London

„Die Plünderer sind unter uns“: Ein Jahr nach den Krawallen in London

Wieder ein schmuckes Gässchen: Im August 2011 war Mare Street im Londoner Stadtteil Hackney war Schauplatz heftiger Krawalle.
Wieder ein schmuckes Gässchen: Im August 2011 war Mare Street im Londoner Stadtteil Hackney war Schauplatz heftiger Krawalle. Foto: Alexei Makartsev

Es waren Bilder, die an die Krawalle zwischen den Protestanten und Katholiken in der nordirischen Hauptstadt Belfast erinnerten. Nur dass diese Straßenkämpfe fünf Kilometer entfernt vom Big Ben stattfanden. Ein Jahr später nach den Unruhen in London ist von den Schäden an den Gebäuden nur noch wenig zu sehen. Aber auch wenn die Polizei mächtig aufgerüstet hat: Die Unsicherheit bei vielen Menschen schwindet nicht so einfach. Die Plünderer leben unter ihnen,

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Im August 2011 sah es im Stadtteil Hackney noch ganz anders aus: Polizisten patroullierten – und wurden dennoch zunächst nicht Herr über das Chaos.
Im August 2011 sah es im Stadtteil Hackney noch ganz anders aus: Polizisten patroullierten – und wurden dennoch zunächst nicht Herr über das Chaos.
Foto: dpa
„Furchtbare Dinge sind passiert“. Siva Kandiah rückt eine Chipstüte im Regal zurecht und verstummt. „Zwölf Jahre Arbeit, alles weg an einem einzigen Tag“, sagt schließlich seufzend der kleine dunkelhäutige Mann mit den abstehenden Ohren. „Das Verrückte ist, dass diese Leute oft bei mir Sachen gekauft haben. Bis sie plötzlich auf die Idee kamen, mich anzugreifen“.

Clarence Road im Nordlondoner Stadtteil Hackney. Pensionäre plaudern vor den Auslagen mit Obst und Gemüse. Eine Katze sonnt sich auf der Motorhaube eines Wagens. Die Türen der Läden mit den bunten Schildern stehen offen. Vor knapp zwölf Monaten sah es hier aus wie in einem Kriegsgebiet. Die vom schwarzen Rauch erfüllte Straße war übersät mit Glasscherben und Müll, Autos brannten, vermummte Menschen bewarfen die Polizei mit Steinen und brachen in die Geschäfte ein, während über ihren Köpfen die Hubschrauber schwebten.

Händler Siva Kandiah in seinem wiederaufgebauten Laden, der bei den Krawallen völlig verwüstet wurde.
Händler Siva Kandiah in seinem wiederaufgebauten Laden, der bei den Krawallen völlig verwüstet wurde.
Foto: Alexei Makartsev
Heute erinnert nur ein Steckbrief im Fenster daran, dass Sivas Shop am 8. August 2011 geplündert und zerstört worden war. Der 40-jährige Auswanderer aus Sri Lanka hatte Glück: Dutzende Helfer sorgten dafür, dass der Laden zwei Wochen später wieder eröffnen und eine zehnköpfige Familie ernähren konnte. Doch so sehr Siva den Horror der Londoner Krawalle vergessen möchte, es will ihm nicht gelingen.

Mysteriöser Tod war Auslöser

Sie bleiben ein Rätsel, eine Mahnung und ein dunkler Fleck auf der Geschichte der multikulturellen Metropole mit acht Millionen Einwohnern. Die Ausschreitungen begannen am Samstag, den 6. August, in Tottenham nach dem mysteriösen Tod des schwarzen Kriminellen Mark Duggan durch eine Polizeikugel. Am Sonntag brannten lichterloh die Geschäfte, Busse und Autos in fünf Londoner Stadtteilen. Die Gewaltwelle in der Haupstadt erreichte ihren Höhepunkt am 8. August in zwölf weiteren Vierteln, vor allem in Hackney und Croydon, ehe sie weiter rollte. An der Reihe waren Bristol, Manchester, Birmingham und Liverpool. Nach fünf Tagen, die das Land erschüttert haben, waren fünf Menschen tot, 186 Polizisten verletzt, mindestens 100 Häuser zerstört und 48 000 Firmen, Läden, Cafes und Pubs finanziell geschädigt. 4 000 der geschätzten 15 000 Teilnehmer der Krawalle wurden verhaftet. Zurück blieben rauchende Ruinen, kaputte Existenzen und die Frage „Warum?“ Auch ein Jahr später gibt es darauf noch keine eindeutige Antwort.

Uneins bei der Ursachenforschung

„Die Gewalt hatte keine soziale, sondern kriminelle Gründe“, ist Siva überzeugt. „Wenn sich jemand benachteiligt fühlt, wird er gegen den Staat rebellieren und nicht gegen einfache Ladenbesitzer. Diese Schwachköpfe nutzten die Gunst der Stunde, um mich auszurauben.“ Es gibt auch andere Meinungen. „Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander“, sagt die Parlamentsabgeordnete von Hackney, Diane Abbott. „In manchen Wohnungsblocks sind alle Einwohner arbeitslos, daher diese Wut“. Für Martin Waller ist die Polizei an allem Schuld. „Die hatten Angst, gegen den plündernden Mob vorzugehen, das war allen klar, darum gab es so viele Trittbrettfahrer“, sagt der 51-jährige Obsthändler, der am 8. August voller Entsetzen im Fernsehen zuschauen musste, wie die Krawallmacher an seinem Stand neben der U-Bahn-Station vorbei zogen, um ein benachbartes Sportgeschäft zu verwüsten.

Die offizielle Erklärung der Unruhen lieferte im März eine unabhängige Kommission, die von der Regierung ins Leben gerufen worden war. Sie führt die Gewaltwelle auf zahlreiche Defizite zurück, darunter Vernachlässigung der Teenager, Justizfehler, Opportunismus, Neid in der Konsumgesellschaft und das Scheitern der Eltern. „Schwachsinn“, sagen dazu manche Einwohner in Hackney. „Nicht wir sind verantwortlich, sondern der Staat, der den jungen Leuten nichts bietet – keine Jobs, keine Freizeitmöglichkeiten, keinen Schutz vor Drogendealern“.

Vorrat an Plastikgeschossen verzehnfacht

Der Virus der Gewalt hat London und inzwischen auch mehrere andere Städte Englands voll erfasst. Der Himmel über der britischen Hauptstadt wurde in der Nacht von zahllosen Bränden beleuchtet.

dpa

Auch in Liverpool, Birmingham und Bristol gingen vermummte Randalierer auf die Straßen und setzten Fahrzeuge und Häuser in Brand. Premierminister David Cameron hat für heute den Nationalen Sicherheitsrat zusammengerufen, um die Lage zu besprechen.

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«Was hier passiert, kann einfach nicht entschuldigt werden», sagte Scotland Yard-Chefin Christine Jones zu den Szenen auf den Straßen Londons. «Die Schlacht um London», schrieben britische Zeitungen.

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Als vorbeugende Maßnahme gegen weitere Ausschreitungen wurde der im Osten Londons ansässige Erstligist West Ham United von Scotland Yard gebeten, sein Cup-Spiel gegen Aldershot zu verschieben. Unklar war, ob auch das Freundschaftsspiel der englischen Nationalmannschaft gegen die Niederlande am Mittwoch abgesagt würde.

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In Ealing im Westen gingen maskierte Jugendliche auf Raubzug und setzten dabei Mülltonnen in Brand. Zahlreiche Schaufenster gingen zu Bruch, berichtete die Agentur PA. «Es sieht aus wie in einem Kriegsgebiet», wurde ein Augenzeuge zitiert. In dem Gebiet waren zunächst nur wenige Polizisten im Einsatz.

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Im Stadtteil Croydon brannte ein ganzer Straßenzug, aus einem Möbellager schlugen noch in der Nacht meterhoch die Flammen. Polizei und Feuerwehr schienen völlig überfordert. Am Abend entdeckte die Polizei in einem Auto einen schwer verletzten Mann, der aus mehreren Schusswunden blutete. Näheres wurde nicht bekannt.

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Auch in den Stadtteilen Clapham, Peckham, Hackney, Ealing und Lewisham gab es am Montag Krawalle. In Clapham stand in der Nacht zum Dienstag ein Wohnhaus in Flammen, die Bewohner wurden zum Verlassen des Gebäudes aufgefordert. In Ealing ging in der Nacht ein Lager des Elektronik-Riesen Sony in Flammen auf, wie der BBC berichtete.

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Augenzeugen berichteten, dass sich zunächst Plünderer «bedient» hätten, ehe sie das Lager anzündeten. Ein nahe gelegenes Hotel musste evakuiert werden, rund 200 Gäste wurden in Sicherheit gebracht,

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Mit Birmingham war am Montag erstmals auch eine Stadt außerhalb Londons betroffen. Dort plünderten Vermummte Juwelierläden und Elektronik-Geschäfte. In der Nacht zum Dienstag setzten sie eine Polizeiwache in Brand. In den frühen Morgenstunden wurden auch aus Bristol Unruhen gemeldet.

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Auch aus Liverpool kamen in der Nacht erste Berichte über chaotische Szenen, von der Polizei als «isolierte Ausbrüche von Unruhen» umschrieben. Augenzeugen berichteten laut PA, dass mehrere hundert Vermummte in den Straßen vorbeifahrende Autos stoppten, die Insassen zum Aussteigen zwangen und anschließend die Fahrzeuge in Brand setzten.

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Dafür setzt die Regierung von David Cameron auf Abschreckung. Bis Ende Juni standen im Land rund 3 000 Verdächtige vor Gerichten. 65 Prozent der knapp 2 000 schuldig gesprochenen Täter wurden zu durchschnittlich andertahlb Jahren Haft verurteilt. Bis 2011 betrug die mittlere Haftdauer für ähnliche Verbrechen in England gerade mal dreieinhalb Monate. Nach offiziellen Statistiken sind 53 Prozent der Randalierer jünger als 20 Jahre, auch zehnjährige Kinder sollen bei den Krawallen mitgemacht haben. Sie kamen mit milden Strafen davon. Allerdings statuierte die Justiz ein Exempel am ehemaligen Harry-Potter-Nebendarsteller Vincent Crabbe und der 20-jährigen Millionärstochter Laura Johnson, die als Plünderer für jeweils zwei Jahre ins Gefängnis müssen.

Auch das ist eine Antwort auf die Krawalle: Nach BBC-Informationen hat der Scotland Yard seinen Vorrat an den umstrittenen Plastikgeschossen auf 10 024 Stück fast verzehnfacht. Die Polizei will ferner Wasserwerfer anschaffen, die die Briten bislang nur in Nordirland verwendet haben. Schließlich wurde die Videoüberwachung in den Problemvierteln stark ausgebaut. Das stört in Hackney die Wenigsten. Im Gegenteil: Die Menschen finden den Gedanken beruhigend, dass die Ordnungshüter schneller eingreifen können.

„Die Jungs haben sich gelangweilt“

„Siehst du die Kameras?“ Scroifx McNeill deutet auf die „elektronischen Augen“ vor den Eingängen der fünfstöckigen Wohnblocks. Wir stehen auf dem berüchtigten Pembury Estate, wo das mittlere jährliche Familieneinkommen 11 000 Euro beträgt. Es riecht nach Fischstäbchen. Auf den Balkonen baumelt Wäsche auf den Leinen. Sivas Laden ist nur einen Steinwurf entfernt. „Die Krawalle haben uns überrascht“, sagt der 36-jährige Mitarbeiter einer privaten Stiftung, der in der verarmten Mini-Stadt mit 2000 Bewohnern für Ordnung sorgt. „Es gab früher keine Gewalt hier, es ist nie Blut geflossen. Ich denke, die Jungs haben sich gelangweilt, und dann ist es eskaliert“. Scroifx ist vor 15 Jahren aus Guyana nach London gekommen, und er glaubt zu wissen, woran es hier mangelt: „Die Bildung ist schlecht und die jungen Leute haben keinerlei Motivation“. Jemand müsste den Kids in den Hintern treten, damit sie etwas täten, sagt der Mann mit Sonnenbrille und Goldkettchen. Er glaubt, dass die Polizei nach den Krawallen besser arbeitet. „Nur bei den Behörden macht sich niemand die Mühe, den Verbitterten Hoffnung zu geben und die durch die Gewaltwelle aufgerissenen sozialen Wunden zu behandeln“.

„Die Plünderer leben unter uns“

Margaret Asare in ihrem Brillenladen in Hackney. Auf ihrem selbst designtem T-Shirt steht “Frieden im Viertel. Wir wissen, wer ihr seid”
Margaret Asare in ihrem Brillenladen in Hackney. Auf ihrem selbst designtem T-Shirt steht “Frieden im Viertel. Wir wissen, wer ihr seid”
Foto: Alexei Makartsev
Das haben die Londoner in die eigenen Hände genommen. Beschämt und traumatisiert durch das Erlebte, werden Tausende Menschen in ihren Gemeinden aktiv, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken und ihr Leben sicherer zu machen. Die 43-jährige Margaret Asare aus Hackney musste am 8. August 2011 vor Jugendlichen fliehen, die in ihr Brillengeschäft einfielen. Als sie drei Stunden später in den kleinen Laden zurückkehrte, war davon nicht mehr viel übrig. Der Schaden betrug 30 000 Pfund, doch mit Hilfe von Nachbarn schaffte es Margaret, drei Wochen später das „London Eye Opticians“ neu zu eröffnen. Noch heute sieht man die Spuren der Gewalt im Fußboden vor der Theke. „Na ja, ich hätte auch tot sein können. Das Leben geht weiter“, sagt lachend die gebürtige Ghanaerin, die sich als Friedensstifterin in ihrem Viertel engagiert.

Margarets Methode: mit ihren Feinden zu reden. „Die Plünderer leben unter uns. Die Polizei sucht sie, doch keiner zeigt sie an, weil alle Angst haben“, erklärt die schlanke Frau. „Wir versuchen, diesen Leuten klarzumachen, dass sie andere respektieren müssen“. Es fällt ihr nicht leicht. Nachdem ihr Laden geleert worden war, kamen zu Margaret wochenlang Menschen, die sie kannte und die ihr die geraubten Brillen zu einem Sonderpreis anboten. Sie hat jetzt ein T-Shirt entworfen. Darauf steht: „Frieden im Viertel. Wir alle wissen, wer ihr seid“. Halb Drohung, halb Angebot zur Aussöhnung. Die mutige Optikerin möchte es an befreundete Händler verteilen. Auch Siva Kandiah will das weiße Kleidungsstück zum Jahrestag der Krawalle tragen.

Hoffen auf Zusammenhalt

Reicht es aus, um den Tätern schlechtes Gewissen zu machen? Kann sich der Schrecken in Zukunft wiederholen? „Alles ist möglich“, sagt Margaret mit einem traurigen Lächeln. „Etwas hat sich verändert“, widerspricht Siva. „Wenn diese Leute wieder eine Randale vor der Tür meines Geschäfts starten, werden sich Andere ihnen in den Weg stellen und sagen: ,Zieht ab, das ist auch mein Laden‘“.

Alexei Makartsev