhalten, bis man Entwarnung geben könnte. Selbst wenn auch am heutigen Montag das öffentliche Leben der Hauptstadt zusammenbrechen würde. Das Einzige, was der Stadt helfen würde, wäre ein Fahndungserfolg. Den wünschte sich sogar Hamid Abdelsam, der jüngere Bruder des Topterroristen: „Ich würde Salah lieber im Gefängnis sehen als auf dem Friedhof. Er sollte sich stellen“, sagte er angesichts des massiven Aufgebots an Soldaten und schwer bewaffneten Polizeibeamten in Brüssel. Doch während Paris am Freitag auf die Straßen ging und tanzte, um zu zeigen, dass man sich nicht kleinkriegen lassen will, erstarrte Brüssel an diesem Wochenende und wurde zur Geisterstadt. Detlef Drewes