Darmkrebs: Ärzte wollen Risikofälle früher erkennen

Als Ernst-Dieter Lichtenberg im Jahr 2006 erstmals die Leichenschau-Scheine im Kreis Bad Kreuznach mithilfe der EDV auswerten ließ, staunte der Leiter des Gesundheitsamtes. 160 Todesfälle gingen damals allein auf das Konto des Darmkrebses. Bis heute sind mehr als 1000 Bürger an dem tückischen Karzinom gestorben.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

„Diese Menschen, die im Schnitt 74 Jahre alt waren, haben vier Jahre ihres Lebens durch den Krebs verloren.“ An Darmkrebs, das belegen Statistiken, sterben jährlich sechsmal mehr Menschen als durch Unfälle im Straßenverkehr.

Sechs Jahre später setzte die regionale Gesundheitskonferenz im Kreis Bad Kreuznach, ein breites Bündnis aus Ärzten, Krankenhäusern, Behörden, Kassen und Kommunen, das Thema Darmkrebs auf ihre Agenda. Entstanden ist daraus das Aktionsbündnis gegen Darmkrebs. Sein zentrales Ziel: die Menschen zur Früherkennung zu motivieren. Neben Lichtenberg gehört vor allem Prof. Dr. Volker Schmitz, Leiter des Darmzentrums Nahe am Krankenhaus St. Marienwörth in Bad Kreuznach, zu den Initiatoren des Bündnisses. Ihr großes Pro-blem: Die Darmspiegelung, für Experten der Goldstandard, also das Maß aller Dinge bei der Früherkennung, ist bei den Menschen äußerst unbeliebt.

Zwischen 2003 und 2012, das zeigen Zahlen der Techniker Krankenkasse, ging gerade mal jeder Fünfte der insgesamt 800 000 gesetzlich Versicherten im Land, denen eine Koloskopie bezahlt wird, zu der Untersuchung. Ab dem 55. Lebensjahr zahlt die Kasse alle zehn Jahre für eine Spiegelung, vom 50. bis 55. Lebensjahr kann man sich überdies jährlich auf Kassenkosten den Stuhl untersuchen lassen. Dies kann man auch nach dem 55. Lebensjahr fortsetzen. Dann zahlt die Versicherung aber nicht für die Koloskopie.

Höhere Quote nicht erreichbar?

Lichtenberg hält die Teilnahmequote im Land für gar nicht so gering. Außerdem müsse man bedenken, dass eine höhere Zahl eigentlich gar nicht erreichbar ist. Schon heute betrage die Wartezeit auf eine Koloskopie schließlich oft drei bis vier Monate. „Mehr als eine Teilnahmequote von derzeit jährlich 3 Prozent funktioniert also gar nicht.“ Zugleich betont Lichtenberg, dass eine so lange Wartezeit „schlecht für die Psyche der Patienten ist“.

Wer ohnehin Angst vor der Darmspiegelung hat, der will nicht vier Monate auf die Untersuchung warten. Daher habe man in Bad Kreuznach durch Absprachen mit Ärzten und Krankenhäusern dafür gesorgt, dass sich die Wartezeit auf maximal einen Monat reduziert hat. Zugleich haben die Kreuznacher wie viele Institutionen in Deutschland eine breite Informations- und Werbekampagne für die Darmspiegelung und die Früherkennung gestartet. Vor allem aber setzen die Ärzte am Darmzentrum auf das persönliche Gespräch: „Dabei versuchen wir, die Patienten von der Koloskopie zu überzeugen“, sagt Prof. Schmitz.

Vom Einladeverfahren, das immer mehr Experten ähnlich wie bei der Mammografie auch für die Darmspiegelung fordern, hält man in Bad Kreuznach nicht sehr viel. Lichtenberg bezweifelt, dass viele ohnehin skeptische Patienten einen Einladungsbrief ihrer Kasse überhaupt lesen würden. „Gesundheit kann man nicht einfach verordnen. Wir setzen lieber auf den informierten Patienten, den wir auf das Risiko des Darmkrebses hinweisen.“

Koloskopie von Bevölkerung nicht anzeptiert

Einige Kilometer weiter nördlich bringt Prof. Dr. Samir Said, Chefarzt am Evangelischen Stift in Koblenz einen anderen Gedanken ins Spiel: „Die Darmkrebsfrüherkennung sollte sich nicht mehr allein am Alter, sondern am Risiko der Patienten orientieren.“ Auch er setzt auf die Koloskopie, zumal er als Operateur weiß, wie oft dabei schon Teile des Tumors abgetragen werden können. Doch Said weiß auch, „dass die Koloskopie von der Bevölkerung nicht akzeptiert wird“.

Deshalb setzt er auf zwei neue Verfahren: die Genanalyse, die noch Zukunftsmusik sei, und den immunologischen Stuhltest. Bereits heute sei bekannt, dass bei 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung keine erhöhte Gefahr für die Entstehung von Darmkrebs besteht. Auch sie können Darmkrebs bekommen, weil das Krebsrisiko laut Said zu 30 Prozent auch durch Faktoren wie Rauchen oder Übergewicht verursacht wird. Bei 15 bis 20 Prozent der Menschen gebe es jedoch einen familiär bedingten Darmkrebs. Hier haben Verwandte ersten Grades ein zwei- bis dreifach erhöhtes Erkrankungsrisiko. Ziel müsse es sein, diese Risikogruppe früher zu identifizieren, um sie dann regelmäßigen Untersuchungen zu unterziehen.

Auf Leitlinie geeinigt

Bis eine Genanalyse oder molekulare Vorsorgeuntersuchung so ausgereift ist, um das Risiko noch sicherer zu bestätigen, setzt Said auf den immunologischen Stuhltest. Obwohl sich die Fachgesellschaften längst auf diese Antikörper basierte Stuhlanalyse als Leitlinie geeinigt haben, sperren sich die Krankenkassen bislang gegen eine Finanzierung. Das ist fatal: Denn laut Said führt der heutige, von den Kassen bezahlte Test in 80 Prozent der Fälle dazu, dass bei Menschen ein Darmkrebs diagnostiziert wird, obwohl gar kein Tumor vorliegt. Falsch positive Befunde nennen Ärzte dies. Für den Patienten bedeutet dies eine unnötige Belastung. Bei den immunologischen Tests liegt die Entdeckungsrate von gesunden als auch von Tumorpatienten indes bei 90 Prozent. Deshalb fordert Said: „Die Kassen müssen sich bewegen.“

In Bad Kreuznach haben Arbeitgeber wie Michelin oder die Sparkasse ihren Mitarbeitern diesen Stuhltest in den Jahren 2011 und 2012 bezahlt. Das Ergebnis war verblüffend: „Wir hatten auch viele positive Tests bei jüngeren Patienten“, berichtet Gesundheitsamtsleiter Lichtenberg.