Darmkrebsvorsorge: Ein Tabubruch, der Leben retten kann

Es ist ihre Tochter, die das Unfassbare schließlich beim Namen nennt: „Mama, du hast Krebs, oder?“ Margarete Müller (Name von der Redaktion geändert) ist konsterniert über die Ehrlichkeit der 14-Jährigen. Doch noch immer windet sich die Koblenzerin: „Weißt du“, sagt die 56-Jährige ihrer Tochter, „Krebs ist ein weites Feld.“

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Dabei ist es eindeutig: In Margarete Müllers Darm hat sich ein bösartiger Tumor gebildet. Gerade hat sie von ihrem Arzt die Diagnose erhalten. „Das war für mich der freie Fall aus dem Alltag. Das war der Super-GAU.“ In kleinen Portionen wollte sie der unbeschwert lebenden Tochter eigentlich beibringen, was sie so belastet. Doch das Mädchen zeigt in diesem Moment, wie reif, wie erwachsen es schon ist.

Für Margarete Müller ist Krebs ein Tabu. Als sie Ende 20 war, starb ihre Mutter an Brustkrebs. Erst als sie den Arzt fragte, erfuhr sie, dass der Krebs ihre Mutter an vielen Stellen befallen hatte. Unheilbar krank, lautete die Diagnose. Ein Schock. Aber Gewissheit. Krebs ist in der Familie ein Unwort. „Meine Mutter war eine große Verdrängerin.“

Es ist eine gute Freundin, die das Tabu erneut bricht. Die ehemalige Arzthelferin in der Praxis eines Koblenzer Gastroenterologen drängt Margarete Müller immer wieder, zur Darmkrebsvorsorge zu gehen. Sie sei doch 55, da zahle das die Kasse. „Aber ich hatte Angst, dass das unangenehm ist, dass es wehtut“, erinnert sich Müller. Ein drückender Schmerz in der Magengegend, der sie seit Monaten quält, lässt sie schließlich umdenken: „An meinem 56. Geburtstag habe ich mir einen Termin geben lassen.“

Am Abend vor der Darmspiegelung erlebt sie das, was sie heute als das Schlimmste bezeichnet: Sie muss ein Abführmittel einnehmen und immer wieder zur Toilette. „Dabei wollte ich mir doch was Schönes kochen.“ Das gleiche Leid erlebt sie am Morgen danach. Vom eigentlichen Prozedere in der Praxis bekommt sie nichts mit, weil sie betäubt ist. Im Halbschlaf hört sie den Arzt sagen: „Das ist ein sehr großes Ding.“ Als sie wieder aufwacht, hat der Experte den gutartigen Polypen bereits entfernt – dem hatte sie zuvor zugestimmt.

Eine Woche später kommt dann die niederschmetternde Diagnose: In ihrem Darm ist auch ein bösartiges Geschwulst, ein Karzinom, zeigt die Analyse einer Gewebeprobe. „Es klingt verrückt, aber da habe ich ganz ernsthaft über meine Beerdigung nachgedacht. Solch eine Urangst habe ich noch nicht erlebt. Ich wusste ja von meiner Mutter, welche grausamen Formen Krebs annehmen kann.“

Quälende Tage bis zur Operation


Eine Woche hat sie danach noch bis zur Operation. Es werden quälende Tage. Gegenüber ihrer Tochter versucht sie, „den Ball flach zu halten“ – doch „innerlich bin ich zusammengeklappt“. Ihre Freunde und ihre große Familie fangen sie auf. Und als sie dann schließlich ins Evangelische Stift nach Koblenz kommt, erhält sie endlich Antworten auf ihre vielen Fragen, die „liebevollen Schwestern“ geben ihr ein bisschen Wärme in ihrer „hilflosen Situation“. Als Prof. Samir Said, Chefarzt im Stift, am Donnerstag nach Rosenmontag schließlich das Skalpell ansetzt, um den Tumor zu entfernen, ist Margarete Müller bereit: „Ich habe mich meinem Schicksal ergeben.“

Und das Schicksal meint es gut mit ihr. „Wenn man den Tumor in diesem Alter feststellt“, sagt Prof. Said, „liegen die Heilungschancen bei 100 Prozent.“ Beim Darmkrebs, berichtet der Experte, „ist das Alter ein Risikofaktor“. Mehr als die Hälfte der 4100 jährlich in rheinland- pfälzischen Krankenhäusern behandelten Darmkrebspatienten sind älter als 70 Jahre. Selbst dann, sagt Said, sind die Chancen groß, das Karzinom entfernen zu können. Doch oft sei das Wachstum des Tumors schon so weit fortgeschritten, dass der Krebs nicht mehr geheilt, sondern in seinen Folgen nur noch gemildert werden könne.

Daher werben Said und die rheinland-pfälzische Krebsgesellschaft, deren Vizechef er ist, seit Jahren für die Darmkrebsfrüherkennung. Doch die Resonanz in der Bevölkerung ist erschreckend gering: 2011 – für das vergangene Jahr liegen noch keine Zahlen vor – ließen sich laut Kassenärztlicher Vereinigung rund 16 500 Rheinland- Pfälzer im Alter von 55 bis 75 Jahre den Darm spiegeln; 8900 Frauen und 7600 Männer. Das entspricht einem Anteil an der Bevölkerung in diesem Alter von gerade mal 2,3 Prozent.


Die Hemmungen verloren


Doch selbst diese geringe Beteiligung zeigt positive Folgen: Laut Robert Koch-Institut ist die Zahl der Darmkrebserkrankungen bei Männern von 1980 bis 2006 zwar um 34 Prozent, bei den Frauen um 26 Prozent gestiegen. Doch die Sterberate ist bei den Männern um 24 Prozent, bei den Frauen sogar um 38 Prozent zurückgegangen.

Margarete Müller hat ihre Hemmungen bei der Darmkrebsvorsorge verloren. „Die Untersuchung ist ein Spaziergang im Vergleich zu den Folgen, die man sich dadurch ersparen kann.“ Ihren Verwandten rät sie sogar, die Untersuchung aus eigener Tasche zu bezahlen.

Die Koblenzerin musste noch einmal unters Messer. An einer Lymphdrüse haben die Ärzte einen Tumor entdeckt. „Das war das Finale.“ Sie hat den Kampf gewonnen, Chemotherapie und Bestrahlung bleiben ihr erspart. Jetzt sitzt die 56-Jährige neben Prof. Said. Sie ist frisch frisiert. Gleich, erzählt sie, fährt sie nach Hause, zurück in den Alltag. Ihre Tochter wartet schon auf sie.

Von unserem Redakteur Christian Kunst